Werk Tanne
Das Werk Tanne, Tarnname Tanne, ist eine ehemalige Sprengstofffabrik am östlichen Ortsrand von Clausthal-Zellerfeld am Mittleren Pfauenteich. Es bestand von 1935 bis 1944 und war während der Zeit des Nationalsozialismus das drittgrößte Sprengstoff- und Munitionswerk im Deutschen Reich. Das Werk diente hauptsächlich der Produktion von TNT, in späteren Jahren wurden auch Bomben, Minen und Granaten befüllt.
Geschichte
1930 wurden in Clausthal-Zellerfeld die letzten Bergwerke des Oberharzer Bergbaus stillgelegt, woraufhin die Arbeitslosigkeit erheblich anstieg. Für Clausthal-Zellerfeld als Standort einer Rüstungsfabrik sprachen die strategisch günstige Lage in der Mitte des Deutschen Reiches, die damals noch gute verkehrstechnische Anbindung per Eisenbahn, das Potenzial an hochqualifizierten arbeitslosen Facharbeitern sowie die guten Möglichkeiten zur Tarnung gegenüber Flugzeugen. Acht Monate nach der Machtübernahme der NSDAP gab es im Dezember 1933 die ersten Planungen und 1935 wurde das 120 Hektar große Gelände durch die Montan GmbH erworben, eine Tarnfirma des Heereswaffenamtes.[1]
Die Fabrik wurde in der Zeit von 1935 bis 1938 für die Gesellschaft m. b. H. zur Verwertung chemischer Erzeugnisse (Verwertchemie) errichtet, einer Tochter der Dynamit AG (DAG), die auch weitere Sprengstoffwerke betrieb. Sie erhielt den Decknamen „Tanne“. Es wurde hauptsächlich Füllpulver 02 (Fp. 02) hergestellt, bekannt als TNT. Die monatliche Produktion erreichte etwa 2800 Tonnen TNT. Das Fertigungskennzeichen der Einrichtung war „clt“.
Neben der TNT-Produktion gab es Einrichtungen für das Befüllen von Granathülsen und Bomben. Diese Betriebsteile wurden als „Universal-Füllstelle“ und „Bombenfüllstelle“ bezeichnet. Die „Universal-Füllstelle“ hatte eine Kapazität, um 3000 Tonnen TNT pro Monat zu verarbeiten.
Im Juni 1939, etwa drei Monate vor Kriegsbeginn, nahm die Sprengstofffabrik ihre Produktion auf. 1943/1944 produzierte Werk Tanne mit 28.000 Tonnen die größte Menge TNT im Großdeutschen Reich. Die Lagerleitung verbot es wegen des Sichtschutzes aus der Luft unter Strafe, Bäume zu fällen, des Weiteren war nur die Neupflanzung von Fichten erlaubt.
Im späteren Verlauf des Krieges ereigneten sich mehrere Unglücke im Werk, das schwerste war die Explosion der Nitrierungsanlage am 6. Juni 1940, bei der 61 Menschen starben. Die Arbeiter, die sich zur Zeit der Explosion in der Nähe befanden, wurden durch die Maschendrahtzäune gedrückt, so dass die genaue Identifizierung unmöglich wurde. In ganz Clausthal-Zellerfeld barsten die Scheiben und der Rührstab der Nitrierungsanlage flog knapp zwei Kilometer weit bis zum Klepperberg.
Am 7. Oktober 1944 griffen 129 Bomber der US-Luftstreitkräfte die Sprengstofffabrik an, sie zerstörten 70 Gebäude. Mindestens 88 Menschen kamen dabei ums Leben, wobei die meisten Opfer unter den Zwangsarbeitern zu beklagen waren. Anschließend kam die TNT-Produktion bis zum Kriegsende nicht wieder in Gang, hauptsächlich wegen des zerstörten Leitungsnetzes. Jedoch arbeitete die Bombenabfüllung weiter bis zur Besetzung durch die US-Armee im April 1945.[1] Am 31. Dezember 1944 arbeiteten noch 590 sowjetische Zwangsarbeiterinnen im Werk Tanne.
Arbeitskräfte
Werk Tanne wurde zunächst als Schläferfabrik errichtet, das heißt, sie wurde nach Fertigstellung zunächst nicht in Betrieb genommen. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die Sprengstoffproduktion aufgenommen. Wegen des hohen Bedarfs an Soldaten für den Fronteinsatz wurden ab 1942 im Werk etwa so viele Zwangsarbeiter wie reguläre Arbeitskräfte eingesetzt. Diese wurden im vom Deutschen Reich besetzten Ausland entweder mit Versprechungen angeworben oder gewaltsam verschleppt. Die Schlüsselpositionen des Werks hatten Deutsche inne.
