Veza Canetti

Veza Canetti (geboren am 21. November 1897 in Wien, Österreich-Ungarn als Venetiana Taubner-Calderon; gestorben 1. Mai 1963 in London) war eine österreichische Schriftstellerin und Übersetzerin. Ihre Kurzgeschichten erschienen teilweise zu Lebzeiten in der Wiener Arbeiter-Zeitung und Neuen Freien Presse, jedoch nicht in gebundener Form. Auch schrieb Canetti Theaterstücke. Basierend auf ihrer Korrespondenz und Eigenaussagen wird spekuliert, dass einige ihrer nie veröffentlichten Werke von ihr selbst vernichtet wurden. Erst nach dem Tod ihres Mannes Elias Canetti, der sie posthum zur Mitautorin von Masse und Macht erklärte,[1] erschienen ihre Kurzgeschichten in zwei Bänden Die gelbe Straße und Geduld bringt Rosen sowie ihr einziger Roman, Die Schildkröten, als Druck im Fischer Taschenbuch Verlag.

Leben

Venetiana Taubner-Calderon war die Tochter einer sephardischen Mutter und eines ungarisch-jüdischen Vaters, die zunächst in der Leopoldstadt, dem 2. Wiener Bezirk, in der Ferdinandstraße lebte. Diese solle ihr später als Inspiration für die Kurzgeschichten des Bandes Die gelbe Straße gedient haben. Nach dem Ersten Weltkrieg war die hoch begabte Literaturkennerin zunächst als Englischlehrerin und Übersetzerin tätig.[2] 1924 begegnete sie dem späteren Literaturnobelpreisträger Elias Canetti, den sie 1934 heiratete.

Veza Canetti gehörte zum engeren Kreis um Karl Kraus, stand aber gleichzeitig dem Austromarxismus nahe. In der Wiener Arbeiter-Zeitung erschien im November 1933 ihre Erzählung Der Kanal.[3] Veza Canetti publizierte im Malik-Verlag[4] und in Exilzeitschriften unter den Pseudonymen Veronika Knecht, Martha Murner, Martina Murner und Veza Magd. Unter letzterem Pseudonym erschienen ihre Übersetzungen aus dem Englischen. Ernst Fischer habe den Kontakt zum Malik-Verlag hergestellt.[5]

Ihre eigenen Romane fanden zu ihren Lebzeiten keinen Verleger; die Manuskripte zu einem Roman über Kaspar Hauser und zum Thema „Die Genießer“ hat sie zerstört. Der erhaltene Roman Die Schildkröten ist autobiographisch geprägt und verarbeitet ihre Flucht nach England.

Über Jahrzehnte hinweg war Veza Canetti die literarische Ratgeberin ihres Mannes, dessen Werke sie im Exil lektorierte. Inwieweit dieser ihre eigene literarische Tätigkeit gefördert hat, ist umstritten. Als Germanisten in den 1980er Jahren auf das schmale publizierte Werk Veza Canettis aufmerksam wurden, behauptete Elias Canetti, seine (um acht Jahre ältere) Gattin habe, durch ihn angeregt, 1931 zu schreiben begonnen, und gab ab 1990 einige Manuskripte aus ihrem Nachlass zur Publikation frei – in seiner dreibändigen Autobiografie ist allerdings von Vezas eigener schriftstellerischer Arbeit nicht die Rede. In seinem Nachlass befinden sich Entwürfe zu Kapiteln dieses Werkes, in denen er ausführlich auf ihre literarische Tätigkeit eingeht. Er meinte letztendlich ihr Schreiben nicht besprechen zu können, ohne sie als gescheitert darzustellen, was er unbedingt zu vermeiden suchte. Das Verhältnis Vezas zu ihrem erst nach ihrem Tod berühmt gewordenen Mann gilt als ein schwieriges, nicht zuletzt wegen seiner häufigen und intensiven Beziehungen zu anderen Frauen. Mit jenen war sie jedoch oftmals, wie auch im Falle der Künstlerin Anna Mahler, befreundet.[6] Zudem kam Diskussion darüber auf, ob er Veza zu Abtreibungen genötigt habe.[7]

Veza Canetti hatte keinen linken Unterarm, was für sie mitunter Grund gewesen sei, gesellschaftliche Treffen, zu denen ihr Mann und sie eingeladen wurden, aus Scham zu meiden.[8]

