Geschlechtsdysphorie des Jugend- und Kindesalters

Geschlechtsdysphorie des Kindes- und Jugendalters bezeichnet eine mit Leiden oder Beeinträchtigung einhergehende Inkongruenz zwischen dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht und dem von einem transgeschlechtlichen Kind oder Jugendlichen als richtig empfundenen Geschlecht. Auch das Leiden von intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen, das aufgrund einer Geschlechtszuweisung nach der Geburt empfunden wird, fällt unter den Begriff Geschlechtsdysphorie des Kinder- und Jugendalters. Nicht alle transgeschlechtlichen Menschen empfinden im Zusammenhang mit geschlechtlicher Unstimmigkeit Leid und erleben somit Geschlechtsdysphorie.[1][2] Das Wort Dysphorie kommt vom griechischen Begriff dysphoria, welcher u. a. „schwer zu tragendes Leid“ bedeutet[3] und ist das Antonym zu Euphorie. Anders als im Falle von Erwachsenen stehen bei der Geschlechtsdysphorie des Kinder- und Jugendalters die von einer Geschlechtsdysphorie Betroffenen noch vor oder unmittelbar in der Pubertät.

Geschlechtsdysphorie löste 2013 im DSM, also dem insbesondere im nordamerikanischen Raum gebräuchlichen diagnostischen Handbuch psychischer Störungen, die Diagnose „Geschlechtsidentitätsstörung“ ab, welche wiederum bereits 1994 die Diagnose „Transsexualität“ abgelöst hatte. Das Ziel beider Änderungen war, die Stigmatisierung transgeschlechtlicher Menschen zu verringern.[4][5] Mit der Diagnose Geschlechtsdysphorie erhält nur noch das Leiden von transgender Kindern und Jugendlichen, welche noch im für sie falschen Geschlecht leben, Krankheitswert, und nicht mehr die wie zuvor ihre Transgeschlechtlichkeit an sich. In der aktuellen Ausgabe des ICD, dem von der WHO herausgegebenen und weltweit gebräuchlichen Diagnosehandbuch, wurde „Transsexualität“ stattdessen durch „Geschlechtsinkongruenz“ ersetzt. Die neue Diagnose fällt nicht mehr in die Kategorie psychische bzw. Verhaltensstörung, sondern wird als Zustand sexueller/geschlechtlicher Gesundheit eingeordnet. Diese Klassifizierung folgt der Erkenntnis, dass eine fälschliche Einordnung von geschlechtlich vielfältigen Identitäten als psychisch ungesund die Betroffenen stigmatisiert.[6]

Bei einem Gesamtvorkommen von 1:400 transgeschlechtlicher Menschen in der Bevölkerung[7] und einem sich abzeichnenden 1:1-Verhältnis trangeschlechtlicher Männern und Frauen[8][9] gehen die Schätzungen von etwa 100 betroffenen Jugendlichen in Deutschland aus, die sich im Jahr 2007 in Behandlung befanden.[10] Die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti e. V.) beziffert den Anteil Jugendlicher aus Anfragen 2018 auf 15 %. Dies entspricht etwa 270 betroffenen Jugendlichen bezogen auf die Zahl der Anträge nach §4(3) des Transsexuellengesetzes, die jedes Jahr hinzukommen.[7]

Diagnose nach DSM und ICD

In den Diagnosekatalogen ist es ein Teilbereich der Geschlechtsidentitätsstörung mit einem eigenen Unterpunkt für Kinder.

Nach DSM, dem nordamerikanischen Handbuch der psychischen Störungen, wird definiert, dass sich bei den Betroffenen bereits in frühester Kindheit, etwa im Alter von zwei bis vier Jahren die ersten Merkmale äußern. Als Diagnosekriterium gilt das Tragen von Kleidung des Geschlechts dem sie nicht zugewiesen wurden, was bei älteren Kindern auch in Form von Spielen mit Verkleidung getarnt werde. Weitere Diagnosekriterien seien geschlechtsatypische Verhaltensweisen wie das Spielen mit dem „falschen“ Spielzeug, oder das Spielen mit Spielkameraden des „anderen Geschlechts“. Die Betroffenen versuchten ihre als „biologische Geschlechtsmerkmale“ bezeichneten Körpermerkmale durch möglichst androgyne Kleidung und Auftreten im „anderen“ Geschlecht zu kaschieren. Die Kriterien werden von Menschenrechtsorganisationen weltweit als ungeeignet und oft als Versuch reparativer Therapie angesehen.

