Turiner Institutionenglosse

Die sogenannte Turiner Institutionenglosse (auch: Florentiner Rechtsbuch, Turiner Handschrift) ist ein in Latein verfasster, privatrechtssystematischer Kommentar zu den Institutiones des spätantiken Kaisers Justinian. Überwiegend wird angenommen, dass das namentlich nicht bezeichnete und in freier Ordnung geschriebene[1] Werk zwischen 543 und 546 n. Chr. in Rom entstanden ist.[2][3]

Geschichte

Überliefert ist die Glosse der namengebenden Nationalbibliothek Turin in einem Randglossenapparat (glossa marginalis)[4] zu einer Handschrift der Institutionen, die im 6. Jahrhundert das justinianische Gesamtgesetzeswerk des später so genannten Corpus iuris civilis einleitete.[5] Die Institutionen gründeten auf der als Anfängerlehrbuch für den Rechtsunterricht geschaffenen Schriftensammlung des hochklassischen Juristen Gaius, den Institutiones Gai, diese verfasst Mitte des 2. Jahrhunderts. Der pädagogische Zweck der Glosse wird vom Ausgangcharakter der gaianischen Intention nicht abgewichen sein, denn etliche Anmerkungen sind stichwortartig notiert und passen damit zur Konzeption eines Lehrers, der eine Unterrichtsstunde vorbereitet. Die Anmerkungen sind nicht schlagwortartig gelistet, vielmehr als „Glossenkranz“ um den zugrundeliegenden Text drapiert. Die einzelnen Glossen nehmen mittels Verweiszeichen aufeinander Bezug.[5]

Bekannt wurde der Glossenapparat einem kleinen wissenschaftsorientierten Publikum, nachdem Eduard von Schrader darauf aufmerksam gemacht hatte. Erstmals herausgegeben wurde die Sammlung dann im Jahr 1822 von Friedrich Carl von Savigny. Savigny, der rechtsmethodisch in Abkehr zum traditionellen Naturrecht stand, stieß auf den Glossenapparat im Zusammenhang mit seinen Untersuchungen zu einem rechtsphilosophischen Ansatz seiner These, dass alles Rechtsempfinden in einem Volksgeist stets in geschichtlichem Bewusstsein wachse. Er vermutete, dass dessen Wurzeln im (römischen) Gewohnheitsrecht lägen. Weitere Veröffentlichungen folgten, 1868 durch Paul Krüger[6] und 1933 durch Alberto Alberti.[7] Da die Turiner Glosse nie in einer der Sammlungen von römischrechtlichen „Nebenquellen“ aufgenommen worden war, geriet sie nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu in Vergessenheit, denn kaum einer der bedeutenden Rechtsgeschichtsforscher um Fritz Pringsheim, Fritz Schulz, Ernst Levy, Max Kaser und Wolfgang Kunkel hatte die Quelle in den eigenen Rechtsbüchern verwertet.[5]

Zur Geschichte der Glosse ist in der Forschung bis heute vieles umstritten.[5] Unbeantwortet ist die Frage, ob die Glosse das einheitliche Werk eines einzelnen Verfassers ist, oder ob in Wahrheit mehrere Autoren nacheinander daran tätig wurden, sodass von einem Konglomerat von Textschichten auszugehen ist. Für Detlef Liebs erweist sich das Werk ursprünglich als Werkseinheit, was er an den vorhandenen Querverweisen festmacht. Allerdings greift er Paul Krügers Feststellung auf, dass das Werk insgesamt die unterste von etwa fünfzehn sich darüber legenden Schichten sei, deren Überzug er als Bearbeitungen der Glossatoren und Kommentatoren aus der Zeit zwischen dem 10. und dem 15. Jahrhundert identifiziert. Alberto Alberti warf ein, dass bereits die alte Glosse aus verschiedenen Schichten bestanden haben müsse, denn später angeordneten Zitierungsverboten unterliegende Textpassagen seien beispielsweise weiterhin enthalten geblieben, was für Wiederaufnahmeverfahren bei den Bearbeitungen spräche; jüngere Schichten jedoch seien nicht lokalisierbar.

Unbeantwortet ist auch die Frage, wo die Glosse entstanden ist und wann.[2] Franz Wieacker geht bei der zeitlichen Bestimmung von einer Entstehung im 7. Jahrhundert aus, damit einer früheren Handschrift der Institutionen aus dem 6. Jahrhundert nachlaufend, der Theophiliusparaphrase.[8] Contardo Ferrini ging bei der örtlichen Bestimmung davon aus, dass die Sammlung weströmischen Ursprungs sei. Dessen uneingedenk, hätten die dort konzipierten Lehrmethoden im 6. Jahrhundert gleichermaßen für die Rechtsschulen von Beirut und Konstantinopel gegolten. Seiner Auffassung nach hatten die Rechtsschulen dieselbe gaianische Textgrundlage verwendet, gegebenenfalls in griechischer Übersetzung mit griechischem Scholienapparat. Max Conrat hingegen stellte sprachliche Ungereimtheiten fest, woraus er folgerte, es handle sich eher um eine im Osten des Reichs gefertigte Übersetzung eines griechischen Scholienapparates, der, vergleichbar mit der Epitome Iuliani, den Westprovinzen zugutekommen sollte.

