Risikokompensation

Risikokompensation ist im Risikomanagement der Ausgleich eines bestehenden Risikos durch ein gegenläufiges Risiko im Rahmen der Risikobewältigung. Die Verkehrs- und Arbeitspsychologie kennt die Risikokompensation auch als „Peltzman-Effekt“, benannt nach Samuel Peltzman.

Allgemeines

Die Risikokompensation bezieht sich auf den Ausgleichseffekt bei Zusammenfassung gegenläufiger Risiken, so dass ein Risiko das andere im Idealfall genau ausgleicht.[1] Im Rahmen der Risikokompensation werden Entscheidungen getroffen oder Geschäfte abgeschlossen, die im günstigsten Fall mit einem Korrelationskoeffizienten von negativ korreliert sind.[2]

Arten

Risikokompensation kann einerseits im Unternehmen selbst stattfinden, wenn gegenläufige Risiken vorhanden sind. Ein Exporteur beispielsweise, der im Rahmen des Vertriebs Waren in einen bestimmten Staat exportiert und gleichzeitig durch die Beschaffung von Rohstoffen aus demselben Staat importiert, kann mindestens das Währungsrisiko ausgleichen (Selbstversicherung). Andererseits können die in Beständen (Lagerbestand, Forderungen auf der Aktivseite, Verbindlichkeiten auf der Passivseite der Bilanz) immanenten Risiken teilweise durch Hedging ausgeglichen werden.

Finanzwesen

Bei Finanzrisiken werden Finanzinstrumente derart miteinander kombiniert, dass sich künftig eintretende Ereignisse ergebnismäßig ausgleichen und keinen Verlust zur Folge haben.[3] Hans Büschgen definierte diese Risikokompensation als die zielgerichtete Kombination des aus einem Finanzinstrument resultierenden Risikos mit einem anderen Finanzinstrument, das eine gegenläufige, negativ korrelierte Gegenwirkung aufweist.[4] Das geschieht in der Wirtschaft bei Sicherungsgeschäften zur Risikokompensation einer bereits eingegangenen Risikoposition. Deshalb werden im Finanzwesen Sicherungsgeschäfte oder „Hedging“ auch als Synonyme der Risikokompensation angesehen.[5] Im Rechnungswesen wird diese Risikokompensation durch Hedge Accounting vollzogen, wobei das Grundgeschäft und das dieses absichernde Sicherungsgeschäft als Bewertungseinheit behandelt werden und nicht realisierte Gewinne und Verluste nicht ausgewiesen werden müssen (§ 254 HGB und IAS 39).

Werden für diese Risikokompensation von Nichtbanken Kreditinstitute eingeschaltet, so betreiben letztere eine vertikale Risikotransformation.

Peltzman-Effekt

Im Jahre 1975 veröffentlichte Sam Peltzman eine Studie mit dem Nachweis, dass Rechtsnormen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit die Zahl der Unfallopfer nicht signifikant senke.[6][7][8] Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit oder der Arbeitssicherheit könnten ganz oder teilweise unwirksam sein oder sogar in ihr Gegenteil verkehrt werden, weil sich die Verkehrsteilnehmer bzw. Arbeitnehmer sicherer fühlten. Sie verhielten sich deswegen teils riskanter als zuvor oder seien riskanteren Aktionen anderer ausgesetzt, weil ein möglicher Unfall oder Arbeitsunfall als weniger wahrscheinlich oder weniger schwer eingeschätzt werde. Die psychologischen Vorgänge spielen sich dabei oft unbewusst ab.

Die in die Autos eingebauten Sicherheitsvorrichtungen (etwa ABS, Sicherheitsgurte) führten nach Peltzman zu einer Verringerung der Todes- und Verletztenquoten bei Fahrzeuginsassen, allerdings gleichzeitig zu einer Erhöhung des Unfallrisikos von Fußgängern; hierin sieht Peltzman die Bestätigung für seine Annahme einer Risikokompensation (hier auch Risiko-Homöostase genannt). Dies ist jedoch eine Risikoverlagerung zu Gunsten der Fahrzeuginsassen und zu Lasten der Fußgänger. Allerdings passen sich Fußgänger dieser erhöhten Gefahr an, so dass sich aggregiert über alle Verkehrsteilnehmer hinweg eine geringere Unfallquote ergeben könnte.[9] Eher liegt hier ein moralisches Risiko (englisch moral hazard) vor.

Auch bei Sportarten mit hohem Verletzungsrisiko (Extremsportler, Risikosportler) sowie im Alltagsverhalten wurde Risikokompensation beobachtet.[10]

Beispiele

Verkehrssicherheit
  • Nach der Einführung des Antiblockiersystems (ABS) in Kraftfahrzeugen mit unbestrittenen objektiven Vorteilen sind die Unfallzahlen bei ABS-Nutzern nicht zurückgegangen[11] und danach sogar gestiegen.[12] Erst später, als die Systeme weit verbreitet waren und weniger beachtet wurden, konnte eine schwedische Studie einen statistischen Sicherheitsgewinn auf Schnee nachweisen, aber nicht auf Asphalt.[13]
  • Gegen eine Helmpflicht für Radfahrer wird unter anderem mit der befürchteten Risikokompensation argumentiert. Wie eine Studie[14][15] zeigte, werden helmtragende Radfahrer beispielsweise in geringerem Abstand durch Autofahrer überholt. Eine neue Analyse derselben Daten[16] konnte diesen Effekt allerdings nicht belegen. Nach Einführung der Fahrradhelmpflicht in Australien 1991 gingen die Verletzungszahlen nicht zurück, wobei auch noch viele Radfahrer auf Motorfahrzeuge umstiegen, das Risiko für die verbleibenden Fahrradfahrer also stieg.[17]
  • Bei Fahrerassistenzsystemen in Pkw und Lkw, die eine Fahrerzustandserkennung besitzen, können solche Systeme bei den Fahrern die Bereitschaft erhöhen, z. B. bei Müdigkeit oder anderen Fahrbeeinträchtigungen weiterzufahren.[18]
Arbeitssicherheit

