Walter Schilling (Pfarrer)

Walter Schilling 2005

Walter Schilling (* 28. Februar 1930 in Sonneberg; † 29. Januar 2013 in Saalfeld/Saale) war ein deutscher evangelisch-lutherischer Pfarrer und Repräsentant der Kirche von Unten in der DDR.

Leben und Wirken

Walter Schilling wurde als Sohn eines Pfarrers der Bekennenden Kirche geboren. Als Jugendlicher wurde er Mitglied der Flieger-HJ.[1] Nach 1945 erhielt er in der Sowjetischen Besatzungszone keine Studienzulassung, daher absolvierte er ab 1950 in Münster und Heidelberg ein Theologie-Studium, das er 1955 in Jena mit dem Examen abschloss. Danach wurde er Vikar in Königsee und Braunsdorf und seit 1957 Kreisjugendpfarrer und Gemeindepfarrer der Thüringer Kirche in Braunsdorf-Dittrichshütte bei Saalfeld. Ab 1959 baute er ein kirchliches Jugendheim auf, dessen Leitung er fortan übernahm. Ab 1968 beteiligte er sich am praktischen Aufbau der Offenen sozialdiakonischen Jugendarbeit in Thüringen und war Ansprechpartner und Seelsorger für randständige Jugendliche, gab ihnen Raum und Gelegenheit zur Selbstfindung.

„Für Schilling waren die Jugendlichen Unruhestifter, die sich gegen staatliche und gesellschaftliche Bevormundung wandten und auch kirchliche Strukturen und religiöse Inhalte in Frage stellten. Seine Jugendarbeit verlangte keine religiösen Bekenntnisse, sondern schaute auf den Einzelnen und seine Fähigkeit zu eigenmächtigem Handeln.“

Henning Pietzsch: Rezension zu Lars Eisert-Bagemihl, Ulfrid Kleinert (Hrsg.): Zwischen sozialer Bewegung und kirchlichem Arbeitsfeld. Annäherung an die Offene Jugend(-)Arbeit.[2]

Er wurde von Beauftragten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) überwacht und geriet auch in Konflikte mit kirchlichen Behörden. So traute er u. a. den DDR-Oppositionellen Lothar Rochau und dessen erste Ehefrau.[3] 1974 wurde Schilling auf Betreiben des MfS als Leiter des Jugendheimes abgesetzt und die Einrichtung geschlossen.[4] Er wurde weiterhin überwacht, fand in den 1980er Jahren aber in Landesbischof Werner Leich einen Vertrauten und Beschützer.

Ehrhart Neubert schreibt Schilling eine „Schlüsselfunktion in der gesamten DDR“ zu. In einem taz-Artikel heißt es dazu weiter: „Die unter Schillings Schutz bietendem Jenaer Kirchendach versammelten jungen Oppositionellen seien die Keimzelle der DDR-Opposition gewesen.“[5]

Schilling gilt als maßgeblicher Inspirator, Organisator und Repräsentant der aus der Offenen Arbeit hervorgegangenen Kirche von Unten, zu deren theologischem Begleiter er 1989 durch die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg berufen wurde. Danach befragt, was er im Oktober 1989 während der Wendetage in der Gethsemane-Kirche von Berlin erlebt habe, sagte er:

„Das war, als auch der Herr Fink, Rektor der Humboldt-Uni, Dresche kriegte. Alle Eingeweihten in Berlin haben gesagt: ‚Endlich hat der mal den Wanst vollgekriegt, der rosa Kerl!‘ Wußte doch jeder, daß der rosa ist und ein Kompromißtyp, wie er im Buche steht.“[6]

Nach den Übergriffen der Volkspolizei auf Teilnehmer der friedlichen Demonstrationen am 7./8. Oktober 1989 in Berlin wurde ein Unabhängiger Untersuchungsausschuss gebildet, in dem Schilling mitarbeitete.

