Wulfilabibel

Blatt 16v, enthaltend Mk 3,26–32 , aus dem Codex Argenteus, einer Abschrift der Wulfilabibel

Die Wulfilabibel oder Wulfila-Bibel, auch als Gotenbibel oder Gotische Bibel bezeichnet, ist eine im 4. Jahrhundert (um 350) geschaffene Übersetzung vor allem des Neuen Testamentes ins Gotische, wobei die griechische Bibel die Vorlage bildete. Nach traditioneller Auffassung gilt Bischof Wulfila (311–383) als der alleinige Übersetzer. Eine sorgfältige Analyse des gotischen Textes zeigt jedoch, dass die Übersetzung von einer Gruppe von Übersetzern durchgeführt wurde, möglicherweise unter Wulfilas Aufsicht.[1]

Für diese Übersetzung erfand Wulfila die gotische Schrift, während die Goten bis dahin mit Runen schrieben. Die Übersetzung entstand in Nicopolis ad Istrum im heutigen Bulgarien. Sie ist die wichtigste Quelle der gotischen Sprache und gehört neben den hinsichtlich des Textumfangs viel kleineren Runeninschriften zu den ältesten schriftlichen Zeugnissen einer germanischen Sprache. Daraus ergibt sich ihre große Bedeutung für die Sprachgeschichte. Das Gotische gehört dem inzwischen ausgestorbenen Zweig der ostgermanischen Sprachen an und ist deren bekanntester und am besten überlieferter Vertreter. Da zeitgleiche Quellen über das West- und Nordgermanische sehr spärlich sind, ist es oft schwierig zu ermitteln, ob Eigenheiten des Gotischen, wie es in der Wulfilabibel bezeugt ist, Archaismen oder spezifisch ostgermanisch sind. Darüber hinaus ist die Quelle insofern problematisch, als Wulfila ein gebildeter, theologisch versierter zweisprachiger Mensch war, der erkennbar bemüht war, nah am griechischen Original zu bleiben und dafür auch vor Neologismen und grammatischen Konstruktionen, die eher dem Griechischen eigen zu sein scheinen, nicht zurückschreckte. Anders als die Lutherbibel, deren Anspruch es war, „dem Volk aufs Maul“ zu schauen, scheint Wulfila größere Abweichungen von der damaligen gotischen Umgangssprache in Kauf genommen zu haben.

Handschriften

Von der Wulfilabibel sind mehrere Handschriften aus dem 6. bis 8. Jahrhundert mit einem großen Teil des Neuen Testaments und kleinen Teilen des Alten Testaments erhalten, die hauptsächlich aus Italien stammen. Bei diesen Handschriften handelt es sich um die Purpurhandschrift Codex Argenteus (Evangelien), heute bis auf ein Blatt (Speyer-Fragment) in der Universitätsbibliothek in Uppsala aufbewahrt, den Codex Ambrosianus A bis Codex Ambrosianus E (Briefe, Skeireins, Nehemia), den Codex Carolinus (Römerbrief), den Codex Vaticanus Latinus 5750 (Skeireins), den Codex Gissensis (Trümmer des Lukasevangeliums) und die Fragmenta Pannonica, Bruchstücke einer 1 mm dicken Metallplatte mit Versen des Johannesevangeliums. Einige für die Entwicklung der Kirche wichtige Bücher wie die Apostelgeschichte tauchen in der Wulfilabibel nicht auf.

Textbeispiel aus der Wulfila-Bibel

Tonaufnahme des gotischen Vaterunsers

Der Text des Vaterunsers (Mt 6,9–13 ) ist im Codex Argenteus auf fol. 4 recto, letzte Zeile, und auf fol. 5 verso, Zeilen 1 bis 12, zu finden. Der nachfolgenden Abschrift ist eine Transliteration beigefügt. Zur genaueren Beschreibung der Schriftzeichen, Interpunktion und Worttrennung des Vaterunsers siehe Artikel Gotisches Alphabet.

