Tim im Lande der Sowjets

Tim im Lande der Sowjets (franz. Originaltitel: Tintin au pays des Soviets) ist das eigentlich erste Comicalbum aus der Reihe Tim und Struppi des belgischen Zeichners Hergé, das zunächst von 1929 bis 1930 als wöchentliche Fortsetzungsgeschichte in der Zeitschrift Le Petit Vingtième erschien.

Handlung

Der junge Brüsseler Reporter Tim fährt mit seinem Hund Struppi im Zug nach Moskau, um von dort zu berichten. Doch während der Zugfahrt wird er das Opfer eines sowjetischen Geheimpolizisten, der ihn als einen Angehörigen des Bürgertums betrachtet. Dieser zündet eine Bombe, durch die das Abteil, in dem sich Tim befindet, weggesprengt wird. Tim überlebt, wird jedoch von der Berliner Polizei für das Attentat verantwortlich gemacht. In seiner zerfetzten Kleidung gelingt es ihm, der deutschen Polizei zu entkommen, und er gelangt mit einem Zug in die Sowjetunion (u. a. in die Rajon Stoubzy), wo der sowjetische Geheimpolizist erneut auf ihn aufmerksam wird und die örtliche Administration auf ihn ansetzt.

Tim erkennt bei seiner Reise durch das Land, dass die sowjetische Wirtschaft nicht funktioniert, freie Wahlen nicht stattfinden und Repressionen der Kommunisten die Tagesordnung bestimmen. Mittels eines Flugzeugs entkommt Tim nach Berlin, wo er eine Verschwörung des sowjetischen Geheimdienstes, alle europäischen Hauptstädte mittels Dynamit wegzubomben, aufdeckt und der Berliner Polizei meldet. Tim ist nun rehabilitiert und reist sodann mit dem Zug heim nach Brüssel, wo eine große Menschenmenge schon auf ihn wartet und ihn feiert.

Hintergrund

In Tim im Lande der Sowjets wird der Kommunismus in humoristischer Weise stark kritisiert. Aufgrund des Erfolges seiner neuen Abenteuergeschichte zeichnete Hergé nach Tim im Lande der Sowjets weitere Tim-und-Struppi-Comics, beginnend mit Tim im Kongo, der später als Band 1 veröffentlicht wurde und den er im Gegensatz zum eigentlichen ersten Abenteuer nachkolorierte.

Tim im Lande der Sowjets wurde über Jahre kaum nachgedruckt, da Hergé den ersten Comic als „Jugendsünde“ bezeichnete. Nachdem es jedoch vermehrt zu Raubdrucken kam, erlaubte er 1973 erstmals einen offiziellen Nachdruck.[1] Doch erst seit den achtziger Jahren wurde die Geschichte wieder regelmäßig nachgedruckt und als Band 0 in der Albennummerierung aufgenommen.[2]

Das trostlose Bild, das Hergé von der Sowjetunion zeichnet, ist zwar teilweise übertrieben, aber im Großen und Ganzen zutreffend. Ein Bericht von Malcolm Muggeridge von einer Reise durch die Sowjetunion im März 1933 zeigt beispielsweise auch die Misshandlung von Bauern. Hergés praktisch einzige Quelle über die Zustände in der Sowjetunion war das Buch Moscou sans Voiles (Moskau ohne Schleier) des belgischen Konsuls Joseph Douillet aus dem Jahr 1928, das eine stark antikommunistische Tendenz hatte. Ganze Passagen wurden davon direkt in den Comic übernommen, etwa die Wahlszene auf Seite 35: Es ist die Abbildung einer Volksversammlung zu sehen. Der Vorsitzende sagt, es lägen drei Listen vor. Die erste sei diejenige der KPdSU. Die Frage, ob jemand gegen diese Liste sei, stellt er dann mit vorgehaltener Pistole. Da sich – natürlich – niemand meldet, ist sie gewählt. Später sollte es geradezu zu einem Markenzeichen Hergés werden, dass er sehr akribisch auf die Präzision der von ihm dargestellten Orte und Kulturen achtete.