Bei Holzarbeitern in Finnland nahmen nach der Einführung von Sicherheitsstiefeln, Handschuhen, Helmen und Schutzbrillen die Verletzungen an Augen, Kopf, Händen und Füßen ab. Die Zahl der Verletzungen der ungeschützten Körperteile nahm hingegen zu, weil die Arbeiter schneller und weniger sorgfältig arbeiteten.[19]

Sport und Freizeit

In manchen alpinen Regionen gibt es inzwischen eine Helmpflicht auf Skipisten. Auch ohne Helmpflicht zeichnet sich als gefährlicher Trend ab, dass statt des Besuchs eines Skikurses zur Verbesserung der Fahrtechnik als einfachere Alternative der Helm gewählt wird: Die Teilnehmeranteile der Erwachsenen sanken von über 50 auf 20 Prozent. Bei unveränderten Unfallzahlen und einer Helmtragequote von einem Drittel in der Wintersaison 2008/2009 in Österreich trug die Hälfte der Verletzten einen Helm.[20]

Siehe auch

  • Moralische Lizenzierung: beschreibt das psychologische Phänomen, dass Menschen ohne Schuldgefühle eine schlechte Tat vollbringen können, wenn sie zuvor eine gute Tat vollbracht haben.
  • Moral Hazard: leichtfertigeres Verhalten, sobald im Schadensfall eine (Versicherten-)Gemeinschaft einspringt

Literatur

  • Jochen Paulus: No risk, no fun? In: Bild der Wissenschaft. 07/2007, zit. in wissenschaft.de, 19. Juni 2007.

Einzelnachweise

  1. Carl-Christian Freidank (Hrsg.): Vahlens großes Auditing-Lexikon, 2007, S. 1196.
  2. Frank Spellmann: Gesamtrisiko-Messung von Banken und Unternehmen. 2002, S. 33. (books.google.de)
  3. Michael Göttgens, Kompensation von Zinsänderungs- und Währungsrisiken in der Bankbilanz, 1997, S. 1. (books.google.de)
  4. Hans Büschgen, Zinstermingeschäfte, 1988, S. 86.
  5. Michael Göttgens, Kompensation von Zinsänderungs- und Währungsrisiken in der Bankbilanz, 1997, S. 64, FN 362.
  6. Sam Peltzman: The Effects of Automobile Safety Regulation. In: Journal of Political Economy. Band 83, Nr. 4, August 1975, S. 677–726, JSTOR:1830396.
  7. Adam T. Pope, Robert D. Tollison: "Rubbin' is racin": evidence of the Peltzman effect from NASCAR. In: Public Choice March 2010. Band 142, Nr. 3–4, 2009, S. 507–513, doi:10.1007/s11127-009-9548-2 (springer.com [abgerufen am 15. April 2014]).
  8. The Peltzman Effect: Do Safety Regulations Increase Unsafe Behavior? In: Journal of Safety, Health and Environmental Research. (asse.org [PDF]).
  9. Thomas Asche: Das Sicherheitsverhalten von Konsumenten. 1990, S. 224. (books.google.de)
  10. Der Mensch sucht die Gefahr. In: Der Spiegel. 27. September 2007. (spiegel.de)
  11. Leonard Evans: Antilock brake systems and risk of different types of crashes in traffic. ESV-Konferenz 1998, Vol. 1, S. 445–461.
  12. B. Biehl, M Aschenbrenner, G Wurm: Einfluss der Risikokompensation auf die Wirkung von Verkehrssicherheitsmaßnahmen am Beispiel ABS. (= Unfall- und Sicherheitsforschung Straßenverkehr. Nr. 63). Köln 1987.
  13. Anders Kullgren, Claes Tingvall, Brian Fildes: The effectiveness of ABS in real life accidents. ESV-Konferenz 1994, paper 94-S4-O-07.
  14. Ian Walker: Drivers overtaking bicyclists: Objective data on the effects of riding position, helmet use, vehicle type and apparent gender. Accident Analysis and Prevention. (spiegel.de, deutschsprachige Zusammenfassung)
  15. Bernd Sluka: Kritische Anmerkungen zu Walkers Untersuchung von Überholabständen. Fahrradzukunft 4/2007, 16. November 2007, abgerufen am 19. November 2007.
  16. Jake Olivier, Scott R. Walter: Bicycle Helmet Wearing Is Not Associated with Close Motor Vehicle Passing: A Re-Analysis of Walker, 2007. In: PLoS ONE. Band 8, Nr. 9, 25. September 2013, ISSN 1932-6203, doi:10.1371/journal.pone.0075424, PMID 24086528, PMC 3783373 (freier Volltext).
  17. D. L. Robinson: Head injuries and bicycle helmet laws. In: Accident; analysis and prevention. Band 28, Nummer 4, Juli 1996, S. 463–475. PMID 8870773.
  18. Markus Maurer, Christoph Stiller: Fahrer-Assistenzsysteme mit maschineller Wahrnehmung: Technologien, Anwendungen, Trends und Potentiale. Springer, Berlin 2009.
  19. Jochen Paulus: Bild der Wissenschaft. Juli 2007.
  20. Alpine Raserei. In: Die Zeit. 9. Januar 2009.