Urnordische Sprache

Urnordisch

Gesprochen in

Skandinavien
Sprecherkeine (wurde vom Altnordischen abgelöst)
Linguistische
Klassifikation
Offizieller Status
Amtssprache in(ausgestorben)

Die urnordische Sprache (manchmal auch zur späteren altnordischen Sprache gerechnet) ist die älteste überlieferte Form der nordgermanischen Sprachen und wurde vermutlich vom 2./3. bis ins 8. Jahrhundert im heutigen Dänemark, Schweden und Norwegen gesprochen bzw. in Runen geschrieben. Sie folgte auf das Nordwestgermanische (1./2. Jahrhundert n. Chr.) und war Vorläuferin des Altnordischen und damit auch des Norwegischen, Schwedischen, Dänischen, Färöischen und Isländischen.

Die Sprache ist durch zahlreiche, meist kurze Runeninschriften aus der Zeit seit dem 2. Jahrhundert teilweise belegt. Neben diesen Texten ist bei antiken Autoren eine kleine Zahl von Orts- und Personennamen überliefert, hinzu kommen ein paar Hundert Lehnwörter (im Ostseefinnischen und Samischen). Diese wurden vielfach noch vor der urnordischen Zeit entlehnt, wie ihr (spät)urgermanischer bzw. nordwestgermanischer Lautstand zeigt.

Urnordisch stand dem späten Urgermanischen noch ziemlich nahe und weist einige Archaismen auf, die selbst die gotische Sprache nicht bewahrt hat. So blieben die germanischen Endsilben -az, -iz, -uz im Urnordischen erhalten, wobei ein [z] (stimmhaftes s) zu [r] oder einem ähnlichen Laut (geschrieben bzw. z/R) wurde (vgl. urnordisch dagaR < (spät)urgermanisch *dagaz neben gotisch dags = „Tag“ und urn. gastiR < (spät)urg. *gastiz neben got. gasts = „Gast“). Außerdem blieben auslautende Vokale erhalten (vgl. urgermanisch *hurna- > urnordisch horna neben gotisch haurn = „Horn“). In der frühen Zeit ist die Abgrenzung zum Nordwestgermanischen, der gemeinsamen Vorstufe der nord- und der westgermanischen Sprachen (um das 1./2. Jahrhundert nach Christus), oft schwierig. Zum einen, da Runeninschriften erst ab dem 2./3. Jahrhundert vorliegen und zum andern, weil die das Urnordische gegenüber dem Nordwestgermanischen definierenden Veränderungen nicht sehr groß sind und sich allmählich vollzogen.

Einteilung

Beim Urnordischen unterscheidet man zwei Perioden:

  • älteres Urnordisch, ungefähr von 200 bis 500
  • jüngeres Urnordisch (Synkopezeit), ungefähr von 500 bis 700[1]

Quellen

Die Quellen des Urnordischen sind:

  • Vor allem Runeninschriften auf Steindenkmälern (auf Norwegisch bautasteinar), Schmuck, Waffen und Gebrauchsgegenständen, die in Gräbern gefunden wurden. Beispiel: die Goldhörner von Gallehus.
  • Ein paar Hundert Lehnwörter aus dem Urnordischen und Urgermanischen im Finnischen und Samischen. Die Entlehnungen in die Sami-Sprachen haben sich danach zusammen mit diesen Sprachen oft deutlich weiter verändert. Dagegen hat sich das Finnische in den zurückliegenden 2000 Jahren lautlich nur wenig verändert, weshalb auch die alten Lehnwörter gut erhalten geblieben sind. Einige zeigen bis heute einen Lautstand, der älter ist als der urnordische und direkt dem urgermanischen Sprachzustand entspricht.
  • Darüber hinaus findet sich eine kleine Zahl urnordischer bzw. germanischer Namen in lateinischen Texten.
  • Hauptquelle für das Urnordische sind aber die späteren altnordischen Texte. Ihre Überlieferung beginnt im 8. Jahrhundert wiederum mit Runeninschriften, ab dem 12. Jahrhundert ist das Altnordische außerdem in umfangreichen Texten in lateinischer Schrift überliefert. Anhand der älteren Runeninschriften und der Lehnworte ist es möglich, daraus den Sprachzustand des Urnordischen auch hinsichtlich seiner Formenlehre (Morphologie), die in den kurzen Runeninschriften nur zu einem kleinen Teil belegt ist, zu rekonstruieren.
  • Eine weitere wichtige Quelle für das Urnordische ist schließlich der Vergleich mit den anderen, früh überlieferten germanischen Sprachen, insbesondere Gotisch, Altenglisch, Altniederdeutsch und Althochdeutsche.[2]

