Victor Capesius

Victor Capesius (* 7. Februar 1907 in Reußmarkt, Siebenbürgen, Österreich-Ungarn; † 20. März 1985 in Göppingen) war ein Apotheker, der als SS-Führer die Lagerapotheke im KZ Dachau und dem KZ Auschwitz leitete. Capesius war im KZ Auschwitz an Kriegsverbrechen beteiligt und wurde 1965 im 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt.

Kindheit, Ausbildung

Capesius wurde in Reußmarkt, dem heutigen Miercurea Sibiului in Siebenbürgen als Sohn eines Arztes und Apothekers geboren. Er besuchte das deutsche Gymnasium in Hermannstadt und begann nach dem 1924 bestandenen Abitur an der Universität Klausenburg ein Pharmaziestudium, das er an der Universität Wien erfolgreich abschloss. Danach leistete er 1931 seinen einjährigen Militärdienst als Hauptmann im rumänischen Heer ab und promovierte 1933 zum Dr. pharm.

Berufsleben, 1934–1940

Ab 1934 arbeitete er als Handelsvertreter der I.G. Farben und lernte in dieser Funktion viele Praxen und Apotheken in Rumänien kennen.

Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Capesius 1940 ins rumänische Heer einberufen und leitete im Range eines Hauptmanns die Spitalapotheke an einem Armeestandort.

SS-Karriere, 1943–1945

Als „Volksdeutscher“ wurde Capesius 1943 zur Wehrmacht eingezogen und bald darauf zur Waffen-SS überstellt. Im selben Jahr folgte seine Ausbildung im Zentralsanitätslager der SS in Warschau. Im September 1943 wurde er ins KZ Dachau versetzt, wo er bis Februar 1944 die Lagerapotheke leitete.

Im Februar 1944 wechselte Capesius zum größten deutschen Vernichtungslager, dem KZ Auschwitz, wo er in der Nachfolge von Adolf Krömer bis zur Evakuierung des Lagers im Januar 1945 die KZ-Apotheke leitete. Dabei übersah er unter anderem die Beschaffung und die Anwendung von Zyklon B, an dessen Produktion sein alter Arbeitgeber, die I.G. Farben, durch Teilhabe an der Firma Degesch beteiligt war. Er arbeitete eng mit Josef Mengele zusammen, der menschenverachtende medizinische Experimente an Häftlingen durchführte. Capesius war auch an der Selektion von Häftlingen für die Gaskammer persönlich beteiligt. Er war auch persönlich an Selektionen beteiligt.[1] Im November 1944 stieg er zum SS-Sturmbannführer auf.

Capesius bereicherte sich an persönlichen Schmuckstücken und herausgebrochenen Zähnen seiner Opfer. Das dabei gewonnene Gold nutzte er als Startkapital für seine spätere unternehmerische Karriere.

„Auf Grund zahlreicher Zeugenaussagen konnte ihm nachgewiesen werden, dass sich der ‚unschuldige‘ Apotheker in unsagbar dreister Weise an den ermordeten Häftlingen in Auschwitz bereicherte, indem er vor allem das Zahngold, das Häftlingsärzte den vergasten Menschen aus den Kiefern herausreißen mussten, regelmäßig ‚in das Reich‘ transportieren ließ. Mit dem Erlös aus dem Zahngold und anderen Wertsachen baute er sich seine Nachkriegs-Existenz auf.“

Wolfgang Schlott[2]

Nachkriegszeit, 1945–1959

Nach der Befreiung des Lagers tauchte er unter und geriet bei Kriegsende in Schleswig-Holstein in britische Kriegsgefangenschaft, aus der er nach einem Jahr entlassen wurde. 1946 begann er an der Universität Stuttgart ein Studium der Elektrotechnik. Bei einem Besuch in München wurde Capesius 1946 von dem ehemaligen Auschwitzhäftling Leon Czekalski erkannt.[3] Daraufhin wurde er von der amerikanischen Militärpolizei verhaftet und kam in die Internierungslager Dachau und Flak-Kaserne Ludwigsburg. Im August 1947 wurde Capesius aus dem Internierungslager entlassen, da die zuständigen amerikanischen Behörden ihm keine Straftaten nachweisen konnten.