Literatur

  • Frederick Lauritzen: The gothic Psalter between Crimea and Bologna. In: Revue des Etudes Tardo-Antiques. 9. Jahrgang, 2019, S. 109–120 (academia.edu).
  • Elfriede Stutz: Das Neue Testament in Gotischer Sprache. In: Die alten Übersetzungen des Neuen Testaments, die Kirchenväterzitate und Lektionare – Der gegenwärtige Stand ihrer Erforschung und ihre Bedeutung für die griechische Textgeschichte: Kurt Aland (Hrsg.). Arbeiten zur neutestamentlichen Textforschung. 5. Auflage, De Gruyter, Berlin/Boston 1972 (Reprint 2011). ISBN 978-3-11-082701-9, S. 375–402.
  • Wilhelm Streitberg (Hrsg.): Die Gotische Bibel. Erster Teil. Der gotische Text und seine griechische Vorlage. Mit Einleitung, Lesarten und Quellennachweisen sowie den kleinern Denkmälern als Anhang, Carl Winter's Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1908
  • Ingeborg Poppe: Das Johannes-Evangelium des Gotenbischofs Wulfila. Aus dem Gotischen übersetzt und erläutert von I. Poppe. I. Teil: Wulfilas Johannes-Evangelium ins Deutsche übersetzt / II. Teil: Sprachliche Besonderheiten im gotischen Johannes-Evangelium Wulfilas. Edition Immanente, Berlin 2022, ISBN 978-3-942754-67-5, 128 S.
  • Frederick Lauritzen: Nonnos and Wulfila. In: Parekbolai. 9. Jahrgang, 2019, S. 19–30 (academia.edu).
  • Piergiuseppe Scardigli: Frühe Bibelübersetzungen: Gotisch. In: Harald Kittel (Hrsg.) Übersetzung-Translation-Traduction: An International Encyclopedia of Translation Studies. Mouton de Gruyter, Berlin/New York 2007, ISBN 978-3-11-020328-8, S. 2363–2366 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 26, 2)
  • Wolfgang Krause: Handbuch des Gotischen. Handbücher für das germanistische Studium, C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1963, 2., verbesserte Auflage – mit Textproben aus verschiedenen Handschriften und mit umfangreichem Wörterverzeichnis.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. D. Gary Miller: The Oxford Gothic grammar (= Oxford Linguistics). First edition Auflage. Oxford University Press, Oxford / New York 2019, ISBN 978-0-19-881359-0, S. 15–18.

Auf dieser Seite verwendete Medien

Wulfila bibel.jpg
In the Silver Bible from the 5th century, "priest" is translated with the word god.
Lord's Prayer (Gothic).ogg
Autor/Urheber: Vlaemink, Lizenz: CC BY-SA 4.0
A recording of the Lord's Prayer, in the Gothic language, by a non-native speaker.
Lord's Prayer in Wulfila's Gothic alphabet, with transliteration - Vaterunser in Wulfila's gotischer Schrift, mit Übertragung.jpg
Autor/Urheber: Runologe, Lizenz: CC0
Das Vaterunser in (Matthäus 6, 9-13) Wulfila's gotischer Schrift - mit Übertragung. - Diese Abschrift des Vaterunsers wird der besseren Übersichtlichkeit wegen in einzelnen Sätzen und mit einer buchstabengetreuen Übertragung dargestellt. Beim Text im Codex Argenteus (fol. 4 verso, letzte Zeile, und fol. 5 recto, Zeilen 1 bis 12) dagegen handelt es sich um eine scriptio continua: die Wörter werden ohne Leerräume oder sonstige Worttrenner aneinandergereiht; auch am rechten Zeilenrand begonnene Wörter werden ohne jegliche Kennzeichnung einer Silbentrennung auf der nächsten Zeile gleich weitergeführt. Die Mittelpunkte (•) zur Kennzeichnung von Satzpausen sind aus dem Codex Argenteus an den entsprechenden Stellen übernommen.