Etwa drei Fünftel des „alten“ Glossenapparats sind erhalten geblieben. Vom ersten Buch fehlt der gesamte Anfang bis zum 12. Titel, vom zweiten besteht zwischen dem 20. und 23. Titel eine größere Lücke, das nahezu gesamte dritte Buch hingegen ist erhalten und vom vierten nur noch die Kommentierung der ersten 16 Paragraphen. Der fehlende Teil wurde im späten Mittelalter suppliert. Diese später eingefügten Glossen verteilen sich in unregelmäßiger Manier über das Werk. Nachvollziehen lassen sich Zitate aus den Werken der justinianischen Gesamtgesetzgebung, so vier Codex-,[9] acht Digesten-[10] und fünf Novellae-Stellen[11] und einmal eine zwischenzeitlich verbotene Stelle aus der Lex Decisiones.[12]

Einigkeit besteht in der Forschung darüber, dass die Glosse viele rechtliche Fehler aufweist.[5] So stellt sich die condictio ex causa furtiva aus dem Diebstahlsrecht tatbestandlich überzogen dar. In Abweichung zum Urtext lässt die Glosse Kondiktionsrechte nicht allein gegen den Dieb beziehungsweise gegebenenfalls dessen Erben zu, sondern nimmt jeden Besitzer in Haftung.[13] Liebs Auffassung nach, wurde der Urtext auch im Akkreszenz-, Nießbrauchs-, Stipulations- und Pfandrecht missverstanden.

Ähnliche Glossenapparate

Die Turiner Handschrift scheint nicht der einzige in Umlauf gebrachte Glossenapparat zur justinianischen Gesetzgebung gewesen zu sein, denn die wenigen Fragmente der nicht zuverlässig datierbaren Bamberger Institutionenhandschrift werden dieser Zeit ebenso zugerechnet wie die kurze Inhaltsangabe aus dem 6. Buch des Codex Iustinianus (6, 4, 4.) in der Pistojer Codexglosse.[14][15]

In das frühe 7. Jahrhundert reichen wohl Fragmente eines Veroneser Palimpsests zurück, ins 9. Jahrhundert Bruchstücke des Berliner Rosnyanus.[8]

Literatur

  • Max Conrat (Cohn): Geschichte der Quellen und Literatur des römischen Rechts im früheren Mittelalter. Hinrichs, Leipzig 1891, S. 118 f.
  • Max Conrat (Cohn): Das Florentiner Rechtsbuch. Ein System römischen Privatrechts aus der Glossatorenzeit, Neudruck der Ausgabe Berlin 1882, Scientia Verlag Aalen 1969.
  • August von Bethmann-Hollweg: Der germanisch-romanische Civilprozess im Mittelalter. Band II, Bonn 1873, S. 312 f.
  • Friedrich Carl von Savigny: Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter. Band III, Heidelberg 1822, S. 671–717.
  • Johann Friedrich von Schulte: Die Geschichte der Quellen und Literatur des canonischen Rechts von Gratian bis auf die Gegenwart, 1. Band, erschienen 1875–80, S. 217 ff.
  • Franz Wieacker: Textstufen klassischer Juristen (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Klasse. 3. Folge, Nr. 45). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1960 (Literatur zur Textstufenproblematik).

Weblinks

Anmerkungen

  1. Max Conrat (Cohn): Das Florentiner Rechtsbuch. Ein System römischen Privatrechts aus der Glossatorenzeit, Neudruck der Ausgabe Berlin 1882, Scientia Verlag Aalen 1969, Einleitung, Seite XII: Mangels Eigenbezeichnung und mangels Literaturverweise auf das Werk, käme nach Conrats Auffassung (angelehnt an August von Bethmann-Hollweg und Johann Friedrich von Schulte) allein der Titel „Summa“ beziehungsweise „Summa legum“ in Betracht.
  2. a b Hermann Fitting: Ueber die sogenannte Turiner Institutionenglosse und den sogenannten Brachylogus. Ein Beitrag zu der Geschichte des römischen Rechtes vom sechsten bis zum eilften Jahrhundert. S. 13–27 (Datierung) und 27–32 (Lokalisierung) (online).
  3. Eine andere Auffassung vertritt August von Bethmann-Hollweg: Der germanisch-romanische Civilprozeß im Mittelalter. Band II, Bonn 1873, S. 312 f.
  4. Das bedeutet, dass metatextuelle Überarbeitungen an die Ränder der Vorlagen geschrieben wurden.
  5. a b c d e Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260–640 n. Chr.) (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 8). Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 195–220 (195 f. und 202 f.).
  6. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Band 7, 1868, S. 44–78.
  7. Alberto Albert: La Glossa Torines e le altre glosse del ms. D. III.13 della Biblioteca Nazionale di Torino. Turin 1933, 225 Seiten.
  8. a b Franz Wieacker: Römische Rechtsgeschichte. Quellenkunde, Rechtsbildung, Jurisprudenz und Rechtsliteratur. (= Handbuch der Altertumswissenschaft, Abt. 10, Teil 3); Band 1: Einleitung, Quellenkunde, Frühzeit und Republik, Beck, München 1988, ISBN 978-3-406-32987-6.
  9. Codex Iustinianus 5, 31, 8; 6, 58, 11; 6, 2, 22; und 1, 4, 30;
  10. beispielsweise in Digesten 1, 5, 7 in Nr. 1 Sav.; 10, 4, 12 § 3 in Nr. 67 Sav.
  11. davon zwei aus dem Jahr 535, ansonsten aus den Jahren 536, 539 und 543.
  12. Codex Iustinianus 8, 47, 10.
  13. Vergleiche: Institutiones Iustiniani 2, 1 § 26 (Glosse) mit Gaius 2, 79.
  14. Max Conrat (Cohn): Geschichte der Quellen und Literatur des römischen Rechts im früheren Mittelalter. Hinrichs, Leipzig 1891, S. 118 f.; Hermann Fitting: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte / Romanistische Abteilung 7 (1886) Heft 2, S. 7 f.
  15. Detlef Liebs: Römische Rechtswissenschaft im frühmittelalterlichen Italien. Die Veroneser Scholien zum Codex Justinianus und die Pistojer Codexglosse, Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (online).