Das Auftreten der Merkmale im frühen Kindesalter wird durch die Studienlage[9] erhärtet und ist ein Indiz für einen angeborenen Zustand (und keine psychische Störung). Die weiteren Kriterien sind damit in Frage gestellt, weil sie gesellschaftliche Normen darstellen, die auf eine von solchen Normen unabhängige Geschlechtsidentität angewendet werden.

Während der Pubertät und der einsetzenden Geschlechtsreife verändern sich die Körper zum nicht der seelischen Zugehörigkeit entsprechenden Geschlecht. Transjungen drücken sich durch Brustkorsetts oder Verbände die Brüste ab und behelfen sich durch Attrappen eines männlichen Penis. Transmädchen lassen sich zum Beispiel die Haare lang wachsen oder bedienen sich diverser Kosmetik. Auch sie behelfen sich mittels Attrappen, wie ausgestopften Büstenhaltern, um sich besser dem Stereotyp des eigenen Geschlechtes anzunähern.

Die aktuelle Fassung der ICD, ICD-11[11] bezeichnet Transgeschlechtlichkeit als „gender incongruence“ (HA60), Nichtübereinstimmung des Identitätsgeschlechts mit dem zugewiesenen Geschlecht in der Pubertät und als Erwachsener, eingeordnet in der neuen Kategorie 17, Zustände sexueller/geschlechtlicher Gesundheit, welche keine Kategorie psychischer Störungen oder Krankheiten ist. Die Diagnose kann mit Beginn der Pubertät gestellt werden. Für Kinder vor der Pubertät ist die Diagnose HA61, „gender incongruence in childhood“ vorgesehen.

In der Medizin erfolgt die Kategorisierung über die „Leitlinie Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“.[12]

Soziale Folgen

Durch den gesellschaftlichen Druck sind die Jugendlichen gezwungen, ihre Identität zu unterdrücken und ein geheimes Doppelleben zu führen. Dies kann zu Depressionen und bei schlimmeren Verlauf zum Suizid führen. Durch das unterdrückte Verlangen, dem anderen Geschlecht anzugehören, entwickelt sich ein gestörtes Sozialverhalten. Instabile Partnerschaften und ein gestörtes Sexualleben bis hin zur völligen Isolation vor der Außenwelt können die Folge sein. Die Verzweiflung wegen des als unpassend wahrgenommenen Körpers entwickelt sich oft zu Hass auf den eigenen Körper. Dem folgt in Einzelfällen die Selbstverstümmelung, in seltenen Fällen bei Transmädchen, die selbst vorgenommene Entfernung des Penis (Penektomie). Eine Transgeschlechtlichkeit bei Kindern hat oft in der Schule anhaltendes Mobbing des betroffenen Kindes zur Folge. Dadurch kann es zu schweren psychischen Schäden kommen.

Auch bei einem Outing als transident kommt es oft zur Ausgrenzung des Betroffenen durch sein Umfeld wie im Kindergarten oder in der Schule. Spannungen innerhalb der Familie können auftreten. Oft wird versucht, durch therapeutische Maßnahmen oder religiös motivierte „reparative“ Therapien das betroffene Kind in die für sein biologisches Geschlecht typischen Verhaltensweisen zu zwingen. Solche so genannten Zwangssozialisierungsmaßnahmen sind u. a. die Mitgliedschaft in einem Sportverein oder Beteiligung an Veranstaltungen, die für das körperliche Geschlecht typisch sind. Im Falle eines Transmädchens kann dies zum Beispiel die Mitgliedschaft in einem Fußballverein sein, der das männliche stereotype Verhalten des Kindes fördern soll. In einer Studie des Deutschen Jugendinstituts gaben 96 % der befragten transidenten und nicht-binären Jugendlichen an, in der Öffentlichkeit Diskriminierung erfahren zu haben.[13]

Studien[9][14][15] belegen, dass Depressionen und Suizidgefahr in erster Linie von einem unterstützenden (aus Sicht der betroffenen Jugendlichen) oder ablehnenden familiären, schulischem und medizinischen Umfeld nebst Verfügbarkeit einer qualifizierten Versorgung bestimmt werden.

