Umweltgerechtigkeit

Umweltgerechtigkeit (engl. environmental justice) wird in den Vereinigten Staaten seit Anfang der 1980er-Jahre ein Problem im Schnittfeld von Umwelt-, Sozial- und Gesundheitspolitik bezeichnet. Menschen mit einer niedrigeren sozialen Stellung in einer Gesellschaft bzw. ärmere Gesellschaften sind häufig stärker von Umweltbelastungen und deren Folgen betroffen als sozial besser gestellte Menschen bzw. Gesellschaften. Bei der Umweltgerechtigkeit geht es darum für die Lösung dieses Problem zu arbeiten und allen Menschen die gleichen Lebenschancen zu geben.[1]

In den USA werden neben dem meist verwendeten Begriff „environmental justice“ weitere Begriffe mit ähnlicher Bedeutung verwendet: „environmental inequity“ (politisch abschwächend), „environmental discrimination“ und „environmental racism“ (politisch verstärkend). Inhaltlich bestehen Beziehungen zu „environmentalism of the poor“ (Martinez-Alier 2005) und „popular environmentalism“ (Carruthers 2008). Der englische Begriff „ecological justice“ bzw. „eco-justice“ entstammt einer anderen Theorietradition („deep ecology“) und meint etwas sehr anderes.

Die übliche deutsche Übersetzung von „environmental justice“ ist „Umweltgerechtigkeit“; daneben wird auch „umweltbezogene Gerechtigkeit“ verwendet. „Ökologische Gerechtigkeit“ (als Übersetzung von „ecological justice“) hat einen weiten und heterogenen Bedeutungsumfang, indem sie neben der sozialen Verteilungsgerechtigkeit die Rechte aller Lebewesen miteinbezieht, die Beziehung zwischen Mensch und Natur beschreibt; das Konzept der ökologischen Gerechtigkeit richtet sich gegen eine externalisierende Behandlung der Natur[2] und darf nicht mit „Umweltgerechtigkeit“ verwechselt werden.

Geschichte

Die Umweltgerechtigkeits-Bewegung der USA entstand in den 1960er Jahren als Teil der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die den Rassismus hinter umweltrelevanten Entscheidungen und Praktiken entdeckte und offen kritisierte. Die Lebensbedingungen waren insbesondere in den Wohnvierteln ärmerer und nicht-weißer Bevölkerungsgruppen durch Umweltverschmutzung vergleichsweise schlechter als bei der restlichen Bevölkerung. Im Jahr 1979 protestierten schwarze Hausbesitzer öffentlich gegen die Errichtung einer Mülldeponie direkt an ihrem Wohnort.[3]

Problemhintergrund

Umweltgerechtigkeit wird in den USA seit den 1980er Jahren öffentlich diskutiert und bezeichnet dort die Gleichbehandlung und Einbeziehung aller Einwohner eines bestimmten Gebiets in die Entscheidungsfindung eines umweltbeeinträchtigenden Projekts (z. B. Müllverbrennungsanlage, Raffinerie etc.) unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrer Ethnie, ihrem Einkommen oder ihrem Ausbildungsniveau. Themen sind vor allem die soziale und räumliche Verteilung von Umweltlasten und Umweltgütern (Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit) und die Mitbestimmung der lokalen Bevölkerung bei Projekten, die ihre Umgebung und Umwelt belasten könnten (Aspekt der Verfahrensgerechtigkeit).

In der Bundesrepublik Deutschland wird seit Anfang der 2000er Jahre Gerechtigkeit wieder stärker problematisiert. Sie wird dabei allerdings meist nur auf Gleichheit bezogen. Damit müsste Ungleichheit für Gerechtigkeit relevant sein, was für soziale Ungleichheit breit akzeptiert wird, aber nicht für gesundheitliche oder umweltbezogene Ungleichheit. Aus deutscher Sicht ist es daher ungewöhnlich, dass in den USA Gerechtigkeit auch auf Umwelt bezogen wird.