Veza Canetti starb 1963 in London, wo sie und ihr Mann seit dem „Anschluss Österreichs“ 1938 lebten. Zu ihrem Freundeskreis im Exil gehörten auch H. G. Adler und Erich Fried.[9]

Gerüchte, denen zufolge sie Selbstmord begangen habe, beruhen nicht auf Tatsachen, sondern beziehen sich anscheinend auf Bemerkungen, die sie zu Lebzeiten gegenüber ihrem Mann geäußert haben soll.[10] Sie wollte nach 1945 auf keinen Fall nach Wien zurück, denn dort würden die Nazis „bald alle jüdische Pässe haben“, so urteilte sie über ihre Landsleute.

Ehrungen

Veza-Canetti-Park in Wien
  • Der Veza-Canetti-Park in Wien-Leopoldstadt wurde 2003 nach ihr benannt.[11]
  • Gedenkplakette zu ihren Ehren: „Die Wahrheit darin ist verschüttet.“ Wien-Leopoldstadt, Ferdinandstraße 29 (Widmungstafel an ihrem Schreibhaus), Einweihung am 6. Mai 2013 Zum Projekt
  • Veza-Canetti-Preis der Stadt Wien seit 2014, Literaturpreis, dotiert mit jährlich 10.000 Euro.

Werke

  • Neuausgaben im Carl Hanser Verlag, München
    • Die gelbe Straße. Roman, 1990.
    • Der Oger. Ein Stück, 1991.
    • Geduld bringt Rosen, 1992.
    • Die Schildkröten. Roman, 1999.
    • Der Fund. Erzählungen und Stücke, 2001.
  • mit Elias Canetti: Briefe an Georges. Hanser, München 2006, ISBN 3-446-20760-0.[12]

Übersetzungen

  • Graham Greene: Die Kraft und die Herrlichkeit. Ins Deutsche übers. von Veza Magd. Heinemann & Zsolnay, London 1947.

