Ukrainische Avantgarde

Tram von Alexander Bogomazow, 1914

Die ukrainische Avantgarde bezeichnet eine künstlerische Epoche in der Ukraine zwischen den 1910er und 1930er Jahren.

Zum Begriff

Die ukrainischen Künstler leisteten einen wichtigen Beitrag für die internationale Avantgarde, wobei nicht von einer spezifisch ukrainischen Avantgarde, sondern vielmehr von einer Avantgarde in der Ukraine die Rede sein muss. Das liegt daran, dass viele Künstler nicht ethnisch mit der Ukraine verbunden waren, sondern in dem Land zeitweise ihrer künstlerischen Karriere nachgingen. Die avantgardistischen Künstler sind daher als Teil einer europäischen Avantgarde zu verstehen, was auch ihre Netzwerke und institutionellen Verbindungen bekräftigen.[1] Wichtige Werke schufen sie im Ausland. So ist in der Avantgarde in der Ukraine eine deutliche Tendenz zur Internationalisierung der Kunst zu spüren, die sich stärker äußert als etwa in der deutschen oder russischen Avantgarde.[2]

Sparten und wichtige Vertreter

Die ukrainische Avantgarde ist durch eine Synthese der Traditionen der ukrainischen Volkskunst mit der europäischen Moderne gekennzeichnet. Sie umfasst die Bereiche der Bildhauerei, Malerei, Literatur, Kino, Theater, Bühnenbild, Grafik, Musik und Architektur. Ein prägnantes Merkmal war die Orientierung nach Westeuropa und die Abkehr von Russland.[2] Zu den Avantgardisten zählen unter anderem die futuristischen Strömungen, darunter die Kverofuturisten, die Panfuturisten und die Nova Generacija. Außerhalb dieser Gruppen wirkten zudem die ukrainischen Expressionisten und Imaginisten.

Zu den bekanntesten Künstlern zählen Alexander Archipenko, Sonia Delaunay-Terk, Wassili Jermilow, Alexander Bogomazow, David Burliuk, Vadym Meller und Anatolij Petryzkyj. Sie alle waren entweder durch Herkunft, Ausbildung, Sprache, nationale Tradition oder Identität mit der Ukraine verbunden, vor allem mit den Städten Kiew, Charkiw, Lemberg und Odessa.

Ein aktives Zentrum der ukrainischen Avantgarde in den 1920er Jahren war die damalige Hauptstadt Charkiw, die international allerdings wenig Beachtung fand.[2] Dort entwickelten sich vor allem die Konzepte des Bauhauses zu einem Höhepunkt, während sie in Deutschland durch die Politik immer mehr Restriktionen unterlagen.

Literatur

Die ukrainische Literatur der Avantgarde zeichnet sich durch die Verwendung der eigenen Sprache, den Rückgriff auf ukrainische Traditionen und den Einbezug einer nationalen Komponente aus. Diese Merkmale demonstrierten eine Zugehörigkeit zu einem kulturell europäischen Kontinuum, wobei sich auch ein ambivalenter Umgang mit dem Zeitgeist des Westens wiederfindet, welcher oftmals in polemischen Diskursen geführt wurde.[2] Wichtiger literarische Vertreter sind Mychaj Semenko, Geo Schkurupij, Walerjan Polischtschuk und Majk Jogansen. Alexei Jelissejewitsch Krutschonych verfasste das Libretto für die futuristische Oper Sieg über die Sonne (1913).

Fortografie und Film

In der ukrainischen Avantgarde stieß die künstlerische Moderne aus Deutschland auf starke Resonanz. In der Fotografie wurden vor allem Lázló Moholy-Nagy und Walter Peterhans rezipiert, welche beide in der Fotografie-Abteilung des Bauhauses tätig waren. Die ukrainischen Künstler interessierten sich für das Konzept des Neuen Sehens, für experimentelle und neue Blickwinkel und Perspektiven. Wichtige Vertreter sind unter anderem der Fotograf Dan Sotnyk (Lebensdaten unbekannt) und der futuristische Filmtheoretiker Leonid Skrypnyk (1893–1929).[3]

Literatur

  • Günter Berghaus (Hrsg.): Handbook of international Futurism. de Gruyter, Berlin/ New York 2018, S. 853 ff.
  • Jo-Anne Birnie Danzker, Igor Jassenjawsky, Joseph Kiblitsky (Hrsg.): Avantgarde & Ukraine. Katalog zur Ausstellung „Die Avantgarde und die Ukraine, 1910–1936“ (6. Mai bis 11. Juli 1993) in der Villa Stuck München. Villa Stuck / Klinkhardt & Biermann, München 1993, ISBN 3-7814-0346-7.
  • Valentin Belentschikow: Zu einigen Besonderheiten der ukrainischen literarischen Avantgarde, in: Zeitschrift für Slawistik, Bd. 44, Nr. 2, 1999, S. 181–197.
  • Marina Dmitrieva: Ukrainische Avantgarde-Zeitschriften im internationalen Kontext. In: Pál Dréky, Zoltán Kékesi, Pál Kelemen (Hrsg.): Mitteleuropäische Avantgarden. Intermedialität und Interregionalität im 20. Jahrhundert. Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2006, S. 67–86, ISBN 978-3-631-55138-7 (Digitalisat auf Academia.edu).
  • Zwischen Stadt und Steppe. Künstlerische Texte der ukrainischen Moderne aus den 1910er bis 1930er Jahren. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe. Lukas-Verlag, Berlin, 2012.
  • Die lebende Leiche Kunst. Futurismus in der Ukraine. Zusammengestellt und aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe, in: Schreibheft Nummer 86 (2016), S. 79–135.
  • Vera Faber: Die Ukrainische Avantgarde zwischen Ost und West. Intertextualität, Intermedialität und Polemik im ukrainischen Futurismus und Konstruktivismus der späten 1920er-Jahre. transcript, Bielefeld 2019, ISBN 978-3-8376-4606-1.
  • Myroslav Shkandrij: Avant-Garde Art in Ukraine, 1910–1930. Contested Memory. Academic Studies Press, Boston 2019, ISBN 978-1-61811-975-9 (englisch).

Weblinks

Commons: Ukrainische Avantgarde – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Myroslav Shkandrij: Avant-garde art in Ukraine, 1910–1930: contested memory. Boston 2019, ISBN 978-1-61811-976-6, S. xi.
  2. a b c d Vera Faber: Die Rezeption der deutschen Moderne in der ukrainischen Avantgarde. In: Zeitschrift für Slawistik. Band 60, Nr. 2, 1. Juli 2015, ISSN 2196-7016, S. 228–241, doi:10.1515/slaw-2015-0017.
  3. Bohdan Y. Nebesio: The Theoretical Past of Cinema: Introducing Ukrainian Film Theory of the 1920s. In: Film Criticism, Vol. 20, No. 1/2, Herbst/Winter 1995-96, S. 67–77.

Auf dieser Seite verwendete Medien