Wasserspeier

Hellenistische Gargouille, Ai Khanoum, Afghanistan, 2. Jh. v. Chr.
Wasserspeier an der Kathedrale Notre-Dame de Paris
Moderner Wasserspeier mit Brille, Kathedrale von Chichester
Wasserspeier mit gut sichtbarem Wasserkanal auf Sacré-Cœur, Paris

Wasserspeier sind architektonische Elemente – zumeist Rohre oder Rinnen – zur Wasserableitung an den Traufrinnen der Dächer. In ihrer einfachen Form werden sie auch Ablaufrinne, Abtraufe oder Ansetztraufe genannt.[1] Durch Wasserspeier schießt das gesammelte Regenwasser der Traufen in einem Bogen vom Gebäude weg und wird so daran gehindert, in das Mauerwerk und das Fundament einzudringen. Häufig sind sie figürlich gebildet und stellen – meist phantastische – Tierformen dar. Die französische Bezeichnung für Wasserspeier ist Gargouille, ins Englische als Gargoyle übernommen, verwandt mit dem deutschen „gurgeln“.

Figürlich gestaltete Wasserspeier gehören ebenso wie Konsolfiguren oder die Monstrositäten an den Miserikordien zur (Gegen-)Welt des Grotesken in der Kunst.

Entwicklung und Formensprache

Antike

Wasserspeier in der Gestalt des von HR Giger entworfenen Alien-Monsters an der schottischen Paisley Abbey.[2]

Während an antiken Gebäuden das Wasser anfangs oft am Traufrand in voller Breite herabfiel, wurde es seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. in der Regel in einer durch die Sima gebildeten Rinne gesammelt und über gleichmäßig verteilte Wasserspeier abgeführt. Zunächst in Form einfacher tönerner Röhren gestaltet, haben diese seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. meist die Form von Löwenköpfen, seltener von Hundeköpfen; sie können aber auch Theatermasken und ähnliche groteske Wesen darstellen. Die Wasserspeier der Antike standen oft in vertikalem Bezug zu anderen Bauteilen, konnten also zum Beispiel mit den Voluten der ionischen Kapitelle korrespondieren.

Mittelalter

Bereits in der Romanik und später in der Gotik und Renaissance verwendete man, besonders bei größeren Kirchengebäuden, häufig dämonische Gestalten oder Tiere in einer symbolischen Bedeutung. Da sie sich als Wasserspeier ausschließlich an der Außenfassade der Kirchen und niemals innen befinden, symbolisieren sie den Einfluss des Teufels auf die irdische Welt, der in Kontrast zur Reinheit des Himmelreiches – symbolisiert durch das Innere der Kirche – steht. Diese wasserspeienden Wesen werden Gargoyles genannt und haben den Ruf, Beschützer zu sein. Ihr dämonisches oder groteskes Aussehen soll den Geistern und Dämonen einen Spiegel vorhalten, sie vergraulen und somit Kirchen und Klöster, manchmal auch Burgen und Wohnhäuser vor bösen Mächten schützen – sie haben folglich eine unheilabwehrende (apotropäische) Bedeutung. Gargoyles werden oft mit animalischem Körper und Gesicht dargestellt, seltener mit menschenähnlichem Körper und dämonischen Gesichtszügen. Häufig haben sie Schwingen, mit denen sie aber laut Mythologie nicht fliegen, sondern nur gleiten können. Abseits des symbolischen Gehalts der Darstellungen wurden jedoch auch humoristische Darstellungen ausgeführt, so genannte Drolerien.

An der Kathedrale von Laon entstanden um die Jahre 1220/1230 die wohl ältesten Beispiele figürlicher Wasserspeier, denen die Gargouilles von Notre-Dame in Paris im späten 13. bis frühen 14. Jahrhundert folgten. Die bizarren, schrecklichen und manchmal grotesken tierischen Formen der früh- und hochgotischen Wasserspeier wurden ab dem 13. Jahrhundert zunehmend durch menschenähnliche Gestalten abgelöst, die im 15. Jahrhundert auch ihren unheilabweisenden Ausdruck verloren. Ähnlich der abgebildeten Maske des hellenistischen Wasserspeiers kamen wieder belustigende Gesichtsausdrücke zur Darstellung.

Aus dieser Zeit sind auch Wasserspeier erhalten, die der verächtlichen Darstellung des Judentums dienen (vgl. Judensau).[3]

Neben steinernen Wasserspeiern gab es seit dem 16. Jahrhundert auch solche aus Metall.

Neuzeit

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verloren die Wasserspeier zunehmend ihre Funktion, da man dazu überging, das Regenwasser in Fallrohren vom Dach wegzuführen. Mit dem Historismus des späten 19. Jahrhunderts kam es zu einer letzten kurzen Blüte des mittelalterlichen Wasserspeiers. Seit dem 20. Jahrhundert wird er in schmuckloser, einfacher Form als Röhre oder Rinne nur mehr „Ablaufrinne“, „Abtraufe“ oder „Ansetztraufe“ genannt. Bei modernen Flachdachgebäuden ist er generell als Notüberlauf zu finden, um eine Überlastung des Daches bei verstopften Regenabläufen zu verhindern.

Im Zweiten Weltkrieg wurden durch die Kriegsmarine an deren baueigenen Truppenhochbunkern in Wilhelmshaven Wasserspeier an den Dachecken angesetzt. Eigentlich waren aufgrund der reinen Zweckmäßigkeit der Kriegsmarinebunker diese zierenden Details verboten, jedoch wurden sie an diesen Typbunkern in Wilhelmshaven dennoch verwirklicht.