Heute weiß man, dass die radikale Neuorganisation der sowjetischen Landwirtschaft, die Politik der verschärften Zwangsrequirierungen („außerordentliche Maßnahmen“), der Holodomor, die Gleichschaltung des Landes, der Kriegskommunismus und der Große Terror Millionen Tote forderte. Die Bolschewiki und die Geheimpolizei (die Tscheka und deren Nachfolgeorganisationen) schreckten dabei auch nicht vor dem Einsatz von ökonomischer, physischer und psychischer Gewalt zurück und Millionen Menschen verhungerten und wurden in Gulags verschleppt. In dieser Hinsicht hat Hergé aus heutiger Sicht ein sehr authentisches Bild gezeichnet.

Im Lande der Sowjets wurde nicht nach- oder umgezeichnet und bis zum Tode Hergés auch nicht nachkoloriert, wie es bei den meisten späteren Bänden der Fall war. Daher erkennt man im Band auch die zeichnerische Entwicklung Tims (und seines Schöpfers) deutlich. Während Tim am Anfang des Bandes noch in sehr groben Zügen gezeichnet wurde, nähern sich seine Züge gegen Ende des Bandes jenen der späteren Werke Hergés an. Eine Rolle spielte dabei auch, dass Tim im Lande der Sowjets unter großem Zeitdruck entstand, denn Hergé brauchte für Le Petit Vingtième schnell eine Nachfolgegeschichte zu Les aventures de Flup, Nénesse, Poussette et Cochonnet. Er hatte noch nicht einmal ein Skript für die Geschichte, sondern entwickelte sie von Woche zu Woche weiter.

Zeichnerisch zeigen sich dennoch bereits in diesem Werk einige der späteren Stärken Hergés: So werden etwa die Fluchtfahrzeuge, die Tim benutzt, detailliert den realen Vorbildern nachgezeichnet. Dabei gelingt Hergé auch eine sehr lebendig wirkende Darstellung der Geschwindigkeit. Im Lande der Sowjets war vom Erzählstil her für Europa eine Revolution, denn bisher hatte man Zeichnungen zur Illustration einer Geschichte verwendet (vgl. Max und Moritz von Wilhelm Busch), nun wurden erstmals durchgehend Sprechblasen eingesetzt. Als Allererster in Europa hatte diese Technik nur Alain Saint-Ogan in seinem Comic Zig et Puce 1925 angewendet. 1931 trafen sich die beiden Comiczeichner in Paris, denn Hergé ersuchte um Saint-Ogans Rat. Sie blieben ihr Leben lang enge Freunde.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Abenteuern ist die Geschichte bisher nicht als Hörspiel, auch nicht in anderen Sprachen, oder als Film adaptiert worden. 2016 kündigte Moulinsart in Kooperation mit dem Verlag Casterman eine nachkolorierte Version an, die im Januar 2017 erschienen ist.

Der Brüsseler Nordbahnhof Anfang des 20. Jahrhunderts, an dem Tim erwartet wurde. Das Gebäude wurde später abgerissen, weil 1952 ein neues Gebäude errichtet wurde.

Ein Jahr nachdem die Geschichte beendet wurde, inszenierte man für die Zeitung Le Petit Vingtième am Brüssler Nordbahnhof Tims Ankunft, bei dem eine große Menschenmenge ihn erwartet.

Tims erstaunliche Fähigkeiten

Obwohl eine comictypische Überzeichnung auch Tims spätere Abenteuer bestimmt, ist wohl der Umstand, dass Hergé Tim im Lande der Sowjets als wöchentliche Fortsetzungsgeschichte veröffentlichte und sich gezwungen sah, die Leser besonders zu unterhalten, möglicherweise mitverantwortlich dafür, dass Tim im Laufe der Geschichte eine ganze Reihe schier außergewöhnlicher Fähigkeiten präsentiert:

