Diverses:Die ersten Male und ich
Der folgende Artikel ist ein Satire-Artikel. Es kann sein, dass er nicht ganz ernst gemeinte Aussagen enthält. Es kann aber auch sein, dass der Artikel irgendeine tiefgründige Botschaft vermitteln möchte.
„Ach Kähr, komm! Dat is doch nich dein Ernst!“
„Nein. Das ist mein Oswald!“
„Bah, Johannes. Du hast doch gelitten.“
„Nö. Gebastelt. Toll, nicht?“
„Bah Hömma, auf wat du kommst. Dat geht doch auf keine schiefe Kuhhaut, Junge. Komm, getz sieh zu, dat du wechkommst. Sonst hockst du wieder den ganzen Tach im Keller wie der letzte Tunnelescheck.“
Da hatte er Recht. Hastig veranschiedete ich mich von meinem Großvater, bestieg meine Mofa und sauste die Nebenstraße der kleinen Zechensiedlung hinunter. Es war der Sommer des Jahres 1981 und ich genoss die letzten Somerferien meines Lebens. Ich war gerade 17 Jahre alt geworden, sollte in weniger als einem Jahr mein Abitur in der Tasche haben und einen noch ungewissen Weg in meine berufliche Zukunft einschlagen. Jetzt war ich aber erstmal auf einem ganz anderen Weg – Dem zu meiner ersten Freundin.
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Euphorisiert fuhr ich in Schlangenlinien durch die Straßen meiner Heimatstadt. Das laute Röcheln meiner Mofa kündigte mein Kommen bereits aus einer Entfernung von mehreren Straßenblöcken an. Zumindest den Leuten, die nicht bereits die Qualmwolke ausgemacht hatten, auf die mehrere der damals bereits stillgelegten Bochumer neidisch herabsehen konnten. Und dennoch war die kleine Mofa mein ganzer Stolz.
Ich hatte lange für sie gekämpft. „Wenne wat haben willst, musste dich dat selbst verdienen!“, predigte mein Opa nahezu inflationär und vollkommen egal, was gerade mein Begierden sein mochte. Ich tat wie befohlen. Seit ich 14 war gab ich Nachhilfe in Naturwissenschaften, um mir die ein- oder andere D-Mark hinzuverdienen zu können. Irgendwann hatte ich dann auch auch genug Geld gehabt, um mir meinen ersten fahrbaren Untersatz leisten zu können. Da war nur ein Problem – Meine Mutter hatte arge Schwierigkeiten, die Entscheidung, mich auf den freien Straßenverkehr im Ort loszulassen, auf ihre Kappe zu nehmen, also schob sie diese Entscheidung einfach auf meinen Vater ab. Dieser jedoch war meist beruflich verhindert, weil er mit Schaufel und Handschuhen durch die Welt zog, um in internationalen Sänden nach Plunder zu suchen, den fremde Kulturen dort mutwillig vergessen hatten. Die Nachbarn fanden das verschroben. Ich irgendwie cool, wäre nicht das Problem gewesen, dass ich teilweise für Monate nichts von meinem Vater hörte. In den wenigsten Wüsten gab es Telefonzellen. Das Okay zur Mofa von Seiten meines Vaters ließ also auf sich warten. Irgendwann reichte es mir und ich schritt selbst zur Tat. Ich baute den Dieselmotor aus dem Rasenmäher aus, pflanzte ihn in mein altes Fahrrad und hatte so jede Entscheidungslast von den Schultern meiner Eltern genommen. Ich hatte jetzt meine Mofa und sie war sogar ein echtes Unikat. Ich taufte sie „Oswald“, nach meinem Lieblingsspieler vom VfL Bochum, der irgendwie genau so war wie mein neues Gefährt – Nicht schön, nicht schnell, aber zuverlässig und irgendwie schon recht mutig. Bei jedem Schlagloch setzte der Motor einmal aus und ich musste ihn per Kordel wieder anwerfen. Die Leute, die nicht lachten, schüttelten mit dem Kopf, wenn sie es sahen. Aber mir war das egal.