Die Öffnung der Mauer beschrieb Schilling retrospektiv als einen Tag des Scheiterns der DDR-Opposition:

„Der 9. November [1989] war für mich ne Enttäuschung. Ich hab auf meinem Balkon gestanden. Die anderen waren alle aus unserem Kontaktbüro [der Kirche von Unten] verschwunden, ich hab meinen Telefondienst zu Ende gemacht. Und die verschwanden alle nach Westberlin. Da bin ich heim und hab’ gedacht: Das war’s nun. Jetzt werden se ALLE nach’m Westen rennen. Ich hatte erst gedacht, ich lege ein Trauerjahr ein und dann muss es ja gut sein, dann werd’ ich mich auf die neue Zeit einstellen und so. Das ist mir nicht gelungen.“[7]

Nach der friedlichen Revolution in der DDR verließ Schilling Berlin und übernahm erneut die Leitung des Heimes für Offene Arbeit in Braunsdorf. In den 1990er-Jahren beteiligte er sich an der Aufarbeitung der Rolle der evangelischen Kirche im Herrschaftssystem der DDR. Er enttarnte Kirchenmitarbeiter, die mit dem MfS zusammengearbeitet hatten, und brachte sie bei der Kirchenbehörde zur Anzeige.[8] Der Landeskirchenrat bestellte ihn zum Sachverständigen in verschiedenen Anhörungs- und Amtszuchtverfahren gegen betroffene kirchliche Mitarbeiter.[6]

Schilling befand sich seit 1994 im Ruhestand und lebte in Dittrichshütte. 1995 erhielt er den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar für seinen Widerstand gegen die Missachtung der Menschenrechte in einer Diktatur. „Walter Schilling war innerhalb der Oppositionsbewegung der ehemaligen DDR eine der Persönlichkeiten, die sich furchtlos für die Menschenrechte engagiert haben“, hieß es in der Begründung.[9]

Ende 2001 trat er als Unterzeichner einer Stellungnahme ehemaliger DDR-Oppositioneller auf die Neujahrsansprache 2002 von Bundeskanzler Gerhard Schröder unter dem Titel Wir haben es satt[10] letztmals in der überregionalen Öffentlichkeit in Erscheinung.

Sonstiges

Im Thüringer Archiv für Zeitgeschichte Matthias Domaschk (ThürAZ) in Jena, einem unabhängigen Spezialarchiv zur Thematik Opposition/Widerstand/Zivilcourage in der DDR, befinden sich Privatbestände Schillings aus dem Zeitraum von 1951 bis 1998. Ein Kernstück dieser Sammlung „sind die zahlreichen handschriftlichen Notizen und Manuskripte, Konzepte und Referate, Briefe, Aufzeichnungen und Statistiken aus Einsichten in Akten des MfS.“[11]

2013 wurde ein Lied namens „Antagonized“ über Schilling von der aus Saalfeld stammenden Metalband Heaven Shall Burn auf ihrem Album „Veto“ veröffentlicht.

Schriften

  • Die „Bearbeitung“ der Landeskirche Thüringen durch das MfS. In: Clemens Vollnhals: Die Kirchenpolitik von MfS und Staatssicherheit. Christoph Links Verlag, Berlin 1996, ISBN 3-86153-122-4, S. 211–266.