  1. Er überlebt die Explosion einer Bombe, die zehn Waggons eines Personenzuges zerstört und 218 Menschen tötet.
  2. Er verprügelt verschiedene Personen, die fast alle größer als er und körperlich deutlich überlegen sind: einen deutschen Polizisten, einen GPU-Agenten, der ihn nach einem Unfall gefangen nehmen will, den GPU-Agenten Wirchwoff, einen muskelbepackten Wanderer, der ihn im gefrorenen Zustand findet, sowie drei als deutsche Polizisten verkleidete GPU-Agenten.
  3. Er überlebt einen Motorradunfall, einen Autounfall mit einem gestohlenen Auto, einen Unfall mit einem selbstgebauten Schienenfahrzeug und zum Ende der Geschichte einen Unfall, bei dem er, mit 150 km/h fahrend, aus seinem Auto in das Fenster eines fahrenden Zuges geschleudert wird.
  4. Sein Auto wird von einer Fliegerbombe getroffen und wenige Sekunden später von einem Zug erfasst. Tim überlebt und reist auf der Spitze des Zuges sitzend die 1.125 km von Berlin nach Stoubzy in Minskaja Woblasz (heute Belarus), welches zum Fertigstellungszeitpunkt der Geschichte aber in Polen lag.
  5. Er holt mit einer Draisine beinahe einen fahrenden Zug ein.
  6. Er baut aus Schrott binnen weniger Minuten ein Kraftfahrzeug.
  7. Er entkommt, zu Fuß über beidseitig von Felsen begrenzte Schienen laufend, einem Güterzug in voller Fahrt.
  8. Er überlebt einen Sturz in einen offenen Gullydeckel.
  9. Er zerstört durch Niesen ein massives Stahlgitter.
  10. Er überlebt den Beschuss aus einem Maxim-Maschinengewehr und den Untergang seines Schnellbootes.
  11. Er überlebt einen schweren Unfall mit einem weiteren Schnellboot, bei dem er aus der Kabine geschleudert wird.
  12. In seiner unmittelbaren Nähe detoniert ein mit einem Öltank beladener Karren, mehreren Artilleriegranaten sowie eine Kanone.
  13. Er zerlegt einen Automotor ohne Schwierigkeiten in Einzelteile und verbessert die Leistung des Fahrzeugs erheblich.
  14. Er benutzt einen Helmtauchanzug.
  15. Er entkommt dem Beschuss mit Karabinern und Pistolen aus wenigen Metern Entfernung durch Untertauchen.
  16. Er schleicht sich ohne Probleme in eine geheime KPdSU-Parteisitzung, verkleidet sich wenig später als Soldat und schleicht sich in eine militärische Einheit.
  17. Er tauscht unbemerkt die Patronen eines ganzen Zuges gegen Platzpatronen aus, um seinen eigenen Tod bei einer standrechtlichen Erschießung vorzutäuschen.
  18. Er überlebt einen Schneesturm, bei dem er vollständig eingeschneit wird, in leichter Kleidung.
  19. Ihm wird mit einem Gewehr in den Rücken geschossen.
  20. Er besiegt einen ausgewachsenen Braun- oder Polarbären im Zweikampf mit bloßen Händen.
  21. Er wird vollständig eingefroren, ist aber schon wenige Sekunden nach dem Auftauen dazu in der Lage, einen Faustkampf auszutragen.
  22. Er wird im vollen Galopp von einem Pferd abgeworfen.
  23. Er steuert mit Leichtigkeit ein Flugzeug und überlebt, als der Blitz in den Motor einschlägt und das Flugzeug abstürzt.
  24. Er schnitzt, augenscheinlich in kurzer Zeit, zwei funktionstüchtige Propeller für das Flugzeug aus einem Baumstamm, wobei er nur sein Taschenmesser verwendet.

Im Verlauf der Geschichte ist nie zu sehen, dass Tim über größere Schmerzen klagt, er bedarf auch nie ärztlicher Behandlung und versteht nebenbei anscheinend fließend Russisch und spricht es auch akzentfrei.

Literatur

  • Hergé: Les aventures de Tintin, reporter du „Petit Vingtième“ au pays des Soviets. Casterman, Paris / Tournai 1981, ISBN 2-203-01101-7 (französisch, Erstausgabe: 1930, Nachdruck der Erstausgabe).
  • Hergé: Tim und Struppi im Lande der Sowjets. 1. Auflage. Carlsen, Hamburg 1988, ISBN 3-551-02929-6.
  • Michael Farr: Auf den Spuren von Tim & Struppi. Carlsen Comics, Hamburg 2006, ISBN 3-551-77110-3 (französisch: Tintin – Le rêve et la réalité.).

Einzelnachweise

  1. Thompson, Harry: Tintin: Hergé and his Creation. London: Hodder and Stoughton. 1991, S. 30 ff. sowie Tintin au pays des Soviets (Memento des Originals vom 19. April 2012 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.tintin.com (Offizielle französische Seite zu Tim und Struppi und dem entsprechenden Band)
  2. Der deutsche Band Tim und Struppi im Lande der Sowjets wurde vom Carlsen-Verlag unter anderem 1988, 1989, 1996 und 2005 nachgedruckt.

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