Völkermord an den Jesiden

Der Völkermord an den Jesiden begann am 3. August 2014 in der nordirakischen Stadt Sindschar und dem Umland, einem Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden. Als verantwortlich für den Völkermord gilt der Islamische Staat (IS).

Im Jahr 2016 und 2017 gaben die Vereinten Nationen bekannt, dass der Völkermord an den Jesiden noch andauert.[1][2][3] Es wurde systematisch gemordet und vergewaltigt, getrennt nach Männern und Frauen: Die Männer wurden getötet und die Knaben als Kindersoldaten verwendet, die Frauen und Mädchen wurden in Busse verladen und ältere Frauen getötet, die übrigen in die Sklaverei verkauft und systematisch vergewaltigt und misshandelt. Nach Angaben der UN wurden 5000 bis 10.000 Jesiden ermordet und über 7000 jesidische Frauen und Kinder (meistens Mädchen) entführt.[4][5][6]

Ein jesidisches Massengrab in der Sindschar-Region (2015). Zu erkennen sind Knochen der Opfer, die aus dem Massengrab herausragen, in denen mehrere dutzend Jesiden begraben wurden, nachdem sie massakriert worden waren.

Verlauf

Während sich kurz zuvor die kurdischen Peschmerga aus der Sindschar-Region zurückgezogen hatten, marschierten die IS-Terroristen am Morgen des 3. August 2014 in die traditionell von Jesiden bewohnte Sindschar-Region ein.[7]

Die IS-Terroristen stießen bei ihrem Überfall kaum auf Widerstand. Tausende von Jesiden suchten Zuflucht im Sindschar-Gebirge und wurden dort eingekesselt. Diejenigen, die sich nicht durch Flucht retten konnten, wurden getötet oder entführt. Zuvor erbeutete der IS moderne Waffen, als er die irakische Stadt Mossul eroberte. Diese US-Waffen stammen aus Beständen der irakischen Armee, die nach der Übernahme der Stadt geflohen waren. Die Jesiden waren nur wenig bewaffnet oder kurz zuvor von kurdischen Peschmerga-Kämpfern entwaffnet worden.[7][8]

Folgen

Die Ruinen von Sindschar im Juli 2019 nach dem Einmarsch des Islamischen Staates

Der Völkermord an den Jesiden durch den IS hatte weitreichende Folgen. Neben den Todesopfern wurden über 400.000 Jesiden aus ihrer Heimat vertrieben. Der größte Teil davon lebt als Binnenvertriebene in sogenannten IDP-Camps im Norden des Iraks. Seit 2015 sind über 75.000 Jesiden aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet.[7] Viele Jesiden leiden bis heute an Traumata, und die Selbstmordrate unter den Vertriebenen stieg an.[9]

Nachdem der IS jesidische Frauen und Mädchen entführt hatte, wurden diese Opfer sexueller Sklaverei und von Menschenhandel. Auf Sklavenmärkten in der irakischen Stadt Mossul und in der syrischen Stadt Raqqa wurden Jesidinnen verkauft. Der Kaufpreis einer Jesidin war von ihrem Alter, der Anzahl der Kinder und ihrer Schönheit abhängig und betrug zwischen 200 und 1500 US-Dollar. Über 7000 jesidische Frauen und Kinder wurden während des Völkermordes von dem IS verschleppt. Laut Angaben der UN befanden sich im Jahr 2016 3200 jesidische Frauen und Kinder in IS-Gefangenschaft.[1] Rund 3500 Opfer konnten freigekauft und somit gerettet werden. Im Jahr 2020 wurden weiterhin 2900 vermisst.[10]

Laut eines Berichts von RASHID International wurden 26 jesidische Tempel zerstört.[11] Laut eines anderen Berichts von RASHID International wurden 68 jesidische Tempel zerstört.[12]

Das US-Militär reagierte auf Veranlassung des damaligen US-Präsidenten Barack Obama mit Luftschlägen auf IS-Terroristen.[7][7]

Jesidische Demonstration vor dem Weißen Haus in Washington, D.C. (August 2014)

Aufgrund von Luftschlägen und dem Vorgehen des IS wurden die traditionellen Siedlungsgebiete in der Sindschar-Region größtenteils zerstört und sind unbewohnbar geworden.[13]

Sindschar nach der Rückeroberung vom „Islamischen Staat“, Dezember 2015

Etwa 70 Massengräber der Jesiden sind in Sindschar bekannt.[7] Am 15. März 2019 begann die Exhumierung der Massengräber durch UN-Ermittler, beginnend in dem jesidischen Dorf Kodscho.[14]

Das Bundesland Baden-Württemberg hat auf Initiative des Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann durch ein eigenes Sonderkontingent 1100 jesidische Frauen und Mädchen aufgenommen.[15][16]