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Auf halbem Weg ist der Tank leer. Möglicherweise ist so ein Rasenmähermotor nicht für die Distanz gebaut. Nun ja, auf diesem Weg lernt man die Schönheiten der Tankstellen intensiv und in allen Farben kennen. Außerdem lernt man, dass die Sache mit dem Tanken so einfach nicht ist. Ich hatte gerade mal den Zapfhahn ins Moped gesteckt und bin kurz aufs Klo gegangen, da war der Tank auch schon übergelaufen und eine dicke Benzinpfütze ergoss sich quer über die gesamte Tankstelle. Mich irritierte das. Mein Vater mit seinem Opel Kapitän stand stets eine gefühlte Ewigkeiten neben dem Wagen, während ich im Innenraum wartete. In diesem Moment begriff ich, dass Einstein wohl richtig lag und Zeit wirklich sehr relativ war. Heute weiß ich, dass in einen Opel Kapitän etwa 40 Liter reinpassten und in Oswald ganze 2. Aber ohne Führerschein kann man solch komplexe Zusammenhänge nicht unbedingt begreifen. Dies sagte ich zumindest dem Tankwart, der beide Hände über den Kopf zusammenschlug und anschließend zwei Stunden damit beschäftigt war, die Anlage mit Streusand auszulegen. Heute würde man zwei Liegestühle dazustellen, Musik auflegen und das ganze als Beachparty mit Benzinausschank vermarkten. Aber so weit war man in den 80ern noch nicht. Ich verlor mein Taschengeld von 25 DM für handgetropfte 56 Liter Dieselkraftstoff. Wie gesagt, es waren die 80er. Sie hatten nicht nur Nachteile.
Während ich zerknischt meine Schulden bezahlte lachte mich neben der Kasse ein Junge an, vielleicht 2-3 Jahre älter als ich. „Ein paar Liter mehr und du hättest dir ein drunterschnallen können. Dann hätte dat Dingen zumindest ein bisschen wat für sich.“, flachste er. Er schüttelte sich ob seines beinahe gelungenen Witzes und stieß beinah seine halbvolle Bierflasche vom Beistelltisch herunter.
„So sind se, diese Studenten. Hängen den ganzen Tach über ihre Büchers und können nichmal ne Mofa betanken.“
„Technisch gesehen ist der Tank jetzt voll wie gewollt. Und ich bin kein Student.“
„Ey Hömma – Du trägst nen rosanen Helm, ne dicke Brille, son komischen, blauen Pulli und zockelst mit so einem Ding durch die Gegend. Du musst doch Student sein. Du kannst doch nich normal sein.“
„Was ist denn aus deiner Sicht dann normal?“
„Ja, normal halt. Guck dich mich an. Ich bin auffem Weg zur Schicht unter Tage. Dat is halt nomal. Dat man arbeitet und nich inne Universität am rumsitzen is, weiße? Ich bin nie auffe Schule gegangen, ich bin mit 14 auf Zeche und seitdem rollt der Rubel. So muss dat laufen.“
„Und das soll ewig so weitergehen?“
„Ja klar. Berchmann is voll der sichere Beruf. Zechen wird dat hier im Pott immer geben. Und mit Mitte Fuffzich kannste in Rente und dich dein Leben schönmachen, weißte? Dat is doch der Traum. 2015 sitz ich gemütlich in meinem Schrebergarten und du hängst dann noch immer irgendwo in einer Universität rum, während meine Kinners dann so wie ich die Kohlen aussem Schacht holen und ne sichere Zukunft haben. Wer von uns is getz klüger?“
„Kann ich so nicht beurteilen“, wiegelte ich ab. „Aber“ und zeigte auf seine Bierflasche „Vormittags schon Alkohol trinken könnte dafür sorgen, dass die Hirnzellen sich mit der Zeit auch irgendwo unter Tage verabschieden und nicht wieder hochkommen.“
„Ach hör doch auf. Son Pilsken schadet doch nich. Ohne Bierchen auffe Schicht gehen is doch wie Surfen ohne Badewasser. Oder fandste dat, wat du da draußen veranstaltet hast getz so pralle?“
„Nein aber...“
„Komm, is gut. Wennze Professor werden willst, biste auffem guten Weg. Aber lass mich außem Spiel, ich muss dat Geld verdienen, dat dich deine Pension ermöglichen tut."