Beispiele

Umweltbelastungen können sozialräumlich ungleich verteilt sein. Das kann sich auf folgende Weisen äußern:

  • Häufung von Fabriken, Kraftwerken, Tanklagern, Raffinerien in Gewerbegebieten in sozial schwachen Wohngebieten.
  • Bau neuer Autobahnen, Schnellstraßen, Bahnstrecken, Hochspannungstrassen durch Unterschicht-, nicht aber Oberschichtbezirke. In den USA wurde 2022 ein eine Milliarde schweres Bauprogramm beschlossen, welches den Rückbau von rassistischen Schnellstraßenprojekten zum Ziel hat.[4]
  • Führung der An- und Abflugschneisen von Flughäfen so, dass wohlhabende Viertel möglichst nicht berührt werden.
  • Häufung von Giftmülldeponien und sonstigen Altlasten in US-amerikanischen Gebieten mit nicht-weisser Bevölkerung[3]
  • Platzierung von Risikoanlagen, wie Sondermülldeponien oder Zwischen- und Endlagern in strukturschwachen Gebieten, in denen sozial benachteiligte Menschen leben.[5]
  • Gezielte Vertreibung indigener Völker aus ihrem angestammten Lebensraum, z. B. in Brasilien, Bolivien und Mexiko[6]

Forschung

Wissenschaftliche Studien zur Umweltgerechtigkeit stellen z. B. folgende Forschungsfragen: der Verteilung bestimmter Umweltbelastungen auf unterschiedliche Orte (mit unterschiedlicher Bevölkerungsstruktur); der Entstehung sozialdiskriminierender Ungleichverteilungen von Umweltbelastungen; der Aufteilung der Kosten und Gewinne von Umweltverschmutzung; dem Vorkommen von umweltbedingten Krankheiten unter verschiedenen sozialen Gruppen.

Im Jahr 1987 wurde in den USA die erste Studie veröffentlicht, die einen deutlichen Zusammenhang zwischen Giftmülllagern und einer überwiegend farbigen Bevölkerung herstellte. Damals standen keine staatlichen Gelder zur Verfügung, so dass die United Church of Christ die Studie beauftragt hatte. Nach der Veröffentlichung stand fest, dass Giftmülllager, in allen Bundesstaaten der USA, deutlich häufiger dort anzutreffen waren, wo überproportional viele People of Color lebten.[3][7]

Der Begriff der Umwelt ist dabei weit gefasst zu verstehen und kann so verschiedene Dinge meinen wie die Atemluft als globales öffentliches Gut oder die allernächste Umgebung des eigenen Wohnraums. Das Adjektiv „umweltgerecht“ beschreibt ein Verhalten oder Verfahren, welches sich im Einklang mit der Umwelt befindet (siehe auch Umweltverträglichkeit). Dem gegenüber betont das Substantiv „Umweltgerechtigkeit“ den Bezug auf den Menschen und ist daher anthropozentrisch.

In Berlin gibt es inzwischen ein erfolgreiches Kooperationsprojekt von einerseits zwei Senatsverwaltungen (SenGUV, SenStadt) mit andererseits mehreren Universitäten (u. a. HU Berlin, TU Berlin, Uni Leipzig), das Umweltgerechtigkeit in Berlin zum Thema hat (Klimeczek 2010).

Rechtliche Konsequenzen

Umweltrechtlich betrachtet, gibt es noch immer keine verbindliche, rechtliche Grundlage für den Schutz und Erhalt oder die Renaturierung von Natur, die weltweit anwendbar ist. Jedoch haben die Vereinten Nationen, im Juli 2022, darüber abgestimmt, eine saubere Umwelt zum Menschenrecht zu erklären. Die Tatsache, dass nun jeder Mensch das Recht hat, in einer „sicheren, sauberen, gesunden und nachhaltigen Umwelt“ zu leben, gilt als wichtiger Impuls für die Weiterentwicklung der Umweltgesetzgebung und eine größere globale Umweltgerechtigkeit.[8]

Überlegungen zur Umweltgerechtigkeit schließen oft das Verursacherprinzip mit ein. Wer für einen Umweltschaden verantwortlich ist, soll seine Beseitigung und eventuell entstandene weitere Kosten selber tragen und nicht zur Behebung der Allgemeinheit überlassen, also einer Umwelthaftung unterliegen. Als Beispiel für dieses Prinzip ist das Regelwerk der Europäischen Union zu nennen, das in der Richtlinie 2004/35/EG ausdrücklich darauf verweist.[9] In den USA klagten zwei betroffene Familien bereits 2016 erfolgreich gegen durch Fracking verseuchtes Grundwasser. Ein Gericht in Pennsylvania verurteilte das Erdgasförderunternehmen zu Entschädigungszahlungen in der Höhe von 4,25 Mio. US-Dollar nachdem Wasser, welches übelriechend und verschmutzt aus den Leitungen in der betroffenen Haushalte geflossen war.[10]

Unter diesen Gesichtspunkten lässt sich z. B. sagen, dass Geringverdiener, die in schlechten Wohnungen leben müssen, ebenso wenig Umweltgerechtigkeit erfahren wie Menschen in Entwicklungsländern, die besonders stark unter der globalen Erwärmung leiden, sie jedoch kaum mit verursacht haben.

