Turbokapitalismus

Turbokapitalismus, auch Raubtierkapitalismus, ist ein abwertend politischer Begriff für eine wenig bis nicht eingeschränkte Marktwirtschaft.

Laut Wortschatzbuch Neologismen der 90er Jahre im Deutschen geht der Begriff auf den US-amerikanischen Politikwissenschaftler Edward Luttwak zurück.[1] Karl Bachinger und Herbert Matis ordnen ihn als politisches Schlagwort ein, dem oft wenig präzise Bedeutungsinhalte unterlegt sind.[2]

Begriffsgeschichte

Als Neologismus wurde Turbokapitalismus erstmals 1999 im Wahrig aufgenommen. Das seit Mitte der 1990er Jahre belegbare Synonym „Killerkapitalismus“ setzte sich hingegen nicht durch.[1] Der Duden definiert ab 2006 „Turbokapitalismus“ als „rücksichtsloser, unverhüllt ausschließlich auf Profitmaximierung ausgerichteter Kapitalismus“.[3] Das Wahrig – Wörterbuch der deutschen Sprache definiert Turbokapitalismus dagegen als „rascher Wechsel einer lange Zeit sozialistisch geführten Wirtschaft zum kapitalistischen System (bei Auflösung sozialistischer Staaten)“.[4] Im Wörterbuch Neuer Wortschatz: Neologismen der 90er Jahre im Deutschen wurde die Verwendung des Neologismus „Turbokapitalismus“ untersucht; Turbokapitalismus sei eine Form des Kapitalismus, die durch alleinige Ausrichtung an ständiger Profitmaximierung von Unternehmen unter Ausschluss anderer, insbesondere sozialer Aspekte geprägt sei.[1]

Als Begriff ist er eine Lehnübersetzung des angloamerikanischen Wortes turbocapitalism und geht auf den Wirtschaftswissenschaftler Edward Luttwak vom Center for Strategic and International Studies in Washington zurück, der sich in seinem Buch Turbo-Kapitalismus mit der Marktwirtschaft beschäftigte.[1]

„Der Kapitalismus der neunziger Jahre unterscheidet sich vollkommen von dem der vorangegangenen Dekaden. Deshalb habe ich das Wort Turbokapitalismus erfunden. Es bezeichnet den vollkommen deregulierten, völlig entfesselten Markt, ohne alle schützenden Barrieren. Reichtum schafft der Turbokapitalismus, weil für ihn nur eins zählt: Effizienz.“

Interview mit Edward Luttwak in „Die Zeit“, 1999, Heft 50, S. 25: „Wenige Gewinner, viele Verlierer“.[5]

Laut Rezensent Nils Röller argumentierte Luttwak mit seinem Buch für eine behutsame Eingrenzung des durch die neuen Technologien entfesselten „Turbokapitalismus“. Dieser habe durchaus auch positive Folgen, führe aber zu einer immer weiter auseinander klaffenden Schere zwischen Arm und Reich, was zu vielen politischen Risiken führe. Röller vermerkt mit Erstaunen, dass Luttwak als Sohn eines Unternehmers und Befürworter des Kapitalismus mit Argumenten aufwarte, die vormals von Linken entwickelt wurden, während sich offiziell Linke Regierungschefs von Blair bis Schröder zu rückhaltlosen Anhängern der Deregulierung entwickelt hätten.[6] Einige Autoren sehen Parallelen zwischen Luttwaks Definition von Turbokapitalismus und der „Schöpferischen Zerstörung“ bei Joseph Schumpeter.[7][8] Jürgen Ritsert stellte fest, dass die „Vokabel“ Turbokapitalismus Eingang in die seriöse Presse und sogar in den Jargon einiger Politiker gefunden hat.[9]

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb 1995 „Die sichtbaren Ansätze zum ‚Turbokapitalismus‘ … können die Volkspartei [CSU] nicht auf alten Kissen ausruhen lassen.“[1] Die Zeit formulierte 1998: „Der ‚Turbokapitalismus‘ oder ‚Killerkapitalismus‘ zwingt angeblich dem ganzen Globus seine unbarmherzige Logik auf: Mit ihren billigen Waren werden Niedriglohnländer wie Indien oder China Millionen von Jobs in den reichen Ländern überflüssig machen und die Löhne nach unten drücken.“[1] Die Berliner Zeitung druckte im Jahr 2001: „Es sei entsetzlich, dass keine politische Kraft sich heute gegen die systematische Vernichtung von Arbeitsplätzen durch den Turbo-Kapitalismus wende, der sich nur noch nach Aktienwerten richte.“[1]

2012 benutzte David Cameron die Bezeichnung „Turbokapitalismus“, um die Verantwortung der Labour Party für die Entwicklungen im Vereinigten Königreich zu geißeln. Anstelle dieses versprach er ein Zeitalter eines wahren „popular capitalism“.[10]