Siehe auch

Bildbeispiele

Gargouille und Gargoyle außerhalb des Bauwesens

Über das Englische hat der Begriff als Gargoyle durch die Verwendung in der Fantasy-Literatur und Computerspielen auch in den deutschen Sprachgebrauch Einzug gefunden. Dort beschreibt er in der Regel magische, chimären- oder neidkopfähnliche geflügelte Wesen, die tagsüber Steinstatuen sind, bei Sonnenuntergang zum Leben erwachen und bei Sonnenaufgang wieder zu Stein werden.[4] Beispiele sind die Zeichentrickserie Gargoyles von Disney, die Ultima-Rollenspielserie von Richard Garriott und die Scheibenwelt-Romane von Terry Pratchett sowie einzelne Romane von Vickie Taylor, Mary Gentle, Andrew Davidson, Meredith Ann Pierce, aber auch die Harry-Potter-Romanserie von Joanne K. Rowling.

Gargoyles sind auch gern genutzte „Monster“ in B-Movie-Horrorfilmen, in denen sie, im Gegensatz zu ihrem Wesen in anderen Mythologien, als böse dargestellt werden. Beispiele hierfür sind die Filme Gargoyles (1972), Gargoyles – Flügel des Grauens (2004), Reign of the Gargoyles (2007) sowie Serien wie Special Unit 2, Geschichten aus der Gruft usw. In den Büchern der Codex-Alera-Serie von Jim Butcher werden sie als steinerne Beschützer geschildert, die alles in ihrer Macht tun, um den Schatz ihres Erschaffers zu schützen. Der einzige Nachteil bestehe darin, dass sie, wie oben erwähnt, nicht bei Tageslicht aktiv werden können, sondern nur bei Nacht.

Sonstiges

Moderne Gargouille als Wasserschlucker an einem Teich bei der Kurt-Tucholsky-Schule in Flensburg-Adelby
Menschlicher Wasserspeier (1926)

Als Wasserspeier bezeichneten sich selbst auch artistische Darsteller, die große Mengen an Flüssigkeit (meist Wasser, aber auch Bier ist überliefert[5]) zu sich nahmen und durch kontrolliertes Erbrechen in manchmal spektakulärer Weise von sich gaben.

Literatur

  • Regina E. G. Schymiczek: Mailands Monster / Milan’s Monsters. Wasserspeier und Grotesken in Mailand / Gargoyles and Grotesques in Milan. Books on Demand, 2010, ISBN 978-3-8391-8256-7.
  • Regina E. G. Schymiczek, Heribert Schulmeyer: Willibrord der Wasserspeier. Verlag Kölner Dom, Köln 2002, ISBN 3-922442-46-3.
  • John Boardman, José Dörig, Werner Fuchs, Max Hirmer: Die griechische Kunst. Hirmer Verlag, Sonderausgabe München 1992, S. ?.
  • Klaus Hardering, Klaus Maximilian Gierden, Matthias Deml: Wasserspeier des Kölner Domes. Kölner Domverlag, 2016, ISBN 978-3-922442-88-2.
  • Regina E. G. Schymiczek: Über deine Mauern, Jerusalem, habe ich Wächter bestellt… Zur Entwicklung der Wasserspeierformen am Kölner Dom. (= Europ. Hochschulschriften: Reihe 28, Kunstgeschichte, 402). Europ. Verlag der Wissenschaften, Frankfurt/M., Berlin, Bern, Brüssel, New York, Oxford, Wien 2004 (zugl. Diss. Bochum 2003), ISBN 3-631-52060-3.
  • Regina E. G. Schymiczek: Die Siegburger Wasserspeier und der Kölner Dom. Eine Analyse im Spiegel neuer Forschungsergebnisse. In: Heimatblätter des Rhein-Sieg-Kreises. 73. Jahrgang. Siegburg 2005, ISBN 3-938535-02-4.
  • Birgit Bergander: Wasserspeier am Ulmer Münster. Fotos: Marcellus Kaiser. C & S, Laupheim 2004, ISBN 3-937876-09-X.
  • Regina E. G. Schymiczek: Höllenbrut und Himmelswächter – Mittelalterliche Wasserspeier an Kirchen und Kathedralen. Mit einem Geleitwort von Barbara Schock-Werner. Verlag Schnell + Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-7954-1807-0.
  • Janetta Rebold Benton: Holy terrors: Gargoyles on Medieval Buildings. New York u. a. 1997.

Weblinks

Wiktionary: Wasserspeier – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Commons: Wasserspeier – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Quellen

  1. Hans Koepf: Bildwörterbuch der Architektur.
  2. 'Alien' gargoyle on ancient abbey. In: bbc.com. 23. August 2013, abgerufen am 4. Februar 2024 (englisch).
  3. Wolfram P. Kastner: Judensauskulpturen an deutschen Kirchen
  4. Gargoyle on Notre Dame Cathedral, France. In: Epoch Times
  5. Sauschlau & feuerfest: Menschen, Tiere, Sensationen des Showbusiness, Steinfresser, Feuerkönige, Gedankenleser, Entfesselungskünstler und andere Teufelskerle. Edition Volker Huber, Offenbach 1987.

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Vaudeville performer Hadji Ali demonstrating his skills of controlled regurgitation at Egyptian Legation, on March 27, 1926.
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Gargoyle, located on the south transept of Chichester Cathedral, depicting Clifford Hodgetts OBE (1934-2020)[1], solicitor (hence the wig) and former registrar to dean and chapter of the cathederal.[2] The pipe in his mouth clearly depicts the primary function of a gargoyle: a means of diverting rainwater from the masonary walls of the building.
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Wasserspeier an der Apsis des Wiener Stephansdomes
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Ai Khanoum gargoyle. Guimet Museum. Personal photograph 2006.
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A gargoyle on the Basilica of the Sacré Cœur, Paris showing the water channelGargoyle, Sacre Coeur, Paris.