Im Sinne gerechtigkeitstheoretischer Argumentation kann ebenfalls gefordert werden, dass Menschen oder Unternehmen, die in besonderer Weise von natürlichen Ressourcen profitieren, die Allgemeinheit an diesem Profit beteiligen sollen. Dahinter steht die Überlegung, dass die natürliche Umwelt nicht als normale Ware zu betrachten ist und daher auch niemandem als exklusivem Eigentum gehören kann. Dieser Bestandteil der Umweltgerechtigkeit findet sich beispielsweise in der Debatte über Biopiraterie wieder, bei der ein Konfliktpunkt die Erteilung von Patenten auf einzelne Gene ist.

Siehe auch

Literatur

  • W. Maschewsky: Umweltgerechtigkeit, Public Health und soziale Stadt. VAS Verlag, 2001, ISBN 3-88864-330-9.
  • H. J. Klimeczek: Umweltgerechtigkeit im Land Berlin. Entwicklung und Umsetzung einer praxistauglichen Konzeption zur Untersuchung der (stadt-) räumlichen Verteilung von gesundheitsrelevanten Umweltbelastungen. SenGUV, Berlin 2010.
  • J. Fairburn u. a.: Investigating environmental justice in Scotland: links between measures of environmental quality and social deprivation. Sniffer, Edinburgh 2005.
  • G. Walker, K. Bickerstaff: Polluting the poor: An emerging environmental justice agenda for the UK? Critical Urban Studies, University of London 2000.
  • D. N. Pellow: Garbage wars: The struggle for environmental justice in Chicago. MIT-Press, Cambridge (MA) 2002.
  • R. D. Bullard: The quest for environmental justice: Human rights and the politics of pollution. Sierra Club, San Francisco 2005.
  • A. Szasz: Ecopopulism. Toxic waste and the movement for environmental justice. University of Minnesota Press, Minneapolis 1994.
  • R. Rosenbrock, W. Maschewsky: Präventionspolitische Bewertungskontroversen im Bereich Umwelt und Gesundheit. Wissenschaftszentrum Berlin, 1998.
  • Ökologische Gerechtigkeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 24/2007. (PDF; 2,9 MB)
  • W. Maschewsky: Healthy public policy – am Beispiel der Politik zu Umweltgerechtigkeit in Schottland. Wissenschaftszentrum Berlin, 2006. discussion paper (PDF; 240 kB)
  • A. Mielck, J. Heinrich: Environmental Justice (Umweltbezogene Gerechtigkeit): Faire Verteilung von Umweltbelastungen auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Aktionsprogramm Umwelt und Gesundheit NRW. Expertenbericht zum Thema, 2001. (PDF; 266 kB)
  • K. Dunion: Troublemakers. The struggle for environmental justice in Scotland. Edinburgh University Press, 2003.
  • Umweltmedizinischer Informationsdienst: Umweltgerechtigkeit – Umwelt, Gesundheit und soziale Lage. UMID-Themenheft, Ausgabe 2/2008 (PDF, 1 MB) (Memento vom 18. Oktober 2011 im Internet Archive)
  • C. Rechtschaffen, E. Gauna (Hrsg.): Environmental justice: Law, policy & regulation. Carolina Academic Press, Durham (NC) 2002.
  • C. Hornberg, A. Pauli (Hrsg.): Umweltgerechtigkeit – die soziale Verteilung von gesundheitsrelevanten Umweltbelastungen. Universität Bielefeld, 2009.
  • J. Agyeman, Y. Ogneva-Himmelberger (Hrsg.): Environmental justice and sustainability in the former Soviet Union. MIT-Press, Cambridge (MA) 2009.
  • D. McLaren u. a.: The geographic relation between household income and polluting factories. FoE, London 1999.
  • MUNLV (Ministerium für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen) (Hrsg.): Umwelt und Gesundheit an industriellen Belastungsschwerpunkten („Hot Spots“). Umweltmedizinische Wirkungsuntersuchungen in Dortmund und Duisburg. MUNLV, Düsseldorf 2004.
  • G. Bolte, A. Mielck: Umweltgerechtigkeit. Die soziale Verteilung von Umweltbelastungen. Juventa Verlag, 2004, ISBN 3-7799-1141-8.
  • W. Maschewsky: Umweltgerechtigkeit – Gesundheitsrelevanz und empirische Erfassung. Wissenschaftszentrum Berlin, 2004. discussion paper (PDF; 1,7 MB)
  • T. Fotopoulos: The Ecological Crisis as Part of the Multi-Dimensional Crisis and Inclusive Democracy. In: The International Journal of Inclusive Democracy, vol.3, no. 3, 2007. (online)