Kopfschüttelnd schnappte er sich die Flasche, ging an mir vorbei zur Tür heraus und stieg in einen goldenen Ford Granada mit schwarzem Faltdach, der kurz zuvor vorgefahren war und in dem zwei weitere Bergmänner saßen. „Mensch, Nobbärt, warum hasse keins für mich mitgebracht?“, rief ein untersetzter Mann mit schütterem Haar vom Beifahrersitz, während der Junge auf der Rückbank Platz nahm. „Ey, keine Sorge, ich hab was besseres für euch.“, sagte der Mann auf dem Fahrersitz und reichte zwei Flaschen mit einer klaren Flüssigkeit nach rechts und nach hinten. „Wodka. Der Istvan vonne Pluto II schwört auf dat Zeug. Der hat den halben Keller voll mit die Plörre. Probiert dat mal.“ Er ließ den Motor aufheulen und fuhr mit quietschenden Reifen von der Anlage.
Die Begegnung ließ mich fragend zurück. Waren diese Männer wirklich diejenigen mit dem konkreteren Plan vom Leben? Sollten sie am Ende recht gehabt haben? Hätte ich mich auch direkt darauf festlegen sollen, womit ich mein Geld später verdienen will? Wieso hatte ich überhaupt noch keinen Plan davon, wie mein Leben später einmal aussehen sollte?
Ideen hatte ich ja schon einige gehabt. Einige, wie die Spanferkelbraterei in Damaskus, waren eher dumm. Andere, wie die Goldhamsterzucht zur Energiegewinnung aus Hamsterradgeneratoren hatten etwas zukunftsträchtiges, waren aber etwas unausgegoren. Am Ende von allem stand großes Leerzeichen und viele Fragen.
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Diese Fragen stellte ich mir auch noch, als ich endlich mein Ziel erreicht hatte. Ich bog in eine kleine Siedlung mit Dreifamilienhäusern aus der Nachkriegszeit und hielt vor einem beichen Gebäude, dessen beste Zeit irgendwo zwischen Adenauer und Vietnamkrieg gelegen haben dürfte.
Aus der Tür trat das Mädchen, dass mir den Kopf verdrehen konnte, wie es gerade wollte – Susanne. 16 Jahre alt, dunkelblonde über dem sommersprossigen Gesicht, das sich nun zu einem Lächeln verzog, welches allein für sich schon die internationale Gletscherschmelze hätte verursachen können. In Zeiten, in denen der Klimawandel noch Geschwätz aus der Zukunft und schlecht erforscht war, war Susanne als Ursache für meine persönliche Erwärmung als einzig annehmbarer Grund durchgegangen. Was zählte schon das Weltklima gegen den Hormonhaushalt eines Halbwüchsigen. Vor allem, wenn er dies alles zum ersten Mal durchlebte.