Er arbeitete danach zunächst in einer Stuttgarter Apotheke als Angestellter. Im selben Jahr wurde er im von der Spruchkammer Stuttgart durchgeführten Entnazifizierungsverfahren am 9. Oktober 1947 als "durch das Gesetz nicht belastet" eingestuft.[4] Im Oktober 1950 eröffnete der 43-Jährige in Göppingen die Marktapotheke und zusätzlich noch einen Kosmetikladen in Reutlingen. Er lebte bis 1959 unbehelligt in beträchtlichem Wohlstand.

Inhaftierung 1959–1968

Anfang Dezember 1959 wurde Capesius in Göppingen festgenommen und saß bis 1965 in Untersuchungshaft. Am 20. August 1965 wurde er im 1. Auschwitz-Prozess vom Landgericht Frankfurt am Main wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in vier Fällen an jeweils mindestens 2000 Menschen zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt.

Ruhestand in Freiheit, 1968–1985

Im Januar 1968 (nach insgesamt 8 Jahren) wurde er aus der Haft entlassen. Er besuchte noch am Tag seiner Entlassung ein Stadtkonzert und wurde dort mit Beifall begrüßt.[5]

Am 20. März 1985 starb Capesius im Alter von 78 Jahren in Göppingen eines natürlichen Todes. Er hinterließ seine Frau und drei Töchter.

Literatur

  • Werner Renz: Der Apotheker Victor Capesius und die Selektionen in Auschwitz-Birkenau, in: Wolfgang Proske (Hrsg.): NS-Belastete aus dem östlichen Württemberg (= Täter – Helfer – Trittbrettfahrer. Band 3). 2., durchgesehene Auflage. Kugelberg, Gerstetten 2014, ISBN 978-3-945893-02-9, S. 65–73.
  • Paul Milata: Zwischen Hitler, Stalin und Antonescu. Rumäniendeutsche in der Waffen-SS. Böhlau, Köln 2007, ISBN 978-3-412-13806-6.
  • Dieter Schlesak: Capesius, der Auschwitzapotheker. Dietz, Bonn 2006, ISBN 3-8012-0369-7.
  • Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945? S. Fischer, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-10-039309-0.
  • Hermann Langbein: Menschen in Auschwitz. Ullstein, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1980, ISBN 3-548-33014-2.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Paula Rosenberg: Zeugin Paula Rosenberg, 92. Verhandlungstag, 24. Sept. 1964, 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess, »Strafsache gegen Mulka u.a.«, 4 Ks 2/63, Landgericht Frankfurt am Main. Fritz-Bauer-Institut. 24. September 1964. Abgerufen am 5. April 2021: „Und wir wollten auch im Lager dort zusammenbleiben. Als wir aus den Zügen raus mussten, da haben wir uns aneinander gehalten. Ja, und da standen die SS so über der ganzen Lagerstraße verteilt, und sie machten nur eine Handbewegung, also rechts und links. Und das bedeutete entweder den Tod oder ins Lager selbst. Meine Mutter sollte auf die andere Seite gehen, und da habe ich mich an sie geklammert und habe gerufen, ich möchte bei meiner Mutter bleiben. [...] Wir gingen dann ins Lager und mußten uns dann entkleiden. Dann kamen mehrere SS-Offiziere durch den Raum, und ich sagte zu einem Häftling, zu einer Frau, die damit beschäftigt war, diese Sachen fortzuschaffen: »Wer ist das?« Weil das der Offizier war, der meine Mutter auf die andere Seite geschickt hat. Und mir wurde gesagt: »Das ist Capesius, der Apotheker.« [...] Er hat ausgesucht, wer ins Lager geht und wer ins Gas geht.“
  2. Wolfgang Schlott, Universität Bremen, im „Deutschland-Archiv“, bei http://www.dieterschlesak.de/auschwitzapotheker.html (Memento vom 27. September 2008 im Internet Archive)
  3. Tonbandmitschnitte des Auschwitz-Prozesses (1963–1965): Zeuge Leon Czekalski (Tomaszow/Polen), Friseur, 44 Jahre, 4 Ks 2/63, Bd. 105, Anlage 1 zum Protokoll vom 30. Dezember 1964.
  4. Siehe Verfahrensakten (Weblinks).
  5. Biografie und Bild von Capesius auf www.auschwitz-prozess-frankfurt.de