  • W. Maschewsky: Umweltgerechtigkeit als Thema für Public-Health-Ethik. In: Bundesgesundheitsblatt. 2, 2008.
  • H. Kruize, A. A. Bouwman: Environmental (in)equity in the Netherlands. RIVM, Bilthoven 2004.
  • J. Jarre: Umweltbelastungen und ihre Verteilung auf soziale Schichten. Otto Schwartz & Co, Göttingen 1975.
  • J. Ebbesson: Access to justice in environmental matters in the EU. Kluwer, Den Haag 2002.
  • IOM (Institute of Medicine) (Hrsg.): Toward environmental justice: research, education, and health policy needs. National Academy of Sciences, Washington (D.C.) 1999.
  • D. Faber: Capitalizing on environmental injustice: The polluter-industrial complex in the age of globalization. Rowman & Littlefield, Lanham (MD) 2008.
  • M. Kloepfer: Umweltgerechtigkeit. Environmental Justice in der deutschen Rechtsordnung. Verlag Duncker & Humblot, 2006, ISBN 3-428-12134-1.
  • R. Anand: International environmental justice: a North-South dimension. Ashgate, Hampshire (UK) 2004.
  • D. V. Carruthers (Hrsg.): Environmental justice in Latin America. MIT-Press, Cambridge (MA) 2008.
  • H. D. Elvers: Umweltgerechtigkeit (Environmental Justice) – Integratives Paradigma der Gesundheits- und Sozialwissenschaften? UFZ Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle Diskussionspapier 14/2005. (PDF) (Memento vom 13. Februar 2006 im Internet Archive)
  • Wolfgang Sachs: Ökologie und Menschenrechte. (= Wuppertal Paper Nr. 131.) 2003. (PDF) (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive)
  • B. Bryant (Hrsg.): Environmental justice: Issues, policies, and solutions. Island Press, Washington (D.C.) 1995.
  • FoE (Friends of the Earth England, Wales and Northern Ireland) (Hrsg.): Pollution and poverty: breaking the link. FoE, London 2001.
  • H. Köckler u. a.: Umweltbezogene Gerechtigkeit und Immissionsbelastungen am Beispiel der Stadt Kassel. (= CESR-Papier 1). Kassel University Press, 2008.
  • D. Naguib, L. Pellow, S. H. Park: The Silicon Valley of Dreams. Environmental Injustice, Immigrant Workers, and the High-Tech Global Economy. New York University Press, New York 2003, ISBN 0-8147-6710-9.
  • J. Heinrich u. a.: Soziale Ungleichheit und umweltbedingte Erkrankungen in Deutschland. Ecomed, Landsberg 1998.
  • A. Mielck, J. Heinrich: Soziale Ungleichheit und die Verteilung umweltbezogener Expositionen (Environmental Justice). In: Gesundheitswesen. 64, 2002.
  • J. Martinez-Alier: The environmentalism of the poor. A study of ecological conflicts & valuation. Edward Elgar Publishing, 2003.
  • D. Camacho (Hrsg.): Environmental injustices, political struggles. Duke University Press, Durham (NC) 1998.
  • R. Hafner: Environmental Justice and Soy Agribusiness. Routledge, London, 2018. ISBN 978-0-8153-8535-6. (Online)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Umweltgerechtigkeit - Umwelt, Gesundheit und soziale Lage. Umweltbundesamt, 2. August 2022, abgerufen am 22. Oktober 2022.
  2. Umweltgerechtigkeit, Deutsche Umwelthilfe, abgerufen im Januar 2018.
  3. a b c How Did the Environmental Justice Movement Arise? Environmental Protection Agency, abgerufen am 19. August 2023
  4. Andrew J. Hawkins: Biden administration launches $1 billion effort to correct racist highway designs of the past. 30. Juni 2022, abgerufen am 3. Juli 2022 (englisch).
  5. Robert D. Bullard: Dumping in Dixie: Race, Class, and Environmental Quality. Westview, Boulder, CO 1990.
  6. Indigene Völker unter Druck (2020) German Institute for Global and Area Studies, abgerufen am 19. August 2023
  7. Toxic Wastes and Race in the United States (1987), National Resource Center (USA), abgerufen im Januar 2018.
  8. Das Recht auf saubere Umwelt vom 11. August 2022 Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, abgerufen am 19. August 2023
  9. Website der Europäischen Union: EUROPA - Glossar - Umwelthaftung (Memento vom 22. November 2010 im Internet Archive)
  10. Verseuchtes Grundwasser Fracking-Firma muss US-Familien mit Millionen entschädigen vom 11. März 2016 Der Spiegel, abgerufen am 19. August 2023