Todesfall Volkan Kaya

Der Tod des sechsjährigen Jungen Volkan Kaya ereignete sich am 26. Juni 2000 in Hamburg, als er beim Spielen auf dem Schulgelände von zwei Kampfhunden getötet wurde.[1] Sein Tod löste deutschlandweit eine intensive Debatte über die Einführung einer Kampfhundeverordnung sowie Kritik an den Behörden, deren Versagen den Tod des Jungen ermöglichte, aus.[1] Daraus resultierte schließlich die Verabschiedung des Hundeverbringungs- und -einfuhrbeschränkungsgesetzes sowie die Verschärfung beziehungsweise Ergänzung bestehender Hundegesetze auf Landesebene.

Ermittlungen

Hergang

Am 26. Juni 2000 um 11:40 Uhr spielte Volkan Kaya zusammen mit anderen Kindern auf der Wiese neben seiner Grundschule Fußball. Zeitgleich führten der 23-jährige Ibrahim K. und seine Freundin, die 19-jährige Silja W., ihre beiden Pitbull-Mischlinge, Zeus und Gipsy, im Hof ihres Mietshauses aus. Plötzlich lief Gipsy auf die Spielwiese der Grundschule hinüber, der zweite Hund Zeus rannte kurz darauf ebenfalls los. Sie rannten auf die spielenden Grundschulkinder los und stürzten sich auf Volkan. Die Hunde rissen ihn um und verbissen sich in Gesicht, Kopf und Nacken des Jungen. Beim Versuch die Hunde aufzuhalten, wurde Ibrahim K. selbst durch Bisse in den Arm verletzt.

Die Schreie um Hilfe alarmierten zwei Personen, den 33-jährigen Hüseyin Aydogdu und den 29-jährigen Dragan Juric, welche umgehend zum Ort des Geschehens rannten und versuchten, die beiden Hunde von Volkan wegzuzerren.[2]

Nach kurzer Zeit trafen mehrere Polizeistreifen am Ort des Geschehens ein, nachdem eine 13-jährige Schülerin einen Notruf abgesetzt hatte.[2] Der Angriff der beiden Hunde auf den Jungen dauerte noch ca. 10 Minuten an, bevor ein Beamter den ersten und kurz darauf zweiten Schuss auf den Hund Zeus abgab. Aus kürzester Distanz feuerte der Polizist sein ganzes Magazin leer, woraufhin der Hund von Volkan K. abließ und leblos auf der Wiese liegen blieb. Der zweite Hund flüchtete in ein Gebüsch, woraufhin ein Polizeibeamter ihm folgte und schließlich sieben Kugeln auf Gipsy feuerte.

Zeitgleich traf ein Notarzt am Ereignisort ein, um Volkan zu versorgen. Dieser leitete umgehend Reanimationsmaßnahmen ein, doch aufgrund der massiven Verletzungen in Gesicht und Kopf verstarb der Junge noch auf dem Schulhof.[3]

Rechtsmedizinisches Gutachten

Die Obduktion des verstorbenen Volkan Kaya und der beiden Hunde Zeus und Gipsy führte der Rechtsmediziner Michael Tsokos am Rechtsmedizinischen Institut der Universität Hamburg durch.[4]

Hauptverantwortlicher Hund

Um festzustellen, welchem der beiden Hunde die tödlichen Verletzungen im Rahmen des Angriffes zuzuordnen waren, öffnete Tsokos den Magen des Rüden Zeus. Darin fanden sich die zentralen Gesichtsteile des Jungen einschließlich Nase und Oberlippenregion sowie Augenregion und große Teile der behaarten Kopfhaut.

Im Magen des weiblichen Hundes Gipsy fanden sich ebenfalls Anteile des Gesichts und der Kopfhaut, jedoch in deutlich geringerem Ausmaß als beim Rüden. Somit konnten dem männlichen Hund die tödlichen Anteile der Beißattacke zugeordnet werden, welche zum erheblichen Blutverlust und damit zum Tod von Volkan geführt hatten.[5]

„Der Kampfhund Zeus hatte Volkans Gesicht bei der Beißattacke wie eine Faschingsmaske aus Latex heruntergerissen“, schreibt Michael Tsokos in seinem Buch Die Zeichen des Todes.

Kenntnisse der Sicherheitsbehörden

Bereits lange bevor Volkan Kaya im Juni 2000 zu Tode kam, hatten die deutschen Behörden umfangreiche Kenntnis von Ibrahim K. und den beiden Kampfhunden Zeus und Gipsy.

Ibrahim K. war in den 1990er Jahren bereits mehrmals polizeiauffällig geworden, unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung, schweren Diebstahls, Drogendelikten sowie Hausfriedensbruch. Jedoch wurde er aufgrund seines jugendlichen Alters damals nicht verurteilt. Nachdem er seine Lehre abgebrochen hatte, schaffte er sich einen Kampfhund an, einen Pitbull-Mischling namens Zeus. Diesen ließ er ohne Leine und Maulkorb durch die Straßen des Wilhelmsburger Bahnhofviertels laufen.