Die erste Liebe ist etwas herrliches. Du führst dich wie der letzte Idiot auf, bist unsachlich, unkrititisch und manipulierbarer als eine Präsidentschaftswahl in Afrika – und selbst wenn du es merkst, ist es dir völlig egal. Du läufst den ganzen Tag mit eine Grinsen durch die Welt, als wärst du ein bis oben mit Drogen vollgepumptes Eichhörnchen, dass seine Reflektion in einem Nutella-Glas sieht, nur weil du einen Zettel im Briefkasten hattest, auf dem eine Mädchenhandschrift „Ich denke an dich.“ notiert hat. In diesem Moment bist du der größte Held unter der Sonne. Wie Superman, der Spinnennetze auswerfen kann und bei Erregung grün anläuft. Der Geilste Typ im Ort, im Land, im Universum, zumindest aber unter allen, die du kennst. Und das, obwohl du deines nicht vorhandene Erfahrungsschatzes sei Dank von Frauen und Beziehungen in etwa so viel verstehst wie ein Ziegelstein von Quantenphysik. Wenn nicht noch weniger.
Und doch, du bist am Ziel. Da ist sie und nur sie. Und du bist der Typ, der sie abbekommen hat. Du und kein anderer, wenn du Glück hast. Im Besten Falle hat das Mädchen in dem Alter genau so wenig Ahnung von der Materie wie du. Dann merkt sie nicht, wie dämlich du dich eigentlich in Wirklichkeit anstellt. Und macht es im Idealfall selber auch nicht besser.
So war es auch bei Susanne. Sie hatte den Vormittag damit zugebracht, ihr Outfit zu planen, als würde der nächste Weltkrieg ausbrechen, wenn ihre Hose nicht zu den Schuhen, beides nicht zum Oberteil und überhaupt nichts zur Schminke und den Haaren passen würde. Am Ende lagen alle ihre Klamotten im Zimmer, als hätten die Russen bereits den Erstschlag ausgeführt und vor lauter Rumprobiererei hatte sie die Zeit soweit verpeilt, dass sie am Ende dazu gezwungen war, im ausgebeuten Jogginganzug und ungeschminkt aus der Haustür zu hetzen. Letztendlich war die einzelne Sekunde Gemeinsamkeit plötzlich relevanter und die Stunden der Vorbereitung völlige Makulatur. Das Ergebnis: Sie sah aus meiner Sicht hinreißend aus und hätte es auch in einen Kartoffelsack gehüllt und wie ein Clown angemalt getan. Als ob man da kritisch wäre.
Sie hauchte mir ein leicht verschüchtertes „Hallo“ entgegen, während sie mir einen Blick aus hellblauen Augen entgegenbrachte, der mich fast von Oswald hätte kippen lassen. So waren die ersten Momente, wenn wir uns sahen, eigentlich immer. Wir waren beide wie das Kaninchen vor der Schlange. Fasziniert und ängstlich zu gleichen Teilen. Dabei waren wir einfach nur zwei verpeilte Teenager, denen die Synapsen angesichst des anderen durchgingen wie Rennpferde im Anfängerkurs für Amateurjockeys.
„Stört es dich, wenn Fitti mitkommt?“ Fitti war ihr Hund. Ein kleiner Rauhaardackel, den sie nach , dem zweimaligen Formel 1-Weltmeister benannt hatte. Natürlich störte mich das nicht. Das kleine Fellknäul hatte die unschätzbar wichtige Aufgabe, als Auflockerer zu fungieren, wenn wir wieder vor Ehrfurcht voreinander erstarrten. So war es schon bei unserem ersten Treffen gewesen.
