Diverses:Wiedergefundene Weihnachtlichkeit
Der folgende Artikel ist ein Satire-Artikel. Es kann sein, dass er nicht ganz ernst gemeinte Aussagen enthält. Es kann aber auch sein, dass der Artikel irgendeine tiefgründige Botschaft vermitteln möchte.
Langsam, fast schon linkisch, trottete er über das Trottoir, ging, einfach weil er aus fremder Anregung damit begonnen hatte, und ging weiter, weil die neu gewonnene Einsicht ihn viel zu sehr in Beschlag nahm, als dass er dem ewigen Fortgang der Schrittfolge, welche kommoderweise sine consilio ac ratione von Statten ging, Beachtung hätte schenken können. Mit großen Augen betrachtete Kalaf die weihnachtliche Straßenbeleuchtung, die festliche Ausschmückung der warm leuchtenden Schaufenster, die prall gefüllten Sackerl der vorbeiströmenden Passanten. Ohne Zweifel musste die Welt wissen, dass Weihnachten nahte, denn aus Jux und Tollerei würde niemand die Fassaden hochkraxeln, um ein paar Glühbirnen zu montieren, oder grundlos einige Tannenzapfen und -zweige neben Presswurst und Blunzen hängen, um danach alles mit Dosensprühschnee zu dekorieren. Warum also, wenn es offensichtlich jeder wusste, war es einem jungen Mann solange nicht bewusst gewesen?
Vielleicht lag es daran, dass er als Mehlspeisenbeauftragter einer großen Bäckerei schon zu Ostern die Kreationen für Weihnachten kostete, damit diese ab August im Handel veräußert werden konnten, und er so den festlichen Geist, der dieser Tage ausströmte, einfach nicht mehr schmeckte. Wer das ganze Jahr über Zimtodeur und Mandelgeschmack ausgesetzt ist, muss irgendwann abstumpfen. Sicherlich gab es Gebäckeinspritzer, die, da sie ständig Marillenmarmelade in Krapfen drücken mussten, glaubten, dass das ganze Jahr Fasching sei und daher nur mehr in Maske aus dem Haus gingen. Kummervoll wartete Kalaf am Straßenrand darauf, dass die Fußgängerampel auf Grün schaltete. Sollte seine geliebte Profession tatsächlich diese verheerenden Auswirkungen haben? Er hatte immer schon gewusst, dass er einer gefährlichen Tätigkeit nachging, die viele Risiken barg. Diabetes war eine Bedrohung, der er bereitwillig ins Auge blickte. Auch nahm er in Kauf, dass er eines Tages durch einen Arbeitsunfall zu Grunde gehen könnte, weil eine hübsche Konditorsassistentin Arsen statt Vanillezucker unter den Teig gemischt haben würde. Nur die Aussicht, dass der Mehlspeisengenuss ihn für andere Freuden des Lebens unempfindlich machen sollte, betrübte Kalaf ungemein, bis er merkte, dass sein Beruf gar nicht vermochte, ihm die Weihnachtlichkeit zu rauben, da diese nicht dem Gebäck entsprang, sondern anscheinend andere Quellen hatte.
Ratlos beobachtete der Mehlspeisenbeauftragte, wie sich die Musiker unter allgemeinem Applaus vor der Chorschranke sammelten, als eine Frau im dunkelroten Mantel neben ihm Platz nahm. Sie war von hohem, hagerem Wuchs, hatte pechschwarzes Haar und bleichte Haut, sowie gemeinsam mit Kalaf die Straßenbahn verlassen. Ihr verdankte er die Erkenntnis, dass Weihnachten bevor stand, denn sie war wie eine enge Freundin des Mehlspeisenbeauftragten gekleidet, welche immer verlässlich Feststimmung verbreitet hatte, bis sie letzten Frühling ohne Erklärung, ohne Scena ultima, aus seinem Leben verschwunden war. Während das Konzert mit dem Eingangschor aus dem ersten Teil von Bachs Weihnachtsoratorium begann, empfand der junge Mann keine Freude mehr darüber, dass die Festtage nicht mehr fern waren.