Weglaufhaus

Ein Weglaufhaus ist ein Zufluchtsort für Menschen, die psychiatrische Behandlungen meiden wollen oder eine Alternative zur herkömmlichen psychiatrischen Behandlung suchen. In den 1970er-Jahren entstanden in den Niederlanden erste „Wegloophuizen“ durch die Gekkenbeweging (deutsch etwa ‚Verrückten-/Irren-Bewegung‘), Selbsthilfegruppen von Psychiatriepatienten und ehemaligen Psychiatriepatienten.[1][2]

Ziele

Vertreter der Antipsychiatrie behaupten, ein Kontakt mit der Psychiatrie beinhalte immer das Risiko, Opfer von körperlicher oder psychischer Gewalt zu werden und Schäden in vielerlei Hinsicht zu erleiden (z. B. durch Zwangseinweisung, Fixierung, extremen Stress, allgemeine Bevormundung, kontraproduktive Beschäftigungstherapien, sowie Zwangsbehandlung oder Zwangsmedikation mit nebenwirkungsreichen Psychopharmaka). Weglaufhäuser bieten im Rahmen des Selbsthilfegedankens alternative Methoden im Umgang mit den betroffenen Menschen an, in denen die Ideen einer nutzergetragenen Antipsychiatrie umgesetzt werden.

Ein Weglaufhaus kann demnach Zuflucht bieten für:

  • psychisch kranke Menschen oder ehemalige psychiatrische Patienten, die obdachlos oder von Obdachlosigkeit bedroht sind,
  • Menschen, die aus psychiatrischen Einrichtungen weglaufen (sofern nicht gerichtlich untergebracht),
  • Menschen, die eine psychiatrische Behandlung brauchen, aber eine Alternative zu herkömmlichen Behandlungsmethoden suchen.

Typische Merkmale der Arbeit in einem Weglaufhaus sind:

Weglaufhäuser und Initiativen in Deutschland

Das bisher einzige deutsche Weglaufhaus, offiziell Villa Stöckle genannt, wurde nach einer Vorlaufzeit von 15 Jahren 1996 in Berlin vom Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. gegründet, der aus Mitgliedern der frühen Irren-Offensive[3] und des Beschwerdezentrums Psychiatrie bestand. Das Haus ist zu Ehren der am 8. April 1992 gestorbenen Mit-Initiatorin Tina Stöckle benannt.[4] Es ist dem Berliner Leistungstyp „Kriseneinrichtung“ zur Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten zugeordnet.[5] Neben dem Wohnprojekt betreibt der Verein eine Informations- und Beratungsstelle und ist außerdem Träger des Einzelfallhilfe-Projekts Support, das in Berlin überbezirklich eine Krisenbetreuung zur Vermeidung von (Zwangs-)Unterbringung anbietet.[6]

Von 1996 bis 2014 war die Hälfte der Mitarbeiter des Berliner Weglaufhauses selbst ehemals von Psychiatrisierung direkt betroffene Menschen.[7]

Psychiatriebetroffene waren von Beginn mit geringerer Dauer beinahe ausschließlich auf Honorarstellen beschäftigt. Seit März 2014 wird es mehrheitlich von professionellen, nicht-betroffenen Sozialarbeitern und -pädagogen geführt. Der Widerspruch, der dem Konzept des Berliner Weglaufhauses innewohnt, sowohl den Anforderungen des psychiatrischen Systems an pädagogische Ziele (Reedukation) und dem politischen Ziel der ursprünglichen Bewegung (Selbstbestimmung) nachzukommen, hat sich einseitig aufgelöst: Der Anspruch, die lebensweltlichen Erfahrungen der Psychiatriebetroffenen in eine Methode antipsychiatrischer Praxis aufzunehmen, wurde durch die Systemimperative des psychiatrischen System kommodifiziert; was angesichts der Ursprünge der Bewegung – in der materialistischen Kritik der „abstrakten Arbeit“ – eine kritische Reflexion des Zustandes einer zweckrational und ökonomisiert orientierten Sozialarbeit eröffnen würde. Statt sich in der Tradition der Anti-Psychiatrie selbstkritisch diesem gesellschaftlichen Widerspruch zu öffnen, stellt das Weglaufhaus diese Situation weiterhin pragmatisch als „eine temporäre Notlösung“ dar, die daraus resultiere, dass „nicht genügend Bewerbungen von professionellen Sozialarbeitern und -pädagogen mit Psychiatrieerfahrung eingegangen waren und der Betrieb des Weglaufhauses ohne Personal nicht aufrechterhalten werden konnte“.