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Es war ein paar Monate her. Ich war wieder im Park nahe der Universität unterwegs, um mich meinem großen Traum zu widmen – Mit Oswald einen Sprung über die Tischtennisplatten zu schaffen. Zu diesem Zweck hatte ich zwei große Holzbretter als Rampen aufgebaut. Eines zur linken der ersten Platte als Auffahrt und das andere zur rechten der zweiten Platte zum ausrollen. Die Platten selbst, sowie die knapp 2 Meter Zwischenraum zwischen ihnen sollten im Flug absolviert werden. Klar war es kindisch, aber ich hatte mir in den Kopf gesetzt, es auf jeden Fall zu schaffen! Ich ließ den Motor aufheulen, beschleunigte Oswald auf seine Höchstgeschwindigkeit von 12 Stundenkilometern, schaffte es mühsam die Auffahrt hoch und fiel auf der anderen Seite in den Freiraum zwischen den Platten. Das war wohl nichts. Hätte es damals schon youtube gegeben, wäre das dazugehörige Video vielleicht ein Erfolg gewesen, aber so hatte ich nichts von meinem Auftritt, von den blauen Flecken über den Rippen und den Beulen im Helm abgesehen. Doch all dies war mir jetzt egal geworden. Ich landete zu Füßen von Susanne. Ich kannte sie vielleicht aus der Schule, allerdings wirklich nur am Rande. Ich glaube nicht, dass ich jemals ein Wort gewechset hatten. Jetzt jedoch war sie es, die mir aufhielf oder es zumindest versuchte – denn als sie meine Hand griff und unsere Blicke sich trafen, war die Welt urplötzlich eine andere. Teenager-Kitsch aus der Ursuppe der Bravo-Redaktion, wie sie nur in der Spätpubertät vorkommt oder aus schlechten Fernsehproduktionen einschlägiger Sender hervortrieft.
Keiner von uns beiden sagte ein Wort. Wir verharrten in einer Position, die nach Außen unfassbar unbequem und peinlich wirkend mussten. Fitti löste letztendlich die Situation, indem er mir einmal quer durchs Gesicht schleckte und so die Schockstarre zwischen mir und Susanne löste.
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Seitdem trafen wir uns regelmäßig. Mittlerweile hatten wir uns aufeinander eingestellt. Dennoch stellten wir uns so ungeschickt an, dass wir hin und wieder peinliche Momente überblenden mussten. Als ich ihr auf Oswald helfen wollte, bin ich vor Nervosität ausgerutscht und in den Matsch gefallen. Dabei stieß ich sie mitsamt dem Moped um. Meine Hose war hinüber, aber wir konnten darüber lachen.
Ohnehin bemerkten wir schnell, dass die typischen Verhaltensweisen der klassischen Liebespaare, wie wir sie in Filmen und Fernsehen so oft gesehen und als einfach erachtet hatten, in Wirklichkeit gar nicht so einfach waren. Bei unserem ersten Kuss landete ich mit der Nase in ihrem Auge. Beim zweiten Mal saugten wir uns fest wie zwei Putzerfische bei der Nahrungsaufnahme und beim dritten Mal stießen wir so heftig aufeinander, dass ihr ein kleines Stück Zahn abbrach. Aber Übung machte den Meister. Wir übten mehr als ausgiebig. So ausgiebig, dass wir im Laufe von drei Wochen aus zwei Lokalen, einem Sommerfest der Kirchengemeinde, dem Ruhrstadion, der Sternwarte und einer Bahnhofsmission flogen. Wobei ich mich beim besten Willen nicht erinnern konnte, wie wir in letztere überhaupt reingekommen waren.
An diesem Tag im Sommer 1981 fuhren wir also in den Park und führten dort gemeinsam den Hund aus. Wir verbrachten unsere gemeinsame Zeit ohnehin für gewöhnlich draußen, wenn das Wetter es zuließ. Da die Erfindung des Smartphones noch einige Jahrzehnte auf sich warten ließ, mussten wir direkt miteinander kommunizieren. So lernte ich im Laufe der Wochen und Monaten ihre gesamte Lebensgeschichte, die ihrer Eltern, Großeltern und deren Haustieren kennen und kannte außerdem ihre gesamte Gefühls- und Gedankenwelt kennen, ausgenommen der Teile, die sich täglich änderten. Mir gelang es sogar, ihre Menstruationsphasen anhand ihrer Angaben in einen sehr genauen Ablaufplan zusammenzufassen, wobei der Plan sich bis ins das Jahr 1995 weiterverfolgen ließ.