Raubtierkapitalismus

Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt warnte 2003 in der Zeit vor „Raubtierkapitalismus“, der die Gesellschaft gefährde. Er bezog den Ausdruck auf den rücksichtslosen Gebrauch der Macht einiger Manager großer Verbände, Konzerne, Geldinstitute und Medienunternehmen.[11] 2007 sprach er von Raubtierkapitalismus im Zusammenhang mit Hedgefonds und Private-Equity-Häusern.[12] In seiner Autobiografie Außer Dienst. Eine Bilanz (2008) führte er die Anfänge auf die frühen siebziger Jahre zurück, „in die Zeit der Wechselkurs-Unordnung nach dem Zusammenbruch des Bretton Woods-Systems“. Aus den Spekulanten, die aus der Freigabe der Wechselkurse Profite gezogen hätten, seien Zehntausende geworden, die international auf alle nur denkbaren künftigen Ereignisse spekulierten.[13]

Literatur

  • Thomas Weiß: Turbokapitalismus? – Zu derzeitigen weltwirtschaftlichen Problemen. In: WSI-Mitteilungen 12/1998. (Statt „turbo“ wird das Bild von der „klappernden Mühle am rauschenden Bach“ für zutreffender als Beschreibung der derzeitigen Weltwirtschaft angesehen.)
  • Robert P. Brenner: Boom & Bubble – Die USA in der Weltwirtschaft. VSA-Verlag, Hamburg 2002. ISBN 3-87975-886-7
  • Elmar Altvater, Frigga Haug, Oskar Negt u. a.: Turbokapitalismus. Gesellschaft im Übergang ins 21. Jahrhundert. VSA-Verlag, Hamburg 1997.
  • Hans-Peter Studer: Die Grenzen des Turbokapitalismus. Fakten und Perspektiven für eine neue Ökonomie. Fischer Media 2001. ISBN 3-85681-473-6
  • Rudolf Hickel: Vom Rheinischen zum Turbo-Kapitalismus In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/2006, S. 1470–1479.
  • Edward Luttwak: Turbokapitalismus. Gewinner und Verlierer der Globalisierung. Europa Verlag, Hamburg Wien 1999. ISBN 3-203-79549-3
  • Fritz Reheis: Entschleunigung. Abschied vom Turbokapitalismus. Riemann, München 2004. (Eine Untersuchung zum Paradox des ständigen Strebens nach Beschleunigung und Zeiteinsparungen mit dem Ergebnis beständig zunehmender Zeitknappheit.)

Weblinks

Commons: Turbokapitalismus – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Turbokapitalismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. a b c d e f g Turbokapitalismus. In: Dieter Herberg, Michael Kinne, Doris Steffens, Elke Tellenbach, Doris Al-Wadi: Neuer Wortschatz: Neologismen der 90er Jahre im Deutschen (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache. Band 11). Walter de Gruyter, 2004, ISBN 978-3-11-017750-3, S. 346.
  2. Karl Bachinger, Herbert Matis: Sozioökonomische Entwicklung: Konzeptionen und Analysen von Adam Smith bis Amartya K. Sen. Band 3074, UTB 2008, ISBN 978-3-8252-3074-6, S. 75.
  3. Stichwort „Turbokapitalismus“ auf Duden online
  4. Stichwort „Turbokapitalismus“ aus Der kleine WAHRIG, Wörterbuch der deutschen Sprache, hrsg. von Renate Wahrig-Burfeind, Ausgabe 2007, ISBN 978-3-577-10236-0
  5. Zitiert nach Jürgen Ritsert, Schlüsselprobleme der Gesellschaftstheorie: Individuum und Gesellschaft, soziale Ungleichheit, Modernisierung, Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialpsychologie, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, ISBN 3-531-16446-5, S. 353
  6. Sueddeutsche Zeitung vom 10. November 1999, Rezension von Nils Röller
  7. Jürgen Ritsert, Schlüsselprobleme der Gesellschaftstheorie, 2009, S. 354
  8. Harald Schumann, Hans-Peter Martin: Die Globalisierungsfalle, 1999, Hamburg, S. 250
  9. Jürgen Ritsert, Schlüsselprobleme der Gesellschaftstheorie, 2009, S. 353
  10. Nicholas Watt: David Cameron pledges era of ‘popular capitalism’ The Guardian, 19. Januar 2012
  11. Helmut Schmidt warnt vor dem "Raubtierkapitalismus". In: presseportal.de. 3. Dezember 2003 (Pressemitteilung der Zeit).
  12. Helmut Schmidt geißelt "Raubtierkapitalismus" der Hedgefonds und ist froh, dass es die Deutsche Bank (gibt). In: welt.de. 1. Februar 2007.
  13. Helmut Schmidt: Raubtierkapitalismus – was kann dagegen getan werden? In: Außer Dienst. Eine Bilanz. Siedler, München 2008, ISBN 978-3-88680-863-2, S. 255–268 (Zitat S. 255).