Im April 1998 fiel Zeus einen Schäferhund sowie dessen Besitzerin an und verletzte beide. Die Frau erstattete daraufhin Anzeige gegen Ibrahim K. Er wurde zu einer Geldstrafe von 1600 DM verurteilt und erhielt zudem vom Ordnungsamt die Auflage, mit Zeus beim Amtstierarzt zu erscheinen. Dieser begutachtete den Hund und befand, dass der Pitbull-Mischling „nicht bissig“ sei, wenn auch „scharf gegenüber anderen Rüden“. Folglich wurde Ibrahim K. dazu verpflichtet, Zeus künftig an der Leine zu führen, wenn er mit ihm die Wohnung verließ.

Die Einhaltung dieser Auflagen wurde jedoch weder vom Ordnungsamt noch von der Polizei überprüft. Zeugen berichten, dass Ibrahim K. seinen Kampfhund stets ohne Leine und ohne Maulkorb laufen ließ. Er schenkte seiner Freundin, Silja W., gleichfalls einen Pitbull-Mischling, genannt Gipsy. Ibrahim K. und seine Freundin Silja W. nutzten die Spielwiese neben ihrem Mietshaus als Trainingsplatz für die Kampfhunde. Nachbarn beobachteten immer wieder, wie Ibrahim K. bevorzugt Kinderschaukeln für das Beißtraining verwendete. Das Gartenbauamt ersetzte innerhalb von zwei Jahren rund 50 zerbissene Schaukeln im Wilhelmsburger Bahnhofsviertel.[6]

Im April 2000 verletzte Zeus schließlich einen Labrador, woraufhin dessen Besitzer Anzeige erstattete. Jedoch unterlief bei der polizeilichen Aufnahme ein Fehler, weshalb es unbemerkt blieb, dass der Kampfhund bereits zugebissen hatte. Die Behörden verfügten lediglich, dass der Hund erneut dem Amtstierarzt vorgeführt werden sollte.

Im selben Monat verletzte der Kampfhund innerhalb von zwei Tagen einen Beagle und einen Schäferhund. Der Beagle erlag kurz darauf den Verletzungen, die er durch die Beißattacke von Zeus erlitten hatte. Die Besitzer beider Tiere erstatteten Anzeige. Daraufhin wurde sowohl Leinen- als auch Maulkorbpflicht für Zeus angeordnet, die amtliche Post erreichte jedoch nicht den vorgesehenen Empfänger.[7]

Auch der zweite Hund, Gipsy, verletzte kurz nacheinander einen anderen Hund und biss einem 11-jährigen Mädchen in den Arm. Erneut wurde Anzeige erstattet.

Laut Silja W. habe ihr Freund Ibrahim seinen Hund zeitweise mit schweren Ketten um den Hals laufen lassen, ihn getreten und mit Eisenstangen geschlagen. Mit diesen Methoden wollte er Zeus „zum stärksten Kampfhund der Stadt“ drillen.[8]

Im Jahr 1999 war Ibrahim K. außerdem wegen Drogenhandels und Körperverletzung angezeigt worden.[9]

Reaktionen

Öffentlichkeit

Der Vorfall löste große öffentliche Empörung aus und sorgte wochenlang bundesweit für Schlagzeilen. Einen Tag nach dem Todesfall, am 27. Juni 2000, legten Schulkinder Blumen auf die Stelle, an der Volkan Kaya starb.[1] In einer schlichten Feier gedachten Schüler, Eltern und Nachbarn des Geschehens und die Schüler pflanzten einen Ahornbaum.[10] Außerdem wurden die Diskussionen über eine Kampfhundeverordnung wieder angefochten und übten großen Druck auf Politik und Behörden aus.

Politik

Seit Beginn der 1990er Jahre wurde in Deutschland über die Einführung einer Kampfhundeverordnung diskutiert. Erst durch die Tötung des sechsjährigen Volkan und den daraus resultierenden, enormen öffentlichen Drucks auf die Politik wurde entschieden, schärfere Gesetze und Vorschriften zum Umgang mit gefährlichen Hunden auf den Weg zu bringen. Die Innenministerien aller Bundesländer erarbeiteten strenge Verordnungen und Gesetze für Hundebesitzer.

Am 21. April 2001 trat in Deutschland schließlich das Gesetz zur Bekämpfung gefährlicher Hunde, später umbenannt in das Gesetz zur Beschränkung des Verbringens oder der Einfuhr gefährlicher Hunde in das Inland (kurz: HundVerbrEinfG), auf Bundesebene in Kraft.