Literatur

  • Mirjam Siedenbiedel: Selbstbestimmung über das eigene Geschlecht: rechtliche Aspekte des Behandlungswunsches transsexueller Minderjähriger. Nomos, 2016, ISBN 978-3-8487-3366-8.
  • Bernd Meyenburg: Geschlechtsdysphorie im Kindes und Jugendalter. Kohlhammer, Stuttgart, 2020, ISBN 978-3-17-035126-4.
  • Wilhelm F. Preuss: Geschlechtsdysphorie, Transidentität und Transsexualität im Kindes und Jugendalter. 2. Auflage. Reinhardt, München 2019, ISBN 978-3-497-02869-6.
  • Gerhard Schreiber (Hrsg.): Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften: Ergebnisse, Kontroversen, Perspektiven. De Gruyter, Berlin/Boston 2016, ISBN 978-3-11-044080-5.
  • Hans-Christoph Steinhausen: Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen: Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Elsevier, München 2006, ISBN 3-437-21562-0, S. 351–353.
  • Erik Schneider: Normierte Kinder: Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz. Transcript, Berlin 2015, ISBN 978-3-8376-2417-5.
  • Peter Keins: Trans*Kinder: Eine kleine Fibel. CreateSpace Independent Publishing Platform, 2015, ISBN 978-1-5087-8966-6.

Weblinks

Youtube-Videos:

Einzelnachweise

  1. Psychiatry.org - What is Gender Dysphoria? Abgerufen am 7. Juli 2022 (englisch).
  2. Zowie Davy, Michael Toze: What Is Gender Dysphoria? A Critical Systematic Narrative Review. In: Transgend Health. 2018, doi:10.1089/trgh.2018.0014.
  3. dysphoria | Etymology, origin and meaning of dysphoria by etymonline. Abgerufen am 7. Juli 2022 (englisch).
  4. Gender Dysphoria in the DSM-5: The Change in Terminology. 25. Februar 2022, abgerufen am 7. Juli 2022 (amerikanisches Englisch).
  5. Psychiatry.org - Gender Dysphoria Diagnosis. Abgerufen am 7. Juli 2022 (englisch).
  6. Gender incongruence and transgender health in the ICD. Abgerufen am 7. Juli 2022 (englisch).
  7. a b Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BmJV): Geschäftsbelastungen (Gerichte und Staatsanwaltschaften). In: Bundesjustizamt.de. 2019 (Downloadseite).
  8. Bernd Meyenburg, Karin Renter Schmidt, Gunter Schmidt: Begutachtung nach dem Transsexuellengesetz. In: Zeitschrift für Sexualkunde. Band 28, Nr. 2, 2015, S. 107–120 (Volltext: doi:10.1055/s-0035-1553083).
  9. a b c Johanna Olson, Sheree M. Schrager u. a.: Baseline Physiologic and Psychosocial Characteristics of Transgender Youth Seeking Care for Gender Dysphoria. In: Journal of Adolescent Health. Band 57, Nr. 4, 1. Oktober 2015, S. 374–380 (englisch; Volltext: doi:10.1016/j.jadohealth.2015.04.027).
  10. Bettina Maierhofer: Transsexualität: Gefangen im falschen Körper. (Memento vom 3. März 2013 im Internet Archive) In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 16. Juli 2007, abgerufen am 1. März 2021.
  11. icd.who.int WHO ICD-11 (Joint Linearization for Mortality and Morbidity Statistics)
  12. Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung, auf awmf.org
  13. Kerstin Oldemeier, Claudia Krell: „Coming-out – und dann …?!“ In: Handbuch Kindheits- und Jugendsoziologie. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2018, ISBN 978-3-658-04207-3, S. 407–424, doi:10.1007/978-3-658-04207-3_30.
  14. Association of Gender-Affirming Hormone Therapy With Depression, Thoughts of Suicide, and Attempted Suicide Among Transgender and Nonbinary Youth, auf jahonline.org
  15. Evaluation of Anxiety and Depression in a Community Sample of Transgender Youth