Zündfunk Radiotop

Faltgrafik von Hans J. Brehm, zum Anzeigen des jeweils nächsten Radiotops.[1]

Das Zündfunk Radiotop (mit lang gesprochener letzter Silbe, ähnlich wie Biotop) war eine experimentelle Hörfunksendung, die zwischen 1993 und 1997 im Jugendfunkprogramm des Bayerischen Rundfunks, Zündfunk, ausgestrahlt wurde.[2] Der Claim im Titel der Sendung war: „Das Radio tobt“.

Struktur der Sendung

Zündfunk Radiotop Trailer am Beginn der Sendung (1993)
Typische Live-Collage aus drei Tonquellen, mit u. a. Helmut Kohl (1996)

Das Radiotop lief an jedem zweiten Montag zwischen 17 und 18 Uhr und enthielt mehrere damals innovative Elemente. Im Unterschied zu den Musiksendungen mit ihren musikwissenschaftlich exakt vorbereiteten und ausformierten Moderationen zur Rockmusik, wofür der Zündfunk bekannt war, war das Radiotop frei und ohne Vorbereitung moderiert. Weder die Hörer, noch der Moderator wussten, wie es ausgeht. Statt mit einer exakt geplanten Zahl an Schallplatten ins Studio zu kommen, kam der Moderator mit einem ganzen Koffer voller Tonträger an, von denen er dann ad hoc einige nach Gefühl und Stimmung auswählte und spielte.

Wissenschaftliche Interviews

Inhaltlich im Zentrum jeder Sendung stand ein Interview mit einem Wissenschaftler, Techniker oder Ingenieur wie zum Beispiel dem Computergrafikpionier Kai Krause (Oktober 1995), dem Apple-Gründer Steve Jobs (Mai 1996) und der Historikerin Ute Frewert (Mai 1995). Die Themen der Interviews umfassten das damals neue Verfahren, CD-ROMs am PC zu brennen (Juli 1996, mit Astarte), die Programmierung Genetischer Algorithmen (September 1996, mit Karl Sims), die Bedeutung des Magazins Wired (März 1997, mit Constance Hale), Designfragen bei der Entwicklung moderner Motorräder (Juli 1997, mit David Robb, BMW), Kryptologie (April 1996, mit Friedrich Bauer), das Europäische Patentrecht (1995, mit dem Leiter des EPO Paul Braendli), digitales Compositing (Februar 1997, mit Angela Redwisch, Arri), die Kommunikationskabel der Welt (Dezember 1996, mit Gerhard Pauly, Telekom),[3] Feuer und Ökologie (Juli 1995, mit Ralf Marsula), die Entwicklung von Computerspielen auf CD-ROMs (August 1995, Voyager) und Virtuellen Studios fürs Fernsehen (Oktober 1996, mit Andrzey Wojdala, Accom), die Geschichte und Bedeutung von Eiszeiten (Januar 1996, mit Wolfgang Boenigk) oder 3D-Computeranimation (August 1996, mit Ben White, Softimage). Seltener kamen auch Interviews mit Musikern vor, etwa mit dem Lautenspieler Michael Dücker, dem Gitarristen Caspar Brötzmann und dem Techno-Musiker Atom Heart.

Alle Interviews begannen mit den immer gleichen drei Fragen: Was ist Tofu?[4] Welche Farbe muss ich mit Gelb mischen, um Grau zu bekommen?[5] Welche Taste liegt zwischen dem E und den F?[6]

PostIt-Aufkleber auf einer Techno-Schallplatte 1994 für das Radiotop

Weitere Elemente

Hörerpostkarte zum Faktor 5-Rätsel (Dezember 1996)

Weitere wiederkehrende Elemente der Sendung war die Science-Fiction-Kurzhörspielreihe „Das Haus mit den 106 Stockwerken“ sowie das „Faktor X-Rätsel“. Dabei wurden mit damals erstmals verfügbaren digitalen Tonbearbeitungsmethoden Klassiker der Rockmusik wie Marvin Gayes Sexual Healing um einen Faktor von zum Beispiel 5 in der Zeit komprimiert, ohne die Tonhöhe zu verändern.