Das Thema Menstruation – Obgleich der sorgsam aufgestellte Plan, den ich ihr eines Tages in einem großen Briefumschlag gesteckt übergab, für erstaunlich wenig Begeisterung ihrerseits sorgte - führte natürlich automatisch zum offensichtlichen Thema, welches wir bis dato nur aus überdramatisierten Erzählungen dubioser Schulfreunde gehört hatten. Klar waren wir aufgeklärt, zumindest soweit unsere Eltern es zuließen. Was bedeutete, dass wir alles schon gehört hatten, aber keinerlei Vorstellung von der Realität diesen gewissen ersten Males hatten. Für uns war Sex etwas theoretisches, etwas, was sich planen und abwägen ließ. Eine gut geölte Maschinerie zwischen Mann und Frau oder denen, die wahlweise eines davon werden wollten.
An jenem Tag im Park planten wir unser erstes Mal. Auf die Uhrzeit genau, als könne man das und es gäbe eine Anleitung dafür. Es war purer Ausdruck von jugendlicher Ahnungslosigkeit.
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Am gleichen Abend sollte es passieren. Wir hatten als Uhrzeit für den Sex-Beginn ungefähr 23:15 Uhr ausgemacht – Ja, so weit ging die Durchplanerei - vorher wollten wir ins Kino und uns den ersten Teil von Indiana Jones anschauen. Im übrigen ein wundervoller Film, der mich damals sehr beeindruckt hat. So wie dieser Mann wollte ich auch sein.
Ihre Eltern waren an diesem Tag nicht daheim. Sie waren die Woche über in ein Ferienhaus an die Nordsee gefahren. Wir hatten das Obergeschoss des Dreifamilienhauses ganz für uns. Gegen 22:50 kamen wir an, was bedeutete, dass wir einige Minuten vor unserem Zeitplan lagen, an den wir uns aus Gründen, die mir heute absolut schleierhaft sind, noch immer peinlich genau halten wollten.
Natürlich hatten wir den Tag mit ihrem Menstruationsplan abgestimmt, um ungewollte Schwierigkeiten langfristiger Natur vorsorglich ausschließen zu können. Kondome besaßen wir dennoch, auch wenn diese damals noch nicht ihren heutigen Stellenwert hatten. Vorsorglich mit den Dingern geübt hatte ich natürlich nicht. Als wir uns gegen 23:06 auf die letzten Vorbereitungen machten, bekam ich das Gummi natürlich nicht übergestülpt. Zu zweit saßen wir letztendlich auf dem Bett, blickten gebannt in meinen Schritt und versuchten unter eifriger Diskussion, das Kondom in die richtige Position zu bringen. Wären wir klüger gewesen, hätten wir schon an diesem Punkt aufhören müssen. Taten wir aber nicht.
Ein paar quälend langsame Minuten später, die wir damit zugebracht hatten, auf die Uhr zu schauen, weil wir immer noch der irrigen Annahme waren, uns peinlich genau an irgendwelche Abmachungen halten zu müssen, schritten wir letztendlich zur Tat. Das Gummi waberte zwischen meinen Beinen hin und her und drohte, von meinem amateurhaft geführten Werkzeug zu rutschen. Susanne hatte sich mittlerweile auf den Rücken gelegt, starrte nervös auf eine Deckenfuge über ihren Kopf und verharrte ob der Dinge, die da mutmaßlich kommen sollten.
„Sicher, dass wir das jetzt so machen sollen?“ fragte ich in eine peinliche Stille hinein. Ich beobachtete, wie ihr Blick im Schneckentempo von der Decke herunter zu mir wanderte. Ausdruckslos sah sich mich an. In ihrem Kopf formulierte sich in dem Moment sicher der Gedanke, dass sie sich die gleiche Frage zu stellen hatte, aber sie verwarf ihn augenblicklich, zuckte mit den Schultern und erwiederte „Wie sonst?“. Gute Frage. Während sie den Kopf wieder aufs Kissen sinken ließ und die hellblauen Augen wieder die Decke fixierte, nahm ich meinen Mut zusammen, legte mich bäuchlings auf sie – Und wusste nicht mehr weiter. Ich war bis dato der Meinung, wenn man sich in Position legt, würde man automatisch andocken. Falsch gedacht. Ich lag wie ein nasser Sack auf Susanne und... naja... Ich fand das Loch nicht. Scheinbar hatte ich kein Zielwasser getrunken. So sehr ich mich bemühte, ich fand einfach nichts, womit ich etwas anfangen konnte.
