Systemtheorie des Rechts

Die Systemtheorie des Rechts ist eine soziologische Theorie des Rechtssystems. Sie ist eine unter dem Einfluss der soziologischen Systemtheorie entstandene jüngere Entwicklung in der Rechtstheorie, die das Verhältnis von Recht und Gesellschaft im Sinne einer gesellschaftstheoretischen Reflexion des Rechts untersucht.[1]

Im Zusammenhang mit der Globalisierung befasst sich die Systemtheorie des Rechts außerdem mit den verschiedenen staatlichen und nicht-staatlichen Rechtsordnungen in der Weltgesellschaft. Diese werden als Teile eines globalen Rechtssystems verstanden, in dem jede Teil-Rechtsordnung eine Regulierungsaufgabe erfüllt, die keine andere allein übernehmen kann und die in Wechselwirkung zueinander stehen.[2]

Die Systemtheorie greift sowohl konzeptionell als auch begrifflich auf kybernetische Modelle zurück sowie auf Modelle zur Beschreibung biologischer Systeme, die vor allem zur abstrakten Beschreibung von „Leben“, vom Fließgleichgewicht beim Stoffwechsel oder in ökologischen Modellen Verwendung gefunden haben.

Die Hauptströmung charakterisieren die Konzepte von Niklas Luhmann und Gunther Teubner; es finden sich aber auch andere systemtheoretische Einflüsse. Weitere wichtige Beiträge kommen von Gralf-Peter Calliess, Andreas Fischer-Lescano, Werner Krawietz, Dan Wielsch und Thomas Vesting.

Recht als soziales System

Die Systemtheorie beobachtet ausnahmslos alles Beobachtbare (den Beobachter eingeschlossen) als Systeme unterschiedlicher Größe, Struktur und Komplexität. Ein System ist konstituiert durch die Unterscheidung – die sog. Leitdifferenz – von System–Umwelt, d. h. von „innen“ und „außen“. Systeme reagieren nach den ihnen jeweils eigenen Strukturen auf die von ihnen rezipierten Umweltreize – d. h. Informationen – mit einer Zustandsänderung ihrer selbst. Diese Zustandsänderung wiederum kann von einem anderen System (dessen Umwelt ja auch das vorgenannte System ist) als Umweltreiz/Information rezipiert werden und wird damit von diesem in eine Zustandsänderung umgesetzt.

„Die jeweils eine Systemart ist notwendige Umwelt der jeweils anderen. Personen können nicht ohne soziale Systeme entstehen und bestehen, und das gleiche gilt umgekehrt.“[3]

Diese „operationelle Geschlossenheit“ bei gleichzeitiger „informationeller Offenheit“ wird in der Tradition der Kybernetik durch zwei Konzepte beschrieben: das der Autopoiesis und das der strukturellen Kopplung (einen Spezialfall des letzteren benannte Luhmann die Interpenetration).

Demnach entsteht ein autopoietisches System dann und besteht nur so lange, wie selbstreferenzielle Operationen stattfinden; deren emergente Strukturen sind das System. Beispiel: Gesellschaft besteht nur in der Kommunikation; vgl.: eine biologische Zelle besteht im Leben.

Strukturell gekoppelt sind Systeme, wenn das eine System fähig ist, die Operation eines anderen Systems als Umweltreiz informationell wahrzunehmen. Beispiel: Das Gehör reagiert auf Schallwellen in der physikalischen Umwelt; Das Rechtssystem reagiert auf eine Person, die sich als „Kläger“ an es wendet.

Die grundlegende Operation, die alle gesellschaftlichen Systeme von nicht-gesellschaftlicher Umwelt differenziert, ist Kommunikation, verstanden als Einheit von Mitteilung, Information (Sinngehalt) und Verstehen. Die Gesamtheit aller Kommunikationen ist systemtheoretisch „die Gesellschaft“.