Um 1942 arbeiteten etwa 2600 Menschen in der Fabrik, wovon etwa die Hälfte aus Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen rekrutiert wurden[1]. Die Unterbringung dieser ausländischen Arbeitskräfte erfolgte in Lagern in der Umgebung. Bekannte Lager waren:
- Barackenlager Am Pfauenteich
- Kriegsgefangenenarbeitskommando 1354 (Stalag XI B Fallingbostel)
- Lager Bauhofstraße: 400 Personen
- Lager Bürgergarten: 100 Personen (Nationalitätenlager)
- Lager Evangelisches Gemeindehaus Zellerfeld: 50 Personen (sowjetische Frauen)
- Lager Schützenhaus Clausthal (jugoslawische Bürger)
- Lager Hausherzbergerstraße/Hausherzbergerteich
- Lager Fabrik zur Verwertung chemischer Erzeugnisse: 1200 Personen
- Lager Dynamit AG Bauleitung: 300 Personen
- Lager Bereitschaftslager: 650 Personen (Lage (ehemaliges) Bundeswehrgelände (nur für Deutsche))
- Lager „Russenlager“ (Lage gegenüber vom Bundeswehrgelände (nur Sowjetbürger und deren Frauen))
- Lager Kriegsgefangenenlager (Lage Gabelung Altenau / Sankt Andreasberg (für Kriegsgefangene, außer sowjetischen))
- Lager Breslauerstraße (Nationalitätenlager)
- Lager Ehemaliger Sportplatz („Russenlager“)
Die Zwangsarbeiter führten die gefährlichsten und gesundheitsschädlichsten Arbeiten aus. Sie befüllten die Sprengkörper mit dem stark giftigen TNT.
Die Arbeiter hatten eine 48-Stunden-Woche, die um 9 Uhr morgens am Montag begann und freitags um 13 Uhr nachmittags endete. Wegen des ständigen Umgangs mit TNT kam es zu Vergiftungen, die nur mangelhaft behandelt wurden. Für die Arbeiter, die zuvor in Köln und Krümmel ausgebildet und kaum 20 Jahre alt waren, wurde im Werk ein Bordell eingerichtet, das mit einigen Zwangsarbeiterinnen besetzt wurde.
- Siehe auch Innerstetalbahn#Zweiter Weltkrieg
Werk Tanne heute
Nach dem Krieg sollten große Teile der Fabrik durch die Alliierten gesprengt werden. Jedoch existieren die meisten Gebäude heute noch, da viele aus so massivem Beton gebaut worden waren, dass eine vollständige Sprengung zu teuer und aufwändig geworden wäre.
Auf Auswirkungen auf die Umwelt (Luft, Wasser, Boden) wurde bei der damaligen TNT-Produktion nur wenig Rücksicht genommen. Noch heute lagern Altablagerungen im Werksgelände. Mittlerweile wurden mehrere Sanierungsmaßnahmen durchgeführt, die sich aber insbesondere deshalb schwierig gestalten, da durch neue Eingriffe keine Mobilisierung von zurzeit stabil lagernden Schadstoffen ausgehen soll. Erschwert sind die Sanierungen auch deshalb, weil vielerorts die Altablagerungen unbekannt sind: Es sind nur wenige Dokumentationen über den Betrieb des Werks und vor allem über den Verbleib der Stoffe nach 1945 erhalten.
Der ehemalige Grundstückseigentümer, die IVG Immobilien, baute ein Pufferbecken und eine Aktivkohleanlage, mit dem belastetes Niederschlagswasser gespeichert und dann einer Aktivkohlebehandlung zugeführt werden soll. Auf den Nachbargrundstücken, dem Mittleren und Unteren Pfauenteich, hat der Grundstückseigentümer Niedersächsische Landesforsten in den Jahren 2011 und 2012 nahezu alle Altablagerungen entfernt.[2] Damit ist aber die Sanierung des gesamten Standortes bisher insgesamt nur zu kleinen Teilen gelungen. Für die nächsten Jahre ist die Anlage einer zweiten Pufferbeckenanlage mit einer weiteren Aktivkohleanlage sowie die Untersuchung der Neutralisationsschlammdeponien des Werks Tanne, die sich im Stadtgebiet von Clausthal befinden, geplant. Die größte dieser Deponien verbirgt sich unter dem ehemaligen TUS-Sportplatz zwischen den Straßen Kutschenweg und Am Ludwiger Graben.
Beeinträchtigungen der Umwelt gehen weit über das Werksgelände und die benachbarten Flächen hinaus. Die Abwasserleitung erstreckte sich bis nach Osterode am Harz, wo die Abwässer in den Untergrund „versenkt“ wurden und bis heute das Grundwasser belasten.