Nach einigen Sekunden verzweifelten Herumgerudere in der aufgeheizten Luft ihres alten Kinderzimmers, von dessen Wänden mir ABBA in diversen Kostümierungen entgegenstarrten wurde auch Susanne klar, dass da irgendwas nicht nach Plan lief. Das Problem schnell erfassend schritt sie persönlich zur Tat und half mit einer Hand nach, alles in die gewünschte Position zu bringen. Nun hätte alles seinen Gang gehen können. Euphorisiert rutschten wir auf und ab. Für den Bruchteil von Sekunden waren wir die unfassbarsten Liebhaber der Menschheitsgeschichte. Dass das, was immer wir da taten, mit einem qualitativ annehmbaren Liebesspiel ungefähr so viel zu tun hatte wie Darth Vader mit einer Anti-Atomkraft-Friedenskundgebung, konnten wir ja eh nicht wissen. Wir hatten nicht einmal bemerkt, dass ich irgendwo in unserem Bewegungsspiel aus der Zielregion wieder entwichen war und seitdem irgendwo in Richtung ihres Oberschenkel zielte. Das wurde erst beim dritten oder vierten Mal, einige Tage später klar, als ich erstmals wirklich ins Schwarze traf und der Gefühlsunterschied bei beiden Beeteilligten offensichtlich wurde.
Doch in diesem Moment hielten wir es für die Offenbarung, obwohl uns beiden doch dämmerte, dass diese angebliche Offenbarung möglicherweise hätte anders aussehen und sich anfühlen müssen. Während sie nervös zu den Seiten guckte und sich wohl fragte, ob das hier noch mal spannender wird, durchschoss mitten in dieser kruden Art von Liebesakt ein Gedanke meinen Kopf. Plötzlich tauchte dieser Junge aus der Tankstelle vor meinem geistigen Auge auf, schwenkte seine Bierflasche und rief „So sind se, diese Studenten. Hängen den ganzen Tach über ihre Büchers und können nichmal ihre Ische druckbetanken.“ Dann begann er mich anzufeuern. „Wat is, Professor? Getz mach ma hier hinne, ich muss zur Schicht!!“
„Ich mach ja schon, ich mach ja schon.“ keuchte ich ihm in Gedanken zu. Sein Gesicht vor meinen Augen verzog sich zu einem zufriedenen Grinsen. Im Hintergrund setzten ABBA mit "Waterloo" ein, „Sehr schön.", grinste der Junge "Immer schön seine Bemühungen zeigen. Wennze ein Professor werden willst, biste auffem guten Weg.“ Die Worte hallten nach. Immer und immer wieder wiederholte es sich in meinen Ohren. „Wennze Professor werden willst.“ Genau das war es wohl.
„ICH WERD PROFESSOR!“ hörte ich mich schreien. Diesmal war es jedoch nicht die Stimme meiner Gedanken. Ich öffnete die Augen und blickte in das erschrockene Gesicht meiner Freundin, die mich mit weit aufgerissenen Augen ansah. „Ach ja. Gut zu wissen.“ fiepte sie. „Gut, dass dir das in diesem passenden Moment einfällt.“
Upps.
Beschämt rollte ich mich von ihr ab und legte mich neben sie. Nun starrten wir beide ausdrucks- und wortlos auf die Fuge in ihrer Decke.