„Kein Mensch kann kommunizieren (im Sinne von Kommunikation vollenden), ohne dadurch Gesellschaft zu konstituieren, aber das Gesellschaftssystem selbst ist (eben deshalb!) nicht kommunikationsfähig: Es kann keinen Adressaten außerhalb seiner selbst finden.“[4]

Die Systemtheorie des Rechts erfasst das Rechtssystem als Gesamtheit aller rechtlichen Kommunikationen, also aller Kommunikationen, die der Leitdifferenz „rechtmäßig – nicht-rechtmäßig“ folgen (d. i. Kommunikation, die Rechtsgeltung postuliert).

Autopoiesis des Rechtssystems

Das Recht wird danach als Subsystem der Gesellschaft neben anderen Subsystemen wie Wirtschaft, Politik, Erziehung, Religion etc. verstanden, die sich anhand einer spezifischen Funktion für die Gesellschaft historisch ausdifferenziert haben, d. h. sich in ihren Operationen gegenüber anderen Systemen verselbstständigt haben.

Autopoiesis des Rechts bedeutet, dass keine rechtliche Information ihre Normativität aus der Umwelt beziehen kann, sondern Geltung immer nur von Rechtskommunikation zu Rechtskommunikation weitergegeben werden kann. Dieser selbstreferentielle Verweis erfolgt in den Strukturen des konkreten Rechtssystems über Rechtstexte, Rechtsdiskussionen, juristische Literatur und Konventionen etc. Diese Strukturen wurden wiederum selbst durch Rechtsoperationen hergestellt, in dem sie erlassen, geschrieben, angewandt, kommentiert, erinnert, vergessen, bestritten, interpretiert, reformiert, abgeschafft, neuformuliert etc. worden sind. Rechtsstruktur und Rechtsoperation stehen also in einem zirkulären Referenzzusammenhang und produzieren sich gegenseitig. In diesem Sinn „erhält sich das System selbst“.

Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

Diese operationelle Abgeschlossenheit bedeutet aber nicht, dass sich das Rechtssystem „los löst“ von den Akteuren (Betroffene, Juristen, Politiker etc.). Im Gegenteil ist seine Existenz bedingt durch die informationelle Offenheit gegenüber dieser Umwelt. So werden erst durch das wechselseitige Bestehen der Systeme „Person“ und „Rechtssystem“ überhaupt Rechtsoperationen (Klagen, Beantragen, Schreiben eines juristischen Lehrbuchs etc.) und damit als emergente Struktur Recht möglich. Auch das individuelle Gewissen (ein Subsystem der Psyche) hat also in der Systemtheorie einen (eigenen) Platz.

Andere gesellschaftliche Systeme wie etwa Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Moral etc. weisen strukturelle Kopplungen mit dem Recht auf. Beispielsweise ist im Verfassungsrechtssystem die Politik vermittels eines Parlaments als Gesetzgeber an das Rechtssystem strukturell gekoppelt. Ein weiteres Beispiel wäre das Wirtschaftssystem, das beim Tauschakt am Markt strukturell an den Kaufakt im Zivilrechtssystem gekoppelt ist. Und im Gerichtssaal, in dem Anwälte und/oder Richter mit dem „Banner der Gerechtigkeit“ argumentieren, ist das Rechtssystem mit der Moral strukturell gekoppelt.

Luhmann bezeichnet gewisse strukturelle Kopplungen als Interpenetration von Systemen, wenn die Kopplung aus einer Gleichursprünglichkeit der Systeme entstanden ist: Zum Beispiel haben sich Staat und Kirche erst mit Beginn der Neuzeit als Unterschiedenes ausdifferenziert. Bis heute weiter bestehende Kopplungen (z. B. das Staatskirchenrecht) sind daher Interpenetrationen von Recht und Religion.

Dabei erfüllen die strukturellen Kopplungen die Aufgabe, Komplexität in reduzierter Form anderen Systemen zur Verfügung zu stellen. Diese Art der „Arbeitsteilung“ ermöglicht erst die Entwicklung hochkomplexer Systeme aus einer Vielzahl einfachkomplexer Systeme.