Die Hörer konnten sich jederzeit per Telefon in den Ablauf der Sendung einmischen und taten es auch. Sie forderten den Moderator zum Beispiel auf, eine Musik zu stoppen, um sich über deren Inhalt zu unterhalten. Wegen der Musikauswahl, die vorwiegend aus Death Metal, Grindcore und Techno bestand, oft von wenig bekannten Gruppen und Labels, hatte das Radiotop die jüngste Hörerschaft des Zündfunks. Zahlreiche Anrufer waren Jungs vor dem Stimmbruch. Auffällig viel Hörerpost kam aus den Gebieten der ehemaligen DDR.

Maximilian Schönherr, der das Zündfunk Radiotop konzipiert hatte und moderierte,[7] brachte ins Studio von Bayern 2 stets seinen Co-Moderator „Stephan“ mit, der auf dem Platz links neben ihm saß und den er immer wieder ansprach, der aber nie etwas sagte. Stephan war – was die Hörer nie erfuhren – ein aufblasbares, lebensgroßes Skelett. Die Sendung arbeitete zudem mit Originalgeräuschen, etwa von Ruderbooten oder Klängen aus dem Inneren von Videokameras, aufgenommen mit einem OKM-Kunstkopfmikrofon. Technisch war das Zündfunk Radiotop die erste Sendung im Bayerischen Rundfunk, bei der der Moderator alle Originaltöne wie Sounds, Jingles und die geschnittenen Interviews auf einer selbst gebrannten CD mit ins Studio brachte und selbst abfuhr. Üblich war damals das Zuspielen solcher Elemente auf Handzeichen des Moderators durch den/die Tontechniker im Regieraum. Die Zuspielungen befanden sich auf Tonband, im Rundfunkjargon „Senkel“ genannt und mit so genannten „Gelbbändern“ voneinander getrennt.

Die Sendereihe wurde Anfang 1997 nach über 40 Folgen eingestellt.

Einige Originaltöne aus der Sendung

Einzelnachweise

  1. Brehm entwickelte das Radiotop-Haus, weil es wegen Sondersendungen und Feiertagen nicht garantiert war, dass die Sendung planmäßig im vierzehntägigen Rhythmus ausgestrahlt wurde. Durch Verschieben des Papierstreifens in der Mitte wurde das Datum der jeweils nächsten Sendung sichtbar.
  2. Im Archiv des Bayerischen Rundfunks finden sich mehrere Mitschnitte der Sendereihe, etwa von Folge XXIV vom 17. Oktober 1994 mit dem Titel „Atomhertz“ (wegen des Interviews mit dem Frankfurter Musiker Uwe Schmidt alias Atom Heart). Die Sendung hatte eine Überlänge von 1 Stunde 19 Minuten. Sie wurde damals auf 38 cm/s Tonband mitgeschnitten und später im BR-Archiv digitalisiert.
  3. Ausschnitte aus dem Interview mit Pauly sind im Artikel über das Seekabel zu hören. Bei Minute 1 beantwortet Pauly die notorischen Fragen über Tofu, Farben und Tasten.
  4. Tofu war in den frühen 1990er Jahren nur in Kreisen von Vegetariern bekannt. Häufig kam in den Interviews als Antwort auf diese Frage: „Fisch“. Angelsächsische Interviewpartner wussten meist besser bescheid.
  5. Dahinter steckt die Frage nach der Komplementärfarbe von Gelb, die in RGB die Mischung aus R(ot) und B(lau), also Violett wäre. Die meisten Interviewpartner antworteten mit „Schwarz“, wodurch das Gelb aber nur dunkler und nicht neutralisiert wird.
  6. Diese Frage wurde meist eindeutig beantwortet: „keine Taste“. Denn weder auf einer Schreibmaschinen-/Computertastatur, noch auf einem Klavier/Keyboard liegt eine Taste zwischen E und F.
  7. Preisträger: Der Deutsche Hörbuchpreis. Abgerufen am 26. Januar 2020.