Im Juli 2021 startete Gohdar Alkaidy, Co-Vorsitzender des Vereins „Stelle für Jesidische Angelegenheiten“, eine Bundestagspetition zur Anerkennung des Völkermords an den Jesiden.[17] Die Petition erreichte im September 2021 offiziell das Quorum.[18] Am 19. Januar 2023 wurde die Verfolgung der Jesiden einstimmig durch den Bundestag als Genozid anerkannt. Die Abstimmung erfolgte auf eine gemeinsam vorgelegte Resolution der Ampel-Fraktionen und der CDU/CSU-Fraktion.[19]

Am 30. November 2021 wurde erstmals ein IS-Kämpfer in Deutschland wegen Völkermord an Jesiden vom OLG Frankfurt am Main zu lebenslanger Haft verurteilt. Der BGH bestätigte die Verurteilung.[20]

Reaktionen sowie Menschen- und Völkerrechtsaspekte

Demonstration von Jesiden vor der US-Botschaft in Berlin am 22. Oktober 2014
Mahnmal für die Opfer des Völkermords an den Jesiden 2014 (aufgestellt in Jerewan, Armenien, im April 2016)

Laut der Einschätzung einer UN-Kommission vom Juni 2016 verübt die IS-Organisation an den Jesiden einen „Völkermord“.[21] Folgende Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden den IS-Terroristen vorgeworfen: Tötung, Zwangskonvertierung, Sklaverei, Menschenhandel, Vergewaltigungen, Vertreibung und Ausbildung jesidischer Kinder zu IS-Terroristen in Militär-Camps des IS.[1] Die Verbrechen des IS entsprechen den Verbrechen, die durch die Völkermordkonvention von 1951 verurteilt werden.[22] Der Völkermord an den Jesiden ist offiziell von den Vereinten Nationen und dem Europäischen Parlament anerkannt.[23][24][25] Auch das armenische Parlament, das australische Parlament, das schottische Parlament und der Deutsche Bundestag haben den Völkermord anerkannt.[26][27][28]

Der Leiter der Kommission, der brasilianische Diplomat Paulo Pinheiro, appellierte an den UN-Sicherheitsrat, den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag mit der Verfolgung der verantwortlichen IS-Kommandeure zu beauftragen.[29]

Im Juli 2014 gründete der Jeside Qasim Şeşo mit seinem Neffen Haydar Şeşo die jesidische Bürgerwehr Hêza Parastina Şingal (HPS). Ihr Einsatz konnte bei der Flucht vieler Jesiden in das Sindschar-Gebirge weitere Gräueltaten an ihnen verhindern. Die HPS setzte sich im Gebirge fest und konnte mit Unterstützung von YPG-Kämpfern aus Syrien den 20.000 bis 30.000 Flüchtlingen einen Fluchtkorridor freikämpfen, mit großer Unterstützung von Kämpfern, die der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nahestehen. Nach der gelungenen Flucht konzentrierte sich die HPS auf die Verteidigung des Heiligtums der Jesiden im Mausoleum des Scharaf ad-Din (siehe auch Schlacht um Scharaf ad-Din). Die HPS hat bis zum 19. Dezember 2014 die Heiligenstätte der Jesiden bei Scheferdin, am Fuße des Sindschar-Gebirges, geschützt und verteidigt. Aufgrund des anhaltenden Zustroms von jesidischen Kämpfern bestehen Überlegungen zur Rückeroberung des Sindschar durch die jesidische Bürgerwehr (siehe auch Hêza Parastina Şingal, 2014 gegründete jesidische Bürgerwehr).

Als Reaktion auf den Völkermord im Jahr 2014 wurde außerdem die Bürgerwehr Yekîneyên Berxwedana Şingal gegründet.

Verfilmung

  • In dem Film 74th Genocide Sengal wurden die Ereignisse während der Verfolgung der Jesiden durch den IS sowie die Verteidigung der Jesiden durch die YPG und die PKK verfilmt. Das Drehbuch dazu schrieb die deutsch-kurdische Sängerin Hozan Canê, die in dem Film auch Regie führte und die Hauptrolle spielte.[30]
  • HÁWAR – Meine Reise in den Genozid (von Düzen Tekkal, Produktionsjahr: 2015)[31]
  • Das Volk eines Engels (von David Ben Körzdörfer, Produktionsjahr: 2016)[32]
  • Kani Shingal? (internationaler Titel: Shingal, Where Are You? von Angelos Rallis, Produktionsjahr: 2017)[33]