Auf Länderebene erließen die Bundesländer eigene Hundegesetze, Verordnungen und Rasselisten. In Nordrhein-Westfalen wurde beispielsweise eine Rasseliste, mit Hunden die als besonders gefährlich gelten, erstellt: American Staffordshire, Bullterrier, Pitbull Terrier und Staffordshire Bullterrier. Parallel dazu verabschiedete Hamburg nur zwei Tage nach dem Vorfall die strengste Hundeverordnung Deutschlands.[11]

Strafprozess

Im Januar 2001 wurde der Prozess am Landgericht Hamburg mit großem Medieninteresse eröffnet und das Paar musste sich vor dem Jugendschwurgericht verantworten.[2]

Ibrahim K. wurde wegen Körperverletzung mit Todesfolge (Höchststrafe: 15 Jahre Gefängnis) und seine Freundin Silja W. wegen fahrlässiger Tötung (Höchststrafe: 5 Jahre Gefängnis) angeklagt. Die Staatsanwaltschaft forderte 8 Jahre und 6 Monate Haft für Ibrahim K. und 2 Jahre und 9 Monate Jugendstrafe für Silja W. Ibrahims Verteidiger drängte auf Freispruch für seinen Mandanten.[12]

Urteil

Beide Angeklagten hatten sich der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht. Einen Körperverletzungsvorsatz konnte das Gericht nicht erkennen, da die Angeklagten die Verletzung eines Menschen nicht billigend in Kauf genommen hätten und da Zeus, laut amtstierärztlichem Gutachten als „nicht bissig“ eingeschätzt worden war. Dennoch hätten sie in hohem Maße pflichtwidrig gehandelt.[13]

„Beide handelten aus einer Mischung aus Unwissenheit, Unverstand, vor allem aber aus in Egoismus wurzelnder Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit, aus Nachlässigkeit und Sorglosigkeit“

Egbert Walk, Vorsitzender Richter[14]

Ibrahim K. wurde als Halter des Pitbull-Mischlings Zeus zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Strafmildernd wurde ihm angerechnet, dass der Angeklagte „mit aller Kraft“ versucht hätte, das Leben des Jungen zu retten, als die Hunde den sechsjährigen Volkan „wie eine Beute zerfleischten“.[13]

Silja W. erhielt eine Jugendstrafe von einem Jahr unter Strafaussetzung zur Bewährung. Die Schwere der Schuld war auch bei ihr unverkennbar, weshalb sie eine, im Jugendstrafrecht seltene, Freiheitsstrafe erhielt. Während der Bewährungszeit durfte die Frau zudem keine Hunde halten und musste an zehn Wochenenden Arbeitsleistungen sozialer Art erbringen. Strafmildernd wurde ihr angerechnet, dass sie Reue gezeigt und vor Gericht ein Teilgeständnis abgelegt hatte.[15]

Revision

Nachdem sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung Revision gegen das Urteil eingelegt hatten, wurde der Prozess um Volkan Kayas Tod durch den 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs überprüft. Die Staatsanwaltschaft kritisierte, dass das Hamburger Urteil Rechtsfehler zugunsten des Angeklagten Ibrahim K. enthalten habe. Die Bundesrichter befanden aber ebenfalls, dass ein Körperverletzungsvorsatz zu verneinen sei, und verwarfen die Revision.[15]

Sonstiges

Im Januar 2003 wurde Ibrahim K. in die Türkei abgeschoben.[1]

Literatur

  • Michael Tsokos: Die Zeichen des Todes. Droemer Verlag, ISBN 978-3-426-30205-7, S. 48–68.

Einzelnachweise

  1. a b c d Olaf Wunder: Sechsjähriger von Kampfhunden getötet: Volkans Tod löste ein politisches Erdbeben aus. 19. Juli 2020, abgerufen am 10. Februar 2021 (deutsch).
  2. a b c PROZESSE : „Schießt mich auch gleich tot“ - DER SPIEGEL 1/2001. Abgerufen am 11. Februar 2021.
  3. Michael Tsokos: Die Zeichen des Todes. Droemer Verlag, 2019, ISBN 978-3-426-30205-7, S. 49,53.
  4. Michael Tsokos: Die Zeichen des Todes. Droemer Verlag, ISBN 978-3-426-30205-7, S. 55.
  5. Michael Tsokos: Die Zeichen des Todes. Droemer Verlag, ISBN 978-3-426-30205-7, S. 58,59.
  6. Michael Tsokos: Die Zeichen des Todes. Droemer Verlag, ISBN 978-3-426-30205-7, S. 49–50.
  7. Michael Tsokos: Die Zeichen des Todes. Droemer Verlag, ISBN 978-3-426-30205-7, S. 51,52.
  8. Michael Tsokos: Die Zeichen des Todes. Droemer Verlag, ISBN 978-3-426-30205-7, S. 52.
  9. Michael Tsokos: Die Zeichen des Todes. Droemer Verlag, ISBN 978-3-426-30205-7, S. 53.
  10. Martin Kopp: "Wie könnte ich ihn je vergessen". In: DIE WELT. 26. Juni 2001 (welt.de [abgerufen am 10. Februar 2021]).
  11. Michael Tsokos: Die Zeichen des Todes. Droemer Verlag, ISBN 978-3-426-30205-7, S. 63,64.
  12. Michael Tsokos: Die Zeichen des Todes. Droemer Verlag, ISBN 978-3-426-30205-7, S. 59.
  13. a b Michael Tsokos: Die Zeichen des Todes. Droemer Verlag, ISBN 978-3-426-30205-7, S. 60.
  14. Quelle S. 60
  15. a b Michael Tsokos: Die Zeichen des Todes. Droemer Verlag, ISBN 978-3-426-30205-7, S. 61.