Auf dieser Seite verwendete Medien

Radiotop Hörerpostkarte - Faktor 5 Rätsel - Dezember 1996.jpg
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Der Zündfunk im Bayerischen Rundfunk hielt sich, im Unterschied zu Bayern 3, mit Gewinnspielen zurück. In den 1990er Jahren gab es allenfalls Schrott-Wichteln; das heißt, die HörerInnen, die richtige Lösungen einschickten und ausgelost wurden, konnten zum Beispiel Schallplattenpakete gewinnen, die in der Redaktion nicht gebraucht wurden.

Ein solches Gewinnspiel zog sich durch viele Radiotop-Sendungen. Beim Faktor 5-Rätsel wurde in der Sendung ein Klassiker der Rockmusik präsentiert, und zwar um den Faktor 5 gekürzt, bei gleicher Tonhöhe. Im Radiotop vom Dezember 1996 war das "Eiszeit" von der New Wave-Band Ideal. Die Frage war aber nicht nach dem Song, sondern nach dem letzten, zu dem Songtitel passenden Ereignisses. Etwa 30 HörerInnen sandten die korrekte Lösung ein, um die 10.000 Jahre.

Viele HörerInnen der Sendung stammten aus Gebieten der ehemaligen DDR. Auch dieser: Bad Klosterlausnitz in Thüringen.
Radiotop Jingle 1996.mp3
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Dieser Jingle besteht aus collagierten C64-Klängen und der Ansage "Radiotop". Er war einer von mehreren Jingles der Sendung "Zündfunk Radiotop" im Bayerischen Rundfunk, Mitte der 1990er Jahre.
Caspar Brötzmann im Zündfunk Radiotop 1995.mp3
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Der Gitarrist Caspar Brötzmann im Zündfunk Radiotop 1995. Kurzer Interviewausschnitt. Aufgenommen im Café Central, Köln.
Zündfunk Radiotop Trailer am Beginn der Sendung - 1993.mp3
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Zündfunk Radiotop Trailer am Beginn der Sendung - 1993
Schule der Nation und ein Zug in Londons Süden - Soundcollage im Zündfunk Radiotop, ca. 1994.mp3
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Schule der Nation und ein Zug in Londons Süden - Soundcollage im Zündfunk Radiotop, ca. 1994. Die Kunstkopf-stereophone Aufnahme einer umgeleiteten Zugfahrt trägt diese Collage. Hineingemischt ist die Aussage eines ehemaligen Mitglieds der Gewaltkommission des Deutschen Bundestages, der die massive Verschärfung des Strafrechts in den USA beklagt. Der zu Folge kommt jemand nach der dritten Straftat lebenslang ins Gefängnis. Die Collage ist im (mehrmals) gesendeten Original über 7 Minuten lang. Dies ist der Schluss.
Christliche Tradition - Soundcollage im Zündfunk Radiotop, ca. 1994.mp3
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Christliche Tradition - Soundcollage im Zündfunk Radiotop, ca. 1994. Hier geht es um zunehmende Gewalt vor allem von Skinheads gegen Muslime in Deutschland. Im Originalton ist eine Person zu hören, die die Restauration des 1000-jährigen Reichs, wie sie die Rechtsradikalen anstreben, verurteilt und das auf eine Tradition christlichen Abendlands zurückführt. Die Collage arbeitet mit mehreren damals erstmals digital verfügbaren Filtern und verstellt die Stimme, macht sie teilweise zu einem Gesang.
Der Deutsche Bundestag über Langwelle - Soundcollage im Zündfunk Radiotop, ca. 1994.mp3
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Der Deutsche Bundestag über Langwelle - Soundcollage im Zündfunk Radiotop, ca. 1994. Die Collage besteht aus vermutlich drei Quellen, alle mitgeschnitten über LW. Am Ende fällt der Name Oscar Lafontaine.