Literatur

  • Evelyn Patz Sievers: „Ich bin Spaniolin.“. Veza Canetti im Fokus ihres jüdisch-sephardischen Erbes. Lehmweg, Hamburg 2018, ISBN 978-3-943537-07-9
  • Sandra Schwarz: Veza Canetti. „Die Schildkröten“. In: Dies (Hrsg.): „Phönix aus der Asche“. Werkbeispiele aus der Salzmann-Sammlung der verb(r)kannten Bücher in der Universitätsbibliothek Augsburg. Universität Augsburg, Augsburg 2014, S. 5–12.
  • Miriam Bertocchi: La lingua salvata di Veza Canetti. Vita e opere di una scrittrice viennese. Cuem, Mailand 2006, ISBN 88-6001-031-4
  • Gaby Frank: Veza Canetti. In: Britta Jürgs (Hrsg.) „Leider hab ich’s Fliegen ganz verlernt.“ Portraits von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen der Neuen Sachlichkeit. Aviva, Berlin 2000, ISBN 3-932338-09-X.
  • Eva M. Meidl: Veza Canettis Sozialkritik in der revolutionären Nachkriegszeit. Sozialkritische, feministische und postkoloniale Aspekte in ihrem Werk. Lang, Frankfurt a. M. 1998, ISBN 978-3-631-33269-6
  • Vreni Amsler: Veza Canetti zwischen Leben und Werk. Blackwell, Oxford 2020.
  • Ingrid Spörk, Alexandra Strohmaier (Hrsg.): Veza Canetti. Verlag Droschl, Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Universität Graz 2005, ISBN 3-85420-685-2. (ausführliche Bibliografie, darin: Jenseits der Bildung: Veza Canetti als jüdische Schriftstellerin in Wien)
  • Bettina Engelmann: Sprachverstörung nach dem ‘Anschluss’ – Veza Canetti: „Die Schildkröten“. In: Dies. (Hrsg.): Poetik des Exils. Die Modernität der deutschsprachigen Exilliteratur. Niemeyer, Tübingen 2001, S. 309–221.
  • Simona Fabbris: Veza Taubner-Calderon. Strategie di eccentricità. Doktorarbeit. 2014; core.ac.uk (PDF; 2,3 MB)
  • Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti: Out of the Shadows of a Husband. Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-353-3.
  • Angelika Schedel: Sozialismus und Psychoanalyse. Quellen von Veza Canettis literarischen Utopien. Im Anhang: Versuch einer biografischen Rekonstruktion. Epistemata, Band 378. Königshausen und Neumann, Würzburg 2002, ISBN 978-3-8260-2166-4
  • William Collins Donahue: In Her Own Words. Veza Canetti’s Briefe an Georges (Letters to Georges). In: andererseits. Yearbook of Transatlantic German Studies, 2, 2011, 1, S. 81–98.
  • Vreni Amsler: Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus. Königshauses & Neumann, Würzburg 2017 (=Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; 869).
  • Moritz Wagner: Veza Canetti. „Die Schildkröten“ (1939). In: Ders. (Hrsg.): Babylon – Mallorca. Figurationen des Komischen im deutschsprachigen Exilroman. Metzler, Stuttgart 2017, S. 211–282 (=Schriften zur Weltliteratur; 6). ISBN 978-3-476-04527-0
  • Alexander Košenina: „Wir erheben uns über das Land und verlassen es mit Verachtung.“ Veza Canettis Exilroman „Die Schildkröten“. In: Reiner Wild (Hrsg.): Dennoch leben sie. Verfremte Bücher, verfolgte Autorinnen und Autoren. Zu den Auswirkungen nationalsozialistischer Literaturpolitik. Edition Text + Kritik, Bobingen 2003, S. 77–86.
  • Natalie Lorenz: Texte im Dialog. Die frühen Theaterstücke von Marieluise Fleißer und Veza Canetti. Lang, Frankfurt a. M. 2008, ISBN 978-3-631-56754-8
  • Jeremy Adler: „Employment agency where girls are inspected and sold“. In: The European. Weekend, 22.–24. Juni 1990, S. 3–4.
  • Sophie Reyer: Veza Canetti: eine Biographie. Königshausen & Neumann, Würzburg [2019], ISBN 978-3-8260-6675-7
  • Edda Ziegler: Magd und Knecht: Veza Canetti. In: Verboten, verfemt, vertrieben. Schriftstellerinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. dtv, 2010, ISBN 978-3-423-34611-5, S. 153–157.
  • Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Veza Canetti. Text und Kritik, München 2002.
  • Urte Helduser: „Miszellaneität als Erzählverfahren. Veza Canettis Fortsetzungserzählungen in der Wiener Arbeiter-Zeitung“. In: Miszellanes Lesen − Miszellanes Lesen. Reading Miscellanies − Miscellaneous Readings, hg. v. Nicolas Pethes/Daniela Gretz /Marcus Krause. Hannover 2021 (i.Dr.).
  • Gerhild Rochus: Canetti, Veza. In: Andreas B. Kilcher (Hrsg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Metzler, Stuttgart/Weimar 2012, ISBN 978-3-476-02457-2, S. 100–102.

Weblinks

Bilder von Veza Canetti

Einzelnachweise

  1. Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Hrsg.: Julian Preece. Camden House, Rochester NY 2007, S. 8.
  2. Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Hrsg.: Julian Preece. Camden House, Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-353-3, S. 1.
  3. Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Hrsg.: Julian Preece. Camden House, Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-353-3, S. 17.
  4. Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Hrsg.: Julian Preece. Camden House, Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-535-3, S. 24.
  5. Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband Verlag=Camden House. Hrsg.: Julian Preece. Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-353-3, S. 59.
  6. Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Hrsg.: Julian Preece. Camden House, Rochester NY 2007, S. 28.
  7. Sibylle Mulot: Befreundet mit den Geliebten. In: kulturspiegel. 27. Dezember 2001, abgerufen am 16. Januar 2021.
  8. Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Hrsg.: Julian Preece. Camden House, Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-353-3, S. 4.
  9. Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Hrsg.: Julian Preece. Camden House, Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-353-3, S. 13.
  10. Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Hrsg.: Julian Preece. Camden House, Rochester NY 2007, ISBN 978-1-57113-353-3, S. 22.
  11. Veza-Canetti-Park im Wien Geschichte Wiki der Stadt Wien
  12. Briefe an Georges bei Hanser (Memento vom 18. Mai 2014 im Internet Archive) (PDF; 71 kB)

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