Funktion des Rechts

Eine komplexe offene Gesellschaft eröffnet dem einzelnen eine Vielzahl von Handlungsalternativen. Zur Aufrechterhaltung einer funktionierenden Gesamtgesellschaft bedarf es daher vorhersehbarer, bindender Verhaltensgrundsätze. Diese Leistung erbringt ein darauf spezialisiertes Teilsystem der Politik, nämlich das Rechtssystem. Nach Luhmann ist das Rechtssystem ein dem politischen nachgeschaltetes System mit der Funktion der Legitimation und Durchsetzung der im politischen System im Wege der Gesetzgebung erarbeiteten generellen Entscheidungen und der Absorption von Konflikten, die in einzelnen Gerichtsverfahren verbindlich entschieden werden.[5][6]

Luhmann weist dem Recht somit einen teleologischen Eigenzweck (Stabilisierung) zu.[7] Funktion des Rechts ist, bei rechtlichen Fragen zu unterscheiden, ob es sich um Recht oder Unrecht handelt[8] und damit Kontingenz zu koordinieren und zu bewältigen.[9] Das Recht gewährleistet damit persönliche Freiheit und schränkt sie zugleich zugunsten aller wieder ein.[10]

Kritik an der Systemtheorie

Ein Kritikpunkt, der gegen das Recht als reines Kommunikationssystem erhoben wird, geht dahin, dass diese Theorie im Widerspruch zur sozialen Wirklichkeit nur Kommunikationsströme als Systemelemente akzeptiere und damit für Akteure und ihre Handlungen keinen Platz habe. Rechtliche Kommunikation könne nur auf solchen Systemoperationen aufbauen, die schon zum System gehörten (operative Geschlossenheit). Sie reagiere nicht auf Kommunikationen, die einem anderen System angehöre, z. B. Bestechungsgeld[11] oder Lobbyismus. Die These von der autopoietischen Eigenständigkeit des Rechtssystems müsse zugunsten seiner politischen Fundierung aufgegeben werden.[12]

Die Annahme der Autopoiesis bedeute zudem einen Kreisprozess, der eine Letztbegründung des Rechts unmöglich mache. Recht könne sich danach nur unter Verweis auf sich selbst legitimieren. Dieses Manko versucht Jürgen Habermas mit der Diskurstheorie des Rechts zu überwinden.[13]

Die Systemtheorie leugnet sowohl die historische Entwicklung des Rechts als auch seine Bezüge zum überpositiven Naturrecht, etwa in der Präambel des Grundgesetzes oder der Radbruch’schen Formel.

Gunther Teubner und Helmut Willke leiten aus Luhmanns Idee der autopoietischen Geschlossenheit sozialer Systeme die Unfähigkeit der Politik und des Rechts zur Steuerung der anderen Funktionssysteme der Gesellschaft, insbesondere der Wirtschaft, ab.[14] Die Steuerungsfähigkeit des Rechts wird auch angesichts zunehmender gesellschaftlicher Komplexität, einer Kritik der Staatsaufgaben (Deregulierung) sowie im Hinblick auf die Gewährleistung innerer Sicherheit in Frage gestellt.[15][16][17]

Laut Klaus F. Röhl verdunkele der systemtheoretische Sprachstil die Zusammenhänge eher als sie zu erhellen. Daraus wüchsen gelegentlich Stilblüten, die als Zitat ohne Kontext für eine Satire gut seien.[18]