In Bochum hatte sich 1994 eine Weglaufhaus-Initiative Ruhrgebiet gebildet, die den Aufbau einer Einrichtung nach dem Vorbild der Villa Stöckle plante, diese Idee aber später verwarf. Der Verein verfolgt heute die grundsätzlichen Ziele von Psychatriealternativen weiter, ohne ein tatsächliches Weglaufhaus zu etablieren.[8] Im Juni 2005 entstand mit dem Verein Hilfe zur Selbsthilfe in seelischen Krisen Saarland eine weitere Initiative für ein Weglaufhaus in Saarbrücken.[9]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Festschrift. 10 Jahre Weglaufhaus Villa Stöckle. (PDF; 428 kB) Weglaufhaus Berlin, S. 3, archiviert vom Original am 5. Februar 2009; abgerufen am 22. April 2014. Siehe auch Wehde: Das Weglaufhaus (1991) mit einer Darstellung der Gekkenbeweging
  2. Jan Steyaert: 1971. Jan Foudraine: wie is van hout? canonsociaalwerk.nl, 20. Juni 2009, abgerufen am 22. April 2014 (niederländisch).
  3. Festschrift. 10 Jahre Weglaufhaus Villa Stöckle. (PDF; 428 kB) Weglaufhaus Berlin, S. 4, archiviert vom Original am 5. Februar 2009; abgerufen am 22. April 2014.
  4. Peter Lehmann: “Zum Davonlaufen. Wie die Weglaufhausgruppe entstand”, in: Kerstin Kempker (Hrsg.): Flucht in die Wirklichkeit – Das Berliner Weglaufhaus, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1998, S. 30–37; dort auch Darstellung des Streits in der sog. Weglaufhausgruppe.
  5. Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. berlin.de, abgerufen am 22. April 2014.
  6. Einzelfallhilfe Support (Memento vom 17. November 2007 im Internet Archive), dort auch das Konzept des Projekts als PDF, abgerufen am 5. November 2007.
  7. Petra Hartmann & Stefan Bräunling: “Gemeinsam(e) Stärke finden – Das Berliner Weglaufhaus”. In: Peter Lehmann & Peter Stastny (Hg.), Statt Psychiatrie 2, aktualisierte E-Book-Ausgabe, Berlin / Shrewsbury 2018, S. 195–207. S. 204. (Online, abgerufen am 6. Januar 2020.
  8. wiriniruhr.de, dort im Abschnitt "Infos - Die Idee", abgerufen am 20. Mai 2021.
  9. weglaufhaus-saar.de (Memento vom 6. Oktober 2007 im Internet Archive), dort auch Gründungsprotokoll (Memento vom 6. Oktober 2007 im Internet Archive) (PDF), abgerufen am 5. November 2007.

