Zitiergesetz

Das sogenannte Zitiergesetz (lateinisch lex citationum) ist ein vom weströmischen Kaiser Valentinian III. beziehungsweise seiner für ihn die Regentschaft führenden Mutter, Galla Placidia Augusta, erlassenes und an den Senat und das Volk von Rom gerichtetes Gesetz vom 7. November 426, in dem die Gerichte angewiesen wurden, den Rechtsmeinungen der fünf klassischen Juristen Gaius (um 150), Papinian (etwa 150–212), Ulpian (etwa 170–223), Iulius Paulus (Ende 2. Jahrhundert/Anfang 3. Jahrhundert) und Herennius Modestinus (Mitte des 3. Jahrhunderts) zu folgen.[1] Das Edikt wurde vom oströmischen Kaiser Theodosius II. an prominenter Stelle (im ersten Buch) seiner Rechtskompilation von 438 eingefügt[2] und erlangte spätestens zu diesem Zeitpunkt allgemein verbindlichen Charakter.[3]

Die Herstellung von Zitiergesetzen kann als Beginn dessen betrachtet werden, was im mittelalterlichen Kirchenrecht ebenso wie im neuzeitlichen Zivilrecht als communis opinio bezeichnet wird, die sogenannte herrschende Meinung. Sie geht mit der Institutionalisierung von Autoritäten einher, deren gesellschaftlich Anerkenntnis damit entscheidende Gewichtung erfährt. Erstmals erprobt wurde das Prinzip unter Kaiser Konstantin, der zwei Gesetze erließ,[4] um schriftsätzliche Rechtskritiken gegen Papinian aus dem Verkehr zu ziehen und dessen Gutachtensammlungen gerichtsfest zu machen.[5]

Gaius wirkte in der hochklassischen Phase, Papinian in die Übergangszeit von der Hoch- zur Spätklassik und Paulus, Ulpian und Modestinus waren Spätklassiker. Die von Gaius verfassten „Institutionen“ legten den Grundstein für das spätantike Werk Institutiones Iustiniani. Wie sein Vorbild handelte es sich um ein an Anfänger des Lehrunterrichts gerichtetes Werk. Enthalten ist es im später so genannten Corpus iuris civilis.

Bedeutung hatte das Zitiergesetz für Gerichtsverhandlungen. So war darin angeordnet, dass bei Entscheidungen das Mehrheitsprinzip unter den fünf Juristen gelten sollte, bei Stimmengleichheit sollte Papinians Ansicht den Ausschlag geben. Die fünf Juristen erlangten aufgrund des Gesetzes den Status von Zitierjuristen. Der Althistoriker Otto Seeck beklagte in seiner Geschichte des Untergangs der antiken Welt von 1920 noch, in dem Gesetz verbinde sich „die juristische Verständnislosigkeit des Weibes mit einem geradezu barbarischen Schematismus“, und in der Tat wurde das Edikt oft als Beleg für den Niedergang der Rechtskultur in der Spätantike herangezogen.[6] Doch zeigt sich in dem Gesetz auch der Versuch, die Entscheidungsfindung selbst und die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen in der Gerichtspraxis zu erhöhen. Dafür spricht, dass am Schluss der Konstitution die Geltung der Paulussentenzen bestätigt wurde, die als handliche Rechtssammlung im 5. Jahrhundert wohl allgemein verbreitet war.[7]

Das Zitiergesetz war Teil einer weit ausführlicheren oratio an den Senat von Rom, und insoweit auch einer umfassend konzipierten Rechtsreform. Die in den Kodizes (Theodosianus und Iustinianus) verstreut erhaltenen Teile haben unter anderem den Gesetzesvorrang, die Verbindlichkeit der Rechtswirkung von Reskripten und familienrechtliche Regelungen im Erbfall zum Gegenstand.[8]

Siehe auch

Literatur

  • Jan Dirk Harke: Römisches Recht. Von der klassischen Zeit bis zu den modernen Kodifikationen. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-57405-4 (Grundrisse des Rechts), § 1 Rnr. 17 (S. 13).
  • Detlef Liebs: Hofjuristen der römischen Kaiser bis Justinian. Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, München 2010, C. H. Beck, ISBN 978-3-7696-1654-5, Papinian.
  • Guido Pfeifer: Gliederung zur Vorlesung Einführung in die Rechtsgeschichte: Römisches Recht III – Das justinianische Gesetzgebungswerk – Das sog. Zitiergesetz vom Jahre 426 (PDF).

Einzelnachweise

  1. Wolfgang Kunkel, Martin Schermaier, Römische Rechtsgeschichte (Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 14. durchgesehene Auflage 2005), S. 201–202; Stewart Irvin Oost, Galla Placidia Augusta. A Biographical Essay (Chicago: The University of Chicago Press, 1968), bes. 217–218.
  2. CTh 1,4,3;
    Theodor Mommsen, Paulus Meyer: Theodosiani libri XVI cum constitutionibus sirmondianis et leges novellae ad Theodosianum pertinentes. Berlin 1905 (Nachdruck 1954, 1970), online
  3. Fritz Schulz: Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, Weimar 1961, S. 335–420
  4. Uwe Wesel: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage. Beck, München 2006, ISBN 3-406-47543-4. Rn. 156.
  5. Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260-640 n.Chr.) (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 8). Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 173.
  6. Otto Seeck: Geschichte des Untergangs der antiken Welt, Bd. VI, Berlin 1920, 170, online, hier zit. nach Oost 1968, 217 Anm. 35 mwN.
  7. Kunkel/Schermaier 2005, S. 202; zu den Paulussentenzen siehe Detlef Liebs, Die Rolle der Paulussentenzen bei der Ermittlung des römischen Rechts, Martin Avenarius (Hrsg.): Hermeneutik der Quellentexte des Römischen Rechts. Baden-Baden: Nomos, 2008, S. 157–175, (Re)publikation: Freiburger „Freidok“: online
  8. CTh 4,1,1; 5,1,18; 8,13,6; 8,18,9; 8,18,10; 8,19,1; CJ 1,14,1–3; 1,19,7; 1,22,5; 6,30,18; Tony Honoré, Law in the Crisis of Empire 379–455 AD: the Theodosian dynasty and its quaestors: with a palingenesia of laws of the dynasty, Oxford 1998, 249–257; Hagith Sivan, Galla Placidia. The Last Roman Empress, Oxford 2011, 125–126.