Erich Honecker - Soundcollage im Zündfunk Radiotop, ca. 1994.mp3
Autor/Urheber: Maximilian Schönherr, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Erich Honecker - Soundcollage im Zündfunk Radiotop, ca. 1994. Die Rede des DDR-Chefs läuft auf zwei streng getrennten Spuren, rechts und links, die sich im Laufe der Collage immer stärker zusammenfügen, Honecker war für seinen monotonen Singsang bekannt, dem diese Collage Tribut zollt, ohne sich über ihn lustig zu machen. Die Collage entstand zu einer Zeit, als digitale Klangbearbeitung gerade erst anfing. Analog wäre das nur mit großem Zeitaufwand möglich gewesen. Das Zündfunk Radiotop galt als Wegbereiter für solche Experimente.
Wann ist bloß wieder Radiotop.webm
Autor/Urheber: Maximilian Schönherr, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Mitte der 1990er Jahre entwickelte der Grafiker Hans-Jörg Brehm für die experimentelle Rundfunksendung "Zündfunk Radiotop" von Maximilian Schönherreinen einen Kalender in Form einer Bühne. Man konnte rechts und links ziehen, um dann in der Bühnenmitte den Tag der nächsten Sendung zu sehen. Zahlreiche Hörer hatten sich beklagt, dass sie die die Sendungen immer wieder verpassten, weil das Radiotop nur jeden zweiten Montag lief. Der Moderator bat darauf hin den Grafiker, sich ein Konzept zu überlegen, diese Unsicherheit zu tilgen. "Wann ist bloß wieder Radiotop?" wurde kostenlos an die Hörer verschickt; diese mussten das Bühnenhaus nur richtig zusammenfalten und aufstellen.
Zündfunk Radiotop PostIt-Aufkleber auf einer Techno-Schallplatte 1994.jpg
Autor/Urheber: Maximilian Schönherr, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Zündfunk Radiotop PostIt-Aufkleber auf einer Techno-Schallplatte, aus der 18. Sendung. Der Moderator hat die Tracks vermerkt, die er für geeignet fand. Die Schallplatte war in diesem Fall eine frisch gepresste Drum & Bass-Platte, bei der die Abspielgeschwindigkeit nicht klar war. Deswegen ist sie hier mit 33 1/3 vermerkt. Die Nummer der Sendung 18 wurde immer in römischen Zahlen notiert, hier also XVIII.
Zündfunk Radiotop Polyphon Jingle - 1994.mp3
Autor/Urheber: Maximilian Schönherr, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Von diesem Jingle gab es, in verschiedenen Tonhöhen und mit verschieden vielen Stimmen, fünf Varianten. Es war damals erstmals durch digitale Klangbearbeitung möglich, Tonhöhen zu verändern, ohne das Audiomaterial zu verkürzen oder zu verlängern. Der klassische Tonband-Effekt war beim Verlangsamen immer mit einem Absenken der Stimmlage verbunden. Dieser Jingle gehörte zu den sehr frühen Experimenten mit der neuen Digitaltechnik, die in der ersten Hälfte der 1990er Jahre nur auf Apple-Computern mit Einsteckkarten zuverlässig lief.
Radiotop Helmut Kohl Collage 1996.mp3
Autor/Urheber: Maximilian Schönherr, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Collage aus drei Tonquellen, gesendet im Zündfunk Radiotop XVII, 1996 (möglicherweise schon 1995). Der Moderator hat die Audioelemente live gemischt. Neben klassischen Chorbruchstücken auf einem monotonen Schlagzeugrhythmus ist eine zerhackte Weihnachtsansprache des Bundeskanzlers Helmut Kohl zu hören, der auf die Deutsche Einheit pocht.