Wolfgang Schnur

(c) Bundesarchiv, Bild 183-1989-1216-021 / Gahlbeck, Friedrich / CC-BY-SA 3.0
Wolfgang Schnur beim Gründungs­partei­tag des Demokrat­ischen Aufbruchs am 16. Dezember 1989 in Leipzig

Wolfgang Schnur (* 8. Juni 1944 in Stettin; † 16. Januar 2016 in Wien[1]) war ein deutscher Jurist. Er war in der Deutschen Demokratischen Republik als Rechtsanwalt, u. a. im Umfeld der evangelischen Kirche tätig. Von 1965 bis 1989 war er inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). In der Wendezeit 1989 war Schnur als Politiker aktiv. Er war Mitbegründer und einige Monate Vorsitzender der Partei Demokratischer Aufbruch.

Leben und Wirken

Wolfgang Schnur wuchs zunächst in Waisenhäusern auf und wurde im April 1946 von einem Neubauern-Ehepaar auf der Insel Rügen adoptiert.[2] Nach einer Maurerlehre studierte er Rechtswissenschaften und schloss das Studium 1973 als Diplom-Jurist mit der Note gut (2) ab. Er arbeitete zunächst als Rechtsanwalt in Binz, ab 1978 mit eigener Kanzlei in Rostock. Daneben gehörte Schnur in der DDR zu den bekanntesten Kirchenvertretern. Er war Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Mecklenburg, zeitweise Vizepräsident der Synode der Evangelischen Kirche der Union (EKU) und Synodaler des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Ende der 1980er Jahre war er als Vertrauensanwalt der Evangelischen Kirche für zahlreiche bekannte Oppositionelle in der DDR tätig. Er vertrat zahlreiche Dissidenten, Bürgerrechtler und Wehrdienstverweigerer.

Schnur hatte stets enge Arbeitskontakte zu Horst Kasner, dem Vater Angela Merkels, der in Templin langjährig als Leiter des Pastoralkollegs der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg tätig war. Kasner, der als ein wichtiger Mittelsmann zwischen Kirche und Staat in zentraler Kirchenfunktion galt, war Mitglied im Weißenseer Arbeitskreis und aus Sicht der Staatsführung einer der „progressiven“ (d. h. SED-freundlich eingestellten) kirchenpolitischen Kräfte innerhalb der Kirche. Schnur und die Familie Kasner waren freundschaftlich verbunden. Ende 1989 stellte Schnur Angela Merkel zum 1. Februar 1990 als hauptamtliche Mitarbeiterin beim DA ein und machte sie noch im selben Monat zu seiner Pressesprecherin.

Ein ständiger Gesprächspartner von Schnur und Kasner in Sachen SED-Kirchenpolitik war der IM Clemens de Maizière, der Vater des späteren DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière. Clemens de Maizière war ebenfalls Rechtsanwalt in der DDR. Er war daneben Synodaler der Berlin-Brandenburgischen Kirche und führendes Mitglied der DDR-CDU. Der Verhandlungspartner von Clemens de Maizière, Wolfgang Schnur und Horst Kasner in der DDR-Regierung war der Staatssekretär für Kirchenfragen. Von 1979 bis 1988 war dies Klaus Gysi.

(c) Bundesarchiv, Bild 183-1990-0311-022 / Häßler, Ulrich / CC-BY-SA 3.0
Am 10. März 1990 waren schon IM-Vorwürfe gegen Schnur bekannt, die im Wahlkampf thematisiert wurden.

Im Oktober 1989 war Schnur Mitbegründer der Partei Demokratischer Aufbruch (DA), auf deren Gründungsparteitag er zum Vorsitzenden gewählt wurde. Er war Teilnehmer am Zentralen Runden Tisch. Nachdem sich im DA der konservative Flügel durchgesetzt hatte, war er 1990 Mitbegründer der Allianz für Deutschland, bestehend aus Demokratischer Aufbruch, Deutsche Soziale Union (DSU) und DDR-CDU. Mehrere Monate lang galt Schnur als künftig bedeutender Politiker der DDR. Die Offenlegung seiner IM-Tätigkeit durch ehemalige MfS-Mitarbeiter im März 1990, wenige Tage vor der ersten freien Volkskammerwahl, beendete seine politische Karriere: Von 1965 bis 1989 hatte ihn die Hauptabteilung XX des MfS als IM „Torsten“ bzw. „Dr. Ralf Schirmer“ geführt. Noch wenige Tage vor den freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 hatte sich Schnur mit seinem Führungsoffizier getroffen. Schnur trat vom Vorsitz des DA zurück und wurde aus der Partei ausgeschlossen. Anschließend erkrankte er schwer. Nachfolger im Amt wurde Rainer Eppelmann.