Literatur

  • Anthony D'Amato: International Law as an Autopoetic System. In: Rüdiger Wolfrum, Volker Röben (Hrsg.): Developments of International Law in Treaty Making. Springer, Berlin/ Heidelberg/ New York 2005, ISBN 3-540-25299-1, S. 335–399.
  • Reinhard Damm: Systemtheorie und Recht. Zur Normentheorie Talcott Parsons’. Duncker und Humblot, Berlin 1976, ISBN 3-428-03621-2.
  • Thomas Huber: Systemtheorie des Rechts. Die Rechtstheorie Niklas Luhmanns. Nomos, Baden-Baden 2007, ISBN 978-3-8329-2483-6.
  • Niklas Luhmann: Die Einheit des Rechtssystems. In: Rechtstheorie 1983, 129.
  • Niklas Luhmann: Die Codierung des Rechtssystems. In: Rechtstheorie 1986, 171.
  • Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-518-28783-4.
  • Kolja Möller: Systemtheorie des Rechts: Teubner und Luhmann. In: Sonja Buckel, Ralph Christensen, Andreas Fischer-Lescano (Hrsg.): Neue Theorien des Rechts. 3. Auflage. Mohr Siebeck (utb), Tübingen 2020, ISBN 978-3-8252-5325-7, S. 47–65. – Erste Auflage: Gralf-Peter Calliess: Systemtheorie: Luhmann/Teubner. In: Sonja Buckel, Ralf Christensen, Andreas Fischer-Lescano (Hrsg.): Neue Theorien des Rechts. Lucius und Lucius, Stuttgart 2006, ISBN 3-8282-0331-0, S. 57–75
  • Gunther Teubner: Recht als autopoietisches System. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-518-57982-7.
  • Gunther Teubner: Globale Bukowina. Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus. In: Rechtshistorisches Journal. 15 (1996), S. 255–290.
  • Thomas Vesting: Kein Anfang und kein Ende. Die Systemtheorie des Rechts als Herausforderung für Rechtswissenschaft und Rechtsdogmatik. In: Jura. 2001, S. 299–305.
  • Thomas Vesting: § 4: System II (Luhmann). In: Rechtstheorie. C.H.Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-56326-3, S. 57–76.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Jochen Bung: Systemtheorie des Rechts in: Eric Hilgendorf, Jan C. Joerden (Hrsg.) Handbuch Rechtsphilosophie. J.B. Metzler, Stuttgart 2017, S. 264–270
  2. Lars Viellechner: Verfassung als Chiffre. Zur Konvergenz von konstitutionalistischen und pluralistischen Perspektiven auf die Globalisierung des Rechts ZaöRV 2015, S. 233, 250 ff.
  3. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. 1983, S. 92.
  4. Niklas Luhmann: Die Einheit des Rechtssystems. In: Rechtstheorie. 1983, 129, S. 137.
  5. Klaus F. Röhl: Niklas Luhmanns Rechtssoziologie Rechtssoziologie online. de, § 9, abgerufen am 23. September 2017
  6. Systemtheorie: Niklas Luhmann 122. Veranstaltung der Humboldt-Gesellschaft am 19. August 2001
  7. Niklas Luhmann: Ausdifferenzierung des Rechts. Suhrkamp, 1999. ISBN 978-3-518-29018-7
  8. Alban Knecht: Ist das Recht recht? Recht und Legitimation im 18. Jahrhundert und heute 2004, S. 4
  9. Niklas Luhmann: Kontingenz und Recht - Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Johannes F. K. Schmidt, Suhrkamp 2013. ISBN 978-3-518-58602-0
  10. Horst Pötzsch: Funktionen des Rechts bpb, 15. Dezember 2009
  11. Klaus F. Röhl: Das Recht als autopoietisches System Rechtssoziologie online. de, § 70, Stand: Januar 2011
  12. Eckard Bolsinger: Autonomie des Rechts? Niklas Luhmanns soziologischer Rechtspositivismus — Eine kritische Rekonstruktion PVS 2001, S. 3–29
  13. Alban Knecht: Ist das Recht recht? Recht und Legitimation im 18. Jahrhundert und heute 2004, S. 11 f.
  14. Gunther Teubner, Helmut Willke: Kontext und Autonomie. Zeitschrift für Rechtssoziologie, 1984
  15. Oliver Lepsius: Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik. Mohr Siebeck 1999. Goggle Book
  16. Jörg Bogumil: Staatsaufgaben im Wandel ohne Jahr, abgerufen am 23. September 2017
  17. Sven Opitz: An der Grenze des Rechts. Inklusion/Exklusion im Zeichen der Sicherheit (Memento des Originals vom 23. September 2017 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.velbrueck-wissenschaft.de Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2012
  18. Klaus F. Röhl: Das Recht als autopoietisches System Rechtssoziologie online. de, § 70, Stand: Januar 2011