Ich rekapitulierte. Ich hatte gerade im Bett versagt, weil ich an die Arbeit gedacht hatte und meine Freundin war nun stinksauer. Und mit einem Mal fühlte ich mich so erwachsen, wie nie zuvor in meinem Leben.
Und in diesem Moment, so war ich mir sicher, war meine Kindheit vorbei.
Epilog
Fast 35 Jahre später. Es ist tiefste Nacht und ich gehe über das Campus-Geländer der Universität, an der ich seit einigen Jahren nun bereits lehre. Aus einem Studentenwohnheim höre ich eindeutige Töne, die mich automatisch an die Zeit erinnert, in der ich selbst die Vorzüge des geselligen Studentenlebens kennen lernte.
Susanne habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Wir trennten uns 1984, nachdem unsere Leben schleichend, aber stetig auseinanderdrifteten. So ist es oft mit der ersten Liebe. Das Leben in diesen Jahren nimmt so viele Kurven, dass es leider oft nur die Ausnahme ist, dass zwei Liebende sie alle gemeinsam nehmen können, bevor sie auf die lange Gerade des gesetzten Erwachsenendaseins einbiegen. Was natürlich nicht heißt, dass es nie passiert. Es sind die Jahre des permanenten Wandel, in denen alles kann, vieles muss, vieles kommt und vieles geht. Manchmal in einer Abfolge, die an eines Achterbahnfahrt auf LSD erinnert. Eine Sache, die ich im übrigen auch nicht ausgelassen habe. An diesem Tag habe ich gelernt, dass man von Farbeindrücken zum Erbrechen gezwungen werden kann. Fand ich faszinierend. Aber genau so sind sie, die Jahres des Erwachsenwerdens - Ein Fest für die Synapsen mit Eindrücken, die nie vergehen und die das Leben eines Jeden für ewig lenken werden.
„Professor Bierboodt? So spät noch unterwegs?“ ruft ein Student mir aus einer Gruppe lachender Kommilitonen zu, die sich gerade auf dem Rückweg aus dem Kneipenviertel befinden. Ich lächele ihm zu, hebe die Hand zum Gruße und sehe zu, wie er in der Gruppe seiner Freunde um die Ecke verschwindet.
Gemäßigten Schrittes gehe ich noch ein paar Meter, bis ich einen ältlichen Garagenkomplex am Rande des Campus erreiche. Ich zücke ein Schlüsselbund, schließe eines der alten Wellblechtore auf und schiebe es unter lautem Knarren der angerosteten Scharniere nach oben.
Zwei Minuten später erschüttert ein ohrenbetäubendes Knattern die Nacht. Ich stülpe mir den alten, rosanen Helm, der über die Jahre noch reichlich an Beulen und Kratzern gewonnen hat, über den Kopf und fahre mit Oswald zu den alten Tischtennisplatten. Heute schaffen wir den Sprung. Ganz bestimmt.
Mein Großvater sagte einst, die Schwelle zum Erwachsenwerden ist der Tag, an dem einem der Ernst des Lebens in all seinen Facetten endlich bewusst wird und man die kindischen Spielereien aus dem Alltag verbannt. Vielleicht hatte er damit recht. Vielleicht. Sicher bin ich mir nur in einer Sache: Wenn es wirklich so ist, wie mein Großvater glaubte, dann ist dieser Zeitpunkt einem jedem selbst überlassen. Jeder Mensch kann selbst entscheiden, ob er es zulassen will, sich einen Funken Kindheit in all seiner farbenfrohe, verrückten Freude zu erhalten oder sich dem Trott zu beugen und sich aufs vollständige Erwachsensein zu beschränken. So lange es noch irgendein erstes Mal zu erleben gilt, werde ich einen Teufel tun, mich zu beschränken.
Ich habe in all den Jahren vor allem eines gelernt: Man wird mit dem Alter nicht zwingend erwachsen. Aber auf jeden Fall klüger.
Ein schöner Gedanke.
Ein Mann und seine Missionen
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