Literatur

  • Petra Hartmann & Stefan Bräunling: “Gemeinsam(e) Stärke finden – Das Berliner Weglaufhaus”. In: Peter Lehmann & Peter Stastny (Hg.), Statt Psychiatrie 2 (S. 195–207). Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, Berlin / Eugene / Shrewsbury 2007, ISBN 978-3-925931-38-3; aktualisierte E-Book-Ausgaben 2018, ISBN 978-3-925931-46-8, ISBN 978-3-925931-47-5, ISBN 978-3-925931-58-1
  • Petra Hartmann & Stefan Bräunling: “Finding common strength together: The Berlin Runaway House”. In: Peter Stastny & Peter Lehmann (Hg.), Alternatives beyond psychiatry (S. 188–199). Peter Lehmann Publishing, Berlin / Eugene / Shrewsbury 2007, ISBN 978-0-9545428-1-8 (UK), ISBN 978-0-9788399-1-8 (USA); aktualisierte E-Book-Ausgaben 2018, ISBN 978-0-9545428-3-2, ISBN 978-0-9545428-4-9, ISBN 978-3-925931-57-4
  • Petra Hartmann & Stefan Bräunling: “ΤΟ ΣΠΙΤΙ ΦΥΓΗΣ ΤΟΥ ΒΕΡΟΛΙΝΟΥ. Αναζητώντας κοινές δυνάμεις”. In: Peter Lehmann, Peter Stastny & Anna Emmanouelidou (Hg.), Αντί της ψυχιατρικής. Η φροντίδα του ψυχικού πόνου έξω από την ψυχιατρική (S. 161–175). Edition Nissides, Thessaloniki 2012, ISBN 978-960-9488-26-6
  • Kerstin Kempker: “Absetzen im Weglaufhaus”. In: Peter Lehmann (Hg.), Psychopharmaka absetzen – Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern (S. 283–286). 4., aktualisierte und erweiterte Auflage. Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, Berlin / Eugene / Shrewsbury 2013, ISBN 978-3-925931-27-7. Aktualisierte E-Book-Ausgaben 2018, ISBN 978-3-925931-50-5, ISBN 978-3-925931-51-2, ISBN 978-3-925931-56-7
  • Kerstin Kempker: “Withdrawing from psychiatric drugs in the Runaway-House”. In: Peter Lehmann (Hg.), Coming off psychiatric drugs: Successful withdrawal from neuroleptics, antidepressants, lithium, carbamazepine and tranquilizers (S. 270–272). Peter Lehmann Publishing, Berlin / Eugene / Shrewsbury 2004, ISBN 978-0-9545428-0-1 (UK), ISBN 978-0-9788399-0-1 (USA); aktualisierte E-Book-Ausgaben 2018, ISBN 978-0-9545428-5-6, ISBN 978-0-9545428-6-3, ISBN 978-3-925931-55-0
  • Kerstin Kempker: “Retirarse de las drogas psiquiátricas en la Casa de escape”. In: Peter Lehmann / Salam Gómez (Hg.), Dejando los medicamentos psiquiátricos – Estrategias y vivencias para la retirada exitosa de antipsicóticos, antidepresivos, estabilizadores del ánimo, psicoestimulantes y tranquilizantes. E-Books. Peter Lehmann Editorial, Berlin / Shrewsbury 2018, ISBN 978-3-925931-52-9, ISBN 978-3-925931-53-6, ISBN 978-3-925931-80-2
  • Kerstin Kempker: “Σταματώντας τα ψυχοφάρμακα στο Σπίτι Φυγής”. In: Peter Lehmann / Anna Emmanouelidou (Hg.), Βγαί νοντας από τα ψυχοφάρμακα – Εμπειρίες επιτυχημένης διακοπής νευρολη πτικώ ν, αντικατα θλιπτικών, λιθίου, καρβαμαζεπίν ης και αγχολυτικών (S. 241–244). 2., überarbeitete Auflage. Edition Nissides, Thessaloniki 2014, ISBN 978-960-8263-81-9
  • Kerstin Kempker: Arrêter la prise des psychotropes dans la ‘Maison de la fuite‘. In: Peter Lehmann (Hg.), Psychotropes, Réussir son Sevrage – Se désaccoutumer avec succès des neuroleptiques, antidéprésseurs, thymorégulateurs, psychostimulants et tranquilisants. Editions Résurgence (Marco Pietteur), Embourg, Belgique 2018, S. 188–190, ISBN 978-2-87434-170-0
  • Kerstin Kempker (Hg.), Flucht in die Wirklichkeit – Das Berliner Weglaufhaus. Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, Berlin 1998, ISBN 978-3-925931-13-0.
  • Uta Wehde, Das Weglaufhaus – Zufluchtsort für Psychiatrie-Betroffene. Erfahrungen, Konzeptionen, Probleme. Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, Berlin 1991, ISBN 978-3-925931-05-5.