Bei weitem nicht alle urnordischen Wörter sind durch urnordische Texte, also Runeninschrifte, direkt überliefert. Ein großer Teil des urnordischen Lexikons kann aber aus dem Altnordischen sicher rekonstruiert werden. Die so erschlossenen Wörter werden in wissenschaftlichen Texten mit einem Sternchen (*) markiert.

Dialekte

Die urnordischen Runeninschriften zeigen nur wenige Dialektunterschiede. Ein möglicher Grund dafür ist, dass die Schreiber viele festgelegte Formeln benutzten. Ein anderer Grund kann sein, dass es eine starke Schreibtradition gab, die Dialektunterschiede überdeckte.[2] Als wenig wahrscheinlich gilt heute die früher oft vertetene Ansicht, dass das Urnordische noch keine dialektalen Unterschiede kannte, sondern sehr homogen war.

Übergang zum Altnordischen / Synkopezeit

Synkope

Die Schwächung unbetonter Silben (Synkope) ist die wichtigste und auffälligste Veränderung des jüngeren Urnordisch. Infolgedessen sind kurze, unbetonte Vokale im Wortinneren und oft auch in Endsilben verschwunden. Nach dieser Entwicklung gab es nur noch Vokale, die entweder lang oder betont waren, außerdem wurden viele lange Vokale verkürzt. Insgesamt wurden infolge der Synkopa viele urnordische Wörter deutlich kürzer. So wurde der (männliche) Vorname HaþuwulfaR im Altnordischen zu Hálfr.[2]

Umlaut

Neben der Synkope war ein mehrfacher Umlaut die wichtigste Veränderung in dieser Zeit. Neben dem bekanntesten i-Umlaut, gibt es im jüngeren Urnordisch auch den a-Umlaut und den u-Umlaut. Sie alle führten zur Entstehung neuer Vokale. Der Umlaut muss vor der Synkope geschehen sein, weil er die später weggefallenen Vokale in der unbetonten Folgesilbe voraussetzt. Beispiele für den Umlaut sind:

  • I-Umlaut: Das rekonstruierte urnordische Wort *dômian („urteilen“) wurde im Altwestnordischen zu dœma. Aus dem langen o wurde also ein ö-Laut, der im Altwestnordischen œ geschrieben wird. Der Grund für diese Veränderung ist der i-Umlaut, also der Einfluss des i, das später als Folge der Synkope wegfiel.
  • U-Umlaut: Das urnordische Wort *maguR („Junge“) erscheint im Altwestnordischen als mǫgr. Hier wurde das a ein o-artiger Laut, der im Altwestnordischen ǫ geschrieben wird. Diese Veränderung geschah wegen des u-Umlauts, also unter Einfluss des u, der als Folge der Synkope wegfiel.
  • A-Umlaut: Das urnordische Wort *wira- („Mann“) erscheint im Altwestnordischen als verr. Hier wurde das i zu einem e unter Einfluss des a in der folgenden Silbe (a-Umlaut).[2]

Brechung

Eine Sprachveränderung, die ebenfalls in der Synkopezeit stattfand, war die Brechung einiger Vokale. Die Brechung ist eine Form der Diphthongierung. Das e wandelte sich unter bestimmten Bedingungen in ein ja oder in ein jo/. Bei der Brechung sieht man bereits Unterschiede zwischen den einzelnen urnordischen Dialekten und dementsprechend auch zwischen den späteren nordgermanischen Sprachen (Schwedisch, Dänisch, Norwegisch (Isländisch, Färöisch)).[2]

Beispiel:

  • Das urnordische Wort *eka („ich“) wurde zu jak im Altostnordischen und ek im Altwestnordischen. In beiden Fällen verschwand das a als Folge der Synkope. Die gebrochene östliche Form, jak, ist der Vorläufer des schwedischen jag und des dänischen jeg. Die ungebrochene westliche Form entwickelte sich weiter zu norwegisch (Nynorsk) und färörisch eg sowie isländische ég.[2]