Literatur

  • Philipp Mosch: Losgehen und Ankommen – Erinnerung an JUNE 78. Jugendaufbruch im thüringischen Rudolstadt. In: Gerbergasse 18. Heft 14. Jena 1999.
  • Lars Eisert-Bagemihl, Ulfrid Kleinert (Hrsg.): Zwischen sozialer Bewegung und kirchlichem Arbeitsfeld. Annäherung an die Offene Jugend(-)Arbeit. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2002, ISBN 3-374-01946-3.
  • Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989. 2., durchges. und erw. Auflage. Links, Bonn 2000, ISBN 3-86153-163-1 (Zugl.: Berlin, Freie Univ., veränd. Diss., 1997).
  • Ehrhart Neubert: Schilling, Walter. In: Wer war wer in der DDR? 5. Ausgabe. Band 2. Ch. Links, Berlin 2010, ISBN 978-3-86153-561-4.
  • Andreas Dornheim, Stephan Schnitzler (Hrsg.): Thüringen 1989/90. Akteure des Umbruchs berichten (= Thüringen gestern & heute. Band 1). Landeszentrale für politische Bildung, Erfurt 1995, ISBN 3-931426-00-9 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  • Uwe Koch: Wie offen darf’s sein? Erinnerungen an die Offene Arbeit in der DDR – und an Walter Schilling. In: Gerbergasse 18. Heft 66, Jena 2013, S. 11–13.
  • Heinz Voigt: Gelebte christliche Nächstenliebe und Aufforderung zum sozialen Handeln. Zum Tod des Braunsdorfer Pfarrers Walter Schilling. In: Gerbergasse 18. Heft 66, Jena 2013, S. 3–9.
  • Philipp Mosch: Trau dir selbst und anderen etwas zu. Im Blickpunkt: Pfarrer Walter Schilling und die Offene Arbeit in Thüringen. In: Gerbergasse 18. Heft 4, Jena 1997. Nachgedruckt in: Horch und Guck. Heft 25. Berlin 1999.
  • Clemens Vollnhals (Hrsg.): Die Kirchenpolitik von MfS und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz – Analysen und Dokumente. Christoph Links Verlag, Berlin 1996, ISBN 3-86153-122-4.
  • Gerold Hildebrand: Walter Schilling. In: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hrsg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Robert-Havemann-Gesellschaft, Berlin 2006, ISBN 3-938857-02-1 (leicht aktualisierte Version (Memento vom 13. April 2013 im Webarchiv archive.today) (Memento im Internet Archive) auf der Website von Horch und Guck. 2013).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Walter Schilling: Die 68er Insel im „Roten Meer“ – Braunsdorf (Interview von Andreas Dornheim). In: Andreas Dornheim, Stephan Schnitzler (Hrsg.): Thüringen 1989/90. Akteure des Umbruchs berichten. Landeszentrale für politische Bildung, Erfurt 1995, S. 193–210, hier: S. 205.
  2. Henning Pietzsch: Nur für den innerkirchlichen Gebrauch? Rezension Bagemihl/Kleinert (= Horch und Guck. Heft 41). 2003 (Nur für den innerkirchlichen Gebrauch? Rezension Bagemihl/Kleinert (Memento vom 23. März 2007 im Internet Archive) [abgerufen am 16. Januar 2018]).
  3. Lothar Rochau u. a. Marathon mit Mauern. Mein deutsch-deutsches Leben. Autobiografie (Hrsg. von der Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Sachsen-Anhalt), Mitteldeutscher Verlag 2021, ISBN 978-3-96311-443-4. S. 56f
  4. Walter Schilling. In: jugendopposition.de, abgerufen am 15. Januar 2018.
    Kirche und Opposition. In: Jugendopposition in der DDR. 8. April 2006, abgerufen am 15. Januar 2018 (letzte Änderung: Oktober 2017).
  5. Kai Schlieter: Ein Tod in der DDR. In: die tageszeitung. 8. April 2006, abgerufen am 15. Januar 2018.
  6. a b Walter Schilling: Die 68er Insel im „Roten Meer“ – Braunsdorf (Interview von Andreas Dornheim). In: Andreas Dornheim, Stephan Schnitzler (Hrsg.): Thüringen 1989/90. Akteure des Umbruchs berichten. Landeszentrale für politische Bildung, Erfurt 1995, S. 193–210, hier: S. 206.
  7. Nina Gühlstorff, Jens-Uwe Fischer: Ein Ge/Denkzeichen für/von Walter Schilling (28.2.1930-29.1.2013). Denkzeichen XXXI. In: volksbuehne.adk.de. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 14. Februar 2013, abgerufen am 6. November 2019.
  8. Die „Bearbeitung“ der Landeskirche Thüringen durch das MfS. In: Clemens Vollnhals: Die Kirchenpolitik von MfS und Staatssicherheit. Christoph Links Verlag, Berlin 1996, ISBN 3-86153-122-4, S. 211–266
  9. Menschenrechtspreis der Stadt Weimar. Preisträger 1995. Pfarrer a. D. Walter Schilling | Deutschland. In: menschenrechtspreis.de. Ausländerbeauftragter der Stadt Weimar, 12. Mai 2016, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 12. Mai 2016; abgerufen am 15. Januar 2018 (Artikelanfang).
  10. Wir haben es satt. Die passende Antwort auf des Kanzlers Neujahrs-Ansprache. Netzwerk Regenbogen, 1. Januar 2002, abgerufen am 15. Januar 2018 (erstveröffentlicht am 13. Dezember 2001).
  11. Vor- u. Nachlässe: Schilling, Walter. In: Thüringer Archiv für Zeitgeschichte. Künstler für Andere e. V., archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 12. April 2013; abgerufen am 16. Januar 2018.

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