Zum 1. Februar 2018 hat die Halali Verwaltungs GmbH mit Sitz in Liebenau das Areal von der IVG Immobilien übernommen.[3] Unter dem Namen „Forstgut Eickhof“ wird das eingezäunte Waldgebiet des ehemaligen Werks Tanne wieder forstwirtschaftlich und jagdlich genutzt, während einzelne Gebäude vermietet werden. Auf dem nördlichen Teil des Geländes soll nun ein Solarenergie-Park entstehen.[4]
Literatur
- Friedhart Knolle, Michael Braedt, Hansjörg Hörseljau, Frank Jacobs, Christian-Alexander Wäldner: Tarnname "Tanne" - eine Harzer Rüstungsaltlast in Clausthal-Zellerfeld und Osterode am Harz – Spuren Harzer Zeitgeschichte Heft 7. 1. Auflage, Papierflieger Verlag GmbH, Clausthal-Zellerfeld 2020. ISBN 3-86948-696-1
- Jani Pietsch: Sprengstoff im Harz: zur Normalität des Verbrechens: Zwangsarbeit in Clausthal-Zellerfeld. (Explosives in the Harz Mountains. On the normality of crime; forced labour in Clausthal-Zellerfeld), 248 pages, 60 illustrations, Edition Hentrich, Berlin 1998. ISBN 3-89468-242-6
- Barbara Ehrt: Die Französin (Roman zum Schicksal einer französischen Zwangsarbeiterin in der Munitionsfabrik Tanne), Goslar, 2021.
- Friedhart Knolle, Michael Braedt, Hansjörg Hörseljau, Frank Jacobs: Die Sprengstoffabrik „Tanne“ in Clausthal-Zellerfeld. Geschichte und Perspektive einer Harzer Rüstungsaltlast. 3. Auflage, Papierflieger, Clausthal-Zellerfeld 2004. ISBN 3-89720-124-0
Einzelnachweise
- ↑ a b c Braedt, Hörseljau, Jacobs, Knolle: Die Sprengstoffabrik "Tanne" in Clausthal-Zellerfeld, Papierflieger-Verlag, Clausthal-Zellerfeld, 1998
- ↑ Justus Teicke: Die Pfauenteiche sind saniert - Beseitigung einer Rüstungsaltlast In: Unser Harz, Heft 11/2012, Oberharzer Druckerei und Verlag GmbH, Clausthal-Zellerfeld, 2012 PDF online
- ↑ Die Halali Verwaltungs GmbH hat das Areal mit Rüstungsaltlasten gekauft und will es nachhaltig bewirtschaften, eseltreiber.de, 22. Februar 2018
- ↑ Goslarsche Zeitung, GZ, GZ live Redaktion: Werk Tanne soll Solarenergie-Park werden | GZ Live. Abgerufen am 29. Juli 2020.
Weblinks
- Film ohne Ton mit vielen Fotos aus dem Jahr 2010
- Private Webseite mit Informationen, Fotos und einem in Bearbeitung befindlichen Gebäudeplan von Werk Tanne
- Zur Geschichte der „Entsorgungspfade“ der toxischen Abwässer von Clausthal-Zellerfeld bis Osterode-Petershütte
- Die Gedenkstätte "Russenfriedhof" am Massengrab der Sprengstoff-Fabrik Tanne in Clausthal-Zellerfeld
- Stefanie Döscher: Werk Tanne: Auf der Spur der „Goldköpfchen“ bei ndr.de vom 4. Februar 2018
- Werk Tanne auf den Seiten des Landkreises Goslar
Koordinaten: 51° 48′ 13″ N, 10° 22′ 0″ O
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Autor/Urheber: Burkhard Achilles, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Ruinen Werk Tanne
Gedenksteine auf dem "Russenfriedhof" östlich von Clausthal zum Gedenken an die verstorbenen russischen und ukrainischen Zwangsarbeiter des Werk Tanne
Autor/Urheber: JuTe CLZ, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Gedenkstätte für die beim Explosionsunglück 1940 getöteten deutschen Fabrikarbeiter des Werk Tanne auf dem Friedhof Clausthal, 1940. Inschrift des Steines: "Am 6. Juni 1940 starben 61 Fabrikarbeiter in der Fabrik Clausthal für Deutschland". Die Namen der Toten und deren Geburtsdaten werden aufgelistet. Nur etwa 10 % der Verstorbenen stammt aus Clausthal bzw. dem Oberharz; die Übrigen stammen aus dem gesamten damaligen Reichsgebiet.