Schnurs Tätigkeit für die Staatssicherheit erfolgte stets verdeckt. Allgemein bekannt war aber, dass er als Kirchenanwalt über ständige, gute Arbeitskontakte zur SED verfügte. Auch in seiner Zeit als DA-Vorsitzender pflegte Schnur einen engen Kontakt zu Mitarbeitern des MfS.

Nach der Wiedervereinigung eröffnete er 1991 in Berlin eine Rechtsanwaltskanzlei. 1993 wurde ihm die Anwaltszulassung wegen Parteiverrats und „Unwürdigkeit“ entzogen, da er sich an den „Grundsätzen der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit vergangen“ habe. Das Urteil wurde 1994 vom Bundesgerichtshof bestätigt.[3] Schnur arbeitete danach als Investitions- und Projektberater. 1997 wurde er wegen Beleidigung eines Richters, 1999 wegen Konkursverschleppung jeweils zu einer Geldstrafe verurteilt.

Das Landgericht Berlin verurteilte Schnur 1996 wegen politischer Verdächtigung (§ 241a StGB) in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Schnur hatte seine ehemaligen Mandanten Stephan Krawczyk und Freya Klier gegenüber dem Ministerium für Staatssicherheit dem Verdacht ausgesetzt, dass diese Verbindung zum Westfernsehen unterhielten und Klier ein Manuskript mit deutlicher Kritik an den Verhältnissen in der DDR auf dem Dachboden ihres Hauses versteckt habe.

Der mehrfach geschiedene Schnur war Vater von elf Kindern.[4][5] In den 1990er Jahren scheiterte er geschäftlich und hat dabei nach eigenen Angaben 2,5 Millionen Euro Schulden angehäuft.[6] Zuletzt lebte er verarmt und aus der Öffentlichkeit zurückgezogen in Wien.[7] Schnur starb am 16. Januar 2016 im Wilhelminenspital an Prostatakrebs.[8]

Literatur

Weblinks

Commons: Wolfgang Schnur – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise

  1. Wolfgang Schnur: Der Mann, der Angela Merkel entdeckte, ist tot. Spiegel Online, 20. Januar 2016, abgerufen am gleichen Tage
  2. Michel Graupner: RBB-Doku über Wolfgang Schnur: Verraten und verkauft. Tief in einer Parallelwelt: Eine RBB-Doku zeigt das doppelte Leben des Stasi-Spitzels Wolfgang Schnur. In: Der Tagesspiegel. 19. November 2017, abgerufen am 23. Juli 2018.
  3. Berufliches: Wolfgang Schnur. Der Spiegel 29/1994, 18. Juli 1994, S. 168.
    Bundesgerichtshof bestätigt Entscheidung: Schnur verliert Zulassung. Berliner Zeitung, 14. Juli 2004.
  4. Wende-Politiker und Stasi-Spitzel Wolfgang Schnur gestorben. In: Ostsee-Zeitung. 20. Januar 2016, abgerufen am 4. August 2023.
  5. Brandenburg: Wende-Politiker, Stasi-Spitzel, Merkel-Entdecker. In: Der Tagesspiegel Online. ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 2. August 2023]).
  6. Alexander Kobylinski: Der verratene Verräter. Wolfgang Schnur: Bürgerrechtsanwalt und Spitzenspitzel, Seite 362. 1. Auflage. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2015, ISBN 978-3-95462-438-6, S. 362.
  7. DDR-Anwalt Wolfgang Schnur ist tot. tagesschau.de, 19. Januar 2016.
  8. Ralf Schuler, Peter Tiede, Hartmut Kascha: Wende-Politiker starb an Krebs: Wolfgang Schnur († 71) ist tot. bild.de, 19. Januar 2016.
  9. Rezension von Eckhard Jesse: Alexander Kobylinski: Der verratene Verräter: Wolfgang Schnur; Bürgerrechtsanwalt und Spitzenspitzel.; (PDF). In Totalitarismus und Demokratie, 14 (2017) 1.

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ADN-ZB-Häßler-11.3.90-Dresden: Wahlkampf. Die Delegierten des Wahlparteitages des Demokratischen Aufbruch haben sich angesichts der Vorwürfe gegen Wolfgang Schnur geschlossen hinter den Vorsitzenden gestellt. Plakat vor dem Tagungsgebäude, dem Hygienemuseum Dresden.
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