Literatur

Siehe auch

Commons: Völkermord an den Jesiden durch den Islamischen Staat – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b c “They came to destroy”: ISIS Crimes Against the Yazidis. (PDF) In: UN-Menschenrechtsrat. 2016, abgerufen am 17. Januar 2021 (englisch).
  2. ISIL’s ‘genocide’ against Yazidis is ongoing, UN rights panel says, calling for international action. 3. August 2017, abgerufen am 17. Januar 2021 (englisch).
  3. DER SPIEGEL: Uno-Bericht: Völkermord an Jesiden dauert an – DER SPIEGEL – Politik. Abgerufen am 17. Januar 2021.
  4. Yeziden gedenken der Opfer des Völkermordes 2014. Abgerufen am 3. Juni 2022.
  5. Pari Ibrahim, Laurie Adams: It was genocide with a template. We must seek justice for the Yazidi people. In: The Guardian. 4. August 2016, ISSN 0261-3077 (theguardian.com [abgerufen am 17. Januar 2021]).
  6. Ronya Othmann: Die Welt versagt vor diesem Verbrechen. In: faz.net. 25. Juli 2021, abgerufen am 4. August 2021.
  7. a b c d e f Deutsche Welle (www.dw.com): Die Jesiden fünf Jahre nach dem Genozid | DW | 1. August 2019. Abgerufen am 17. Januar 2021.
  8. Otmar Oehring: Christen und Jesiden im Irak: Aktuelle Lage und Perspektiven. (PDF) In: Konrad-Adenauer-Stiftung. 2017, S. 20, abgerufen am 17. Januar 2021.
  9. Katrin Kuntz, Der Spiegel: Coronakrise: Mehr Suizide unter Jesiden im Nordirak – Der Spiegel – Politik. Abgerufen am 17. Januar 2021.
  10. Stuttgarter Nachrichten, Stuttgart Germany: Völkermord an den Jesiden: Traumatisiert und allein gelassen. Abgerufen am 24. Januar 2021.
  11. The Intentional Destruction of Cultural Heritage in Iraq as a Violation of Human Rights. (PDF) RASHID International e. V., S. 9, abgerufen am 17. Januar 2021 (englisch).
  12. Destroying the Soul of the Yazidis – Cultural Heritage Destruction During the Islamic State’s Genocide Against the Yazidis. In: RASHID International. 2019, S. 20, abgerufen am 11. September 2021 (englisch).
  13. Deutsche Welle (www.dw.com): Irak: Die verlorene Heimat der Jesiden | DW | 2. August 2018. Abgerufen am 17. Januar 2021.
  14. Nordirak: Massengrab von IS-Opfern erstmals geöffnet. Abgerufen am 17. Januar 2021.
  15. FOCUS Online: Winfried Kretschmann rettete Jesiden vor dem IS: Können heute wieder leben. Abgerufen am 17. Januar 2021.
  16. Schutzprojekt für Jesiden Tausend Leben. 5. November 2016, abgerufen am 17. Januar 2021.
  17. „Immer noch findet man neue Massengräber“. Abgerufen am 7. Januar 2022.
  18. Petitionen: Petition 125051. Abgerufen am 7. Januar 2022.
  19. Bundestag stuft Verfolgung der Jesiden durch IS-Miliz als Völkermord ein. Abgerufen am 19. Januar 2023.
  20. LTO: BGH: IS-Kämpfer des Völkermordes an Jesiden schuldig. Abgerufen am 1. März 2024.
  21. Individual, collective, and transgenerational traumatization in the Yazidi. Kizilhan JI, Noll-Hussong M. BMC Med. 2017 Dec 11;15(1):198. doi:10.1186/s12916-017-0965-7. PMID 29224572
  22. UN-Kommission: “Der Völkermord an den Jesiden dauert an”. Abgerufen am 17. Januar 2021.
  23. HCDH | UN Commission of Inquiry on Syria: ISIS is committing genocide against the Yazidis. Abgerufen am 17. Januar 2021.
  24. OHCHR | Statement by the Commission of Inquiry on Syria on the second anniversary of 3 August 2014 attack by ISIS of the Yazidis. Abgerufen am 17. Januar 2021.
  25. European Parliament recognizes ISIS killings of religious minorities as genocide. 4. Februar 2016, abgerufen am 17. Januar 2021 (englisch).
  26. Armenian Parliament recognizes Yazidi genocide. Abgerufen am 17. Januar 2021 (englisch).
  27. The pain of hearing: Australia’s parliament recognises Yazidi genocide. Abgerufen am 17. Januar 2021 (englisch).
  28. Scottish Parliament recognizes genocide against the Yezidi people. 25. März 2017, abgerufen am 17. Januar 2021 (amerikanisches Englisch).
  29. Völkermord an den Jesiden geht weiter. In: tagesschau.de. 16. Juni 2016.
  30. Kurdish-German singer arrested in Turkey on terror charge. In: Rudaw. (rudaw.net [abgerufen am 5. Juli 2018]).
  31. Tekkal, Düzen - Dokumentarfilm "HÁWAR". Abgerufen am 10. Mai 2023.
  32. Das Volk eines Engels (2016) - IMDb. Abgerufen am 5. Februar 2022 (deutsch).
  33. Shingal, Where Are You? (Kani Shingal?). Abgerufen am 5. Februar 2022 (englisch).

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Bones of Yazidi victims massacred in the village of Qinei near Sinjar. 2015.
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Demonstration von Jesiden vor der US-Amerikanischen Botschaft in Berlin am 22.10.2014
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