Folgen

Die Lautveränderungen in der Synkopezeit führten dazu, dass die Flexion (Beugung) einiger Wörter komplizierter wurde. Mehrere Vokale in den Endungen führten in der Nominalflexion zu unterschiedlichen Vokalen im Stamm einiger Wörter. Das folgende Beispiel zeigt, wie die Formen des urnordischen Wortes *wantuR („Handschuh“) durch i-Umlaut und u-Umlaut verändert werden. Das altwestnordische Wort vǫttr bekam auf diese Weise eine komplizierte Flexion, mit Wechsel von a, e und ǫ in der Stammsilbe.[2]

Kasus und NumerusUrnordischAltwestnordisch
Nom. Sg.*wantuRvǫttr
Akk. Sg.*wantuvǫtt
Dat. Sg.*wantiuvetti
Gen. Sg.*wantôRvattar
Nom. Pl.*wantiuRvettir
Akk. Pl.*wantunRvǫttu
Dat. Pl.*wantum(i)Rvǫttum
Gen. Pl.*wantôvatta

Sprachbeispiele

Goldhorn von Gallehus (Dänemark 5. Jahrhundert)

UrnordischDeutsch
ek hlewagastiR holtijaR horna tawido.Ich, Leugast, Sohn des Holt // der Holte (?), machte (dieses) Horn.

Brakteat von Tjurkö (Schweden 5. Jahrhundert)

UrnordischDeutsch
wurte runoR an walhakurne. HeldaR kunimu(n)diuIch fertigte die Runen auf „fremdem Korn“ (= Gold). Held für Kunimund.

Runenstein von Kjølevik (Norwegen 1. Hälfte 5. Jahrhundert)

UrnordischDeutsch
hadulaikaR. Ek hagusta(l)daR hlaaiwido magu minimoHadulaik (liegt hier begraben). Ich Hagustald begrub meinen Sohn.

Amulett von Lindholmen (6. Jahrhundert)

UrnordischDeutsch
ek erilaR sawilagaR ha(i)tekaIch, der Runenmeister, der Schlaue heiße ich.

Runenstein von Björketorp (8. Jahrhundert)

UrnordischDeutsch
uþarabaspa. sar þat barutR uti aR weladaude. HaeramalausR gunarunaR arageu falahak haderag, haidRuno ronu.Unglücksprophezeiung! (Demjenigen), der dies bricht, ist tückischer Tod bevorstehend. Ohne Schaden habe ich die Großrunen der Hexerei eingegraben, (wie auch) die Reihe der Ehrenrunen.

Literatur

  • Hans Frede Nielsen: The Early Runic Language of Scandinavia. Winter, Heidelberg 2000, ISBN 3-8253-1080-9.
  • Don Ringe: The development and diversification of Northwest Germanic. Kapitel 2 (S. 10–40) des Buches Don Ringe / Ann Taylor: The Development of Old English. Oxford University 2014.
  • Michael Schulte: Urnordisch. Eine Einführung. Praesens Verlag, Wien 2018, ISBN 978-3-7069-0951-8.
  • Wolfram Euler: Das Westgermanische – von der Herausbildung im 3. bis zur Aufgliederung im 7. Jahrhundert – Analyse und Rekonstruktion. Verlag Inspiration Un Limited, London/Berlin 2021, ISBN 978-3-945127-41-4. (v. a. S. 16–39, 58f und 69f.)
  • Siegfried Gutenbrunner: Historische Laut- und Formenlehre des Altisländischen. Zugleich eine Einführung in das Urnordische. Winter, Heidelberg 1951.
  • Elmer Antonsen: A Concise Grammar of the Older Runic Inscriptions. Tübingen 1975.
  • Wolfgang Krause: Die Sprache der urnordischen Runeninschriften. Winter, Heidelberg 1971, ISBN 3-533-02178-5.

Weblinks

Wiktionary: Urnordisch – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Odd Einar Haugen: Grunnbok in norrønt språk. 2. utgåve. Oslo 1995, ISBN 82-417-0506-9.
  2. a b c d e f g Hallfrid Christiansen: Norske Dialekter. Tanum/Norli o. J. (Reprint).