Wiegenlied (Herwegh)

Georg Herwegh, Kupferstich von Carl Arnold Gonzenbach nach Conrad Hitz
Innentitelblatt der Gedichte eines Lebendigen, 1841

Wiegenlied ist ein Gedicht von Georg Herwegh, das dieser aufgrund seiner politischen Verfolgung und der Zensur in Preußen anonym 1841 in der Schweiz in Gedichte eines Lebendigen herausbrachte.[1]

Vorangestellt ist ein Zitat Johann Wolfgang von Goethes Schlafe, was willst du mehr?, wobei Herwegh den „Dichterfürsten“ selbst stets nur Göthe nennt, welches er gleichzeitig als Refrain in das Gedicht mit aufnimmt. Dabei parodiert das Wiegenlied gleichermaßen die klassischen Formen des Schlaf- bzw. Wiegenlieds wie der politischen Zustände in Deutschland zu Zeiten des Vormärz als auch von Goethes Nachtgesang.[2]

Text

Deutschland – auf weichem Pfühle
Mach’ dir den Kopf nicht schwer
Im irdischen Gewühle!
Schlafe, was willst du mehr?

Laß’ jede Freiheit dir rauben,
Setze dich nicht zur Wehr,
Du behältst ja den christlichen Glauben;
Schlafe, was willst du mehr?

Und ob man dir alles verböte,
Doch gräme dich nicht zu sehr,
Du hast ja Schiller und Göthe:
Schlafe, was willst du mehr?

Dein König beschützt die Kameele
Und macht sie pensionär,
Dreihundert Thaler die Seele:
Schlafe, was willst du mehr?

Es fechten dreihundert Blätter
Im Schatten, ein Sparterheer;
Und täglich erfährst du das Wetter:
Schlafe, was willst du mehr?

Kein Kind läuft ohne Höschen
Am Rhein, dem freien, umher:
Mein Deutschland, mein Dornröschen,
Schlafe, was willst du mehr?[3]

Hintergrund

Herwegh parodiert das Schlaflied, indem er im Wechselspiel mit den kulturellen und politischen Missständen, die nur durch vermeintliche Errungenschaften, wie beispielsweise die Schriften der Deutschen Klassiker von Goethe und Friedrich Schiller oder eine zumindest quantitativ zahlreiche Presselandschaft, sich befriedigt fühlt, die rhetorische Frage Schlafe, was willst du mehr? stellt. Das christlich motivierte Gottesgnadentum, die frühzeitige Pensionierung liberaler Minister durch den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. wird ebenfalls relativ offen im Gedicht thematisiert. Die Presse ist jedoch eine Karikatur, wenn sie zwar dreihundert Blätter stark ist, wie das Heer der Spartaner unter König Leonidas I., sich aber letztlich in der Berichterstattung auf Banalitäten und das Wetter beschränkt. Überhaupt bezog sich Herwegh in beiden Gedichtbänden mehrfach auf die Schlacht bei den Thermopylen, die bei ihm die Bedeutung des revolutionären Opfertodes bekommt.[4]

Die Antwort auf seine Frage lautet insgeheim, dass Deutschland sich die verfassungsverbriefte politische Freiheiten wünschen solle, anstatt weiterhin wie Dornröschen auf den Prinzen warten zu müssen. Die Veröffentlichung der Gedichte machte Herwegh kurzzeitig europaweit bekannt.[5][6][7]

Rezeption

„Mit allen seinen übrigen Liedern erreichte Herwegh nicht entfernt weder den Erfolg noch den dichterischen Wert der »Gedichte eines Lebendigen«. In ihnen hatte er mit Platens Formenstrenge Vorzüge von Bérangers volkstümlich klaren und scharfen politischen Chansons zu vereinigen gewußt und eine von der Parteifarbe unabhängige Leistung als Dichter vollbracht“.[8]

Ausgaben

  • Georg Herwegh: Gedichte eines Lebendigen. 2 Theil, Zürich und Winterthur 1843, S. 88f.
  • Hermann Tardel (Hrsg.): Herweghs Werke in drei Teilen. Bd. 1, Deutsches Verlagshaus Bong & Co., Berlin u. a. 1909.
  • Georgh Herwegh: Gedichte und Prosa. Ausgewählt von Peter Hasubek, Reclam 1975.

Literatur

  • Wolfgang Büttner: Georg Herwegh. Poet und Revolutionär. In: Männer der Revolution von 1848. Hrsg. v. Helmut Bleiber u. a., Bd. 2, Berlin 1987, S. 151–182.
  • Ingo Fellrath: Auf der Suche nach einer neuen Poetik: Georg Herweghs Hinwendung zur sozialen Dichtung. In: Philosophie, Literatur und Politik vor den Revolutionen von 1848. Zur Herausbildung der demokratischen Bewegungen in Europa. Hrsg. v. Lars Lambrecht, Frankfurt a. M. 1996, S. 455–462.
  • Ernst Baldinger: Georg Herwegh. Die Gedankenwelt der „Gedichte eines Lebendigen“. Bern 1917 (=Sprache und Dichtung. Forschungen zur Linguistik und Literaturwissenschaft, hg. v. Harry Maync u. S. Singer, H. 19).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Gedichte eines Lebendigen. 1 Theil, Zürich und Winterthur 1841, S. 88f.
  2. Text nach Goethes Werke Ausgabe letzter Hand bei zeno.org http://www.zeno.org/nid/20004839609
  3. Nach: Deutsche Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart. dtv, München 1980, S. 186.
  4. Anuschka Albertz: Exemplarisches Heldentum die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart. Oldenbourg, München 2004, S. 213.
  5. Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 14. August 2011 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.georgherwegh-edition.de
  6. Werner Feudel: Herweghs „Gedichte eines Lebendigen“ und die Deutschlandreise des Dichters im Spiegel der zeitgenössischen Presse. In: Heinrich Heine und die Zeitgenossen. Geschichtliche und literarische Befunde. Berlin/Weimar 1979, S. 37–64.
  7. Fanny Lewald: Georg Herwegh, der Verfasser der Gedichte eines Lebendigen. In: Europa. Chronik der gebildeten Welt, 1841, Bd. 4, S. 163–169.
  8. Friedrich Vogt/Max Koch: Geschichte der Deutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. 3. Bd., 4. Aufl., Leipzig 1926, S. 148.

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Autor/Urheber: H.-P.Haack, Lizenz: Attribution

Herwegh, Georg: Gedichte eines Lebendigen. Mit einer Dedikation an den Verstorbenen.


Zürich und Winterthur: Verlag des literarischen Comptoirs 1841, 200 Seiten
Carl Arnold Gonzenbach - Georg Herwegh.jpg
Bildnis Georg Herwegh, Kupferstich von Carl Arnold Gonzenbach nach Conrad Hitz