Strategische Frühaufklärung

Die strategische Frühaufklärung zielt darauf ab, durch die Identifikation und Analyse von schwachen Signalen im Umfeld eines Unternehmens Diskontinuitäten, technologische Trends und Veränderungen im Marktumfeld zu erkennen.[1] Das Erkennen dient der Vorbereitung von Entscheidungen, die das Unternehmen befähigen, frühzeitig Chancen zu nutzen und auf Gefahren zu reagieren.[2][3] Die wichtigsten Unternehmensbereiche, die auf die strategische Frühaufklärung zurückgreifen, sind strategisches Management, Technologiemanagement, Controlling sowie Innovationsmanagement.[4][5]

Begriffsabgrenzung

Der Begriff der strategischen Frühaufklärung hat sich nach Krystek, Müller-Stewens (1993) in vier Generationen entwickelt[6]:

  • 1. Generation (1970–1975): FrühwarnungKennzahlen, deren Werte durch Hochrechnung und Extrapolation ermittelt werden
  • 2. Generation (1975–1980): Operative Früherkennung – Indikatoren für Chancen und Risiken
  • 3. Generation (1980–1990): Strategische Früherkennung – Potentielle Chancen und Risiken ermittelt durch schwache Signale
  • 4. Generation (1990–dato): Strategische Frühaufklärung – Integrative Ansätze und vernetztes Denken ermittelt potentielle Chancen und Risiken und leitet Aktion ab

Motivation

In Unternehmen ergibt sich aus zwei Gründen die Motivation, strategische Frühaufklärungssysteme einzuführen:

  • die Schwierigkeit großer Unternehmen, auf externe Umbrüche zu reagieren. So wird beispielsweise in einer Studie von de Geus die durchschnittliche Lebenserwartung von Fortune 500 auf unter 50 Jahre geschätzt, weil Unternehmen in Zeiten von rapidem Wandel nicht schnell genug reagieren, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten.[7]
  • Unternehmen müssen neue Geschäftsfelder erschließen, wenn ihre aktuellen Geschäftsfelder unprofitabel werden. Die strategische Frühaufklärung kann hier helfen, neue Geschäftsfelder zu identifizieren und deren Entwicklung vorzubereiten.[8][9]

Überwindung von drei fundamentalen Barrieren

Es hat sich gezeigt, dass die Unfähigkeit von Unternehmen, schnell genug auf Veränderungen zu reagieren, durch drei fundamentale Barrieren verursacht wird:[10]

  • Die hohe Änderungsgeschwindigkeit, die sich durch (1) kürzer werdende Produkt-Lebens-Zyklen, (2) schnelleren technologischen Wandel, (3) höhere Innovationsgeschwindigkeit und (4) schnelle Innovationsverbreitung kennzeichnet.
  • Die Ignoranz gegenüber Veränderungen im Umfeld, welche auf (1) zu lange Planungszyklen, (2) fehlende externe Sensorik, (3) Informationsüberflutung, (4) mangelnde interne Informationsweitergabe und (5) systematische Filterung durch Mittel-Management, welches ihre aktuellen Geschäftsfelder protegiert, zurückzuführen ist.
  • Die organisationelle Trägheit, die durch (1) komplexe interne Strukturen, (2) komplexe externe Strukturen, (3) mangelnde Bereitschaft, aktuelle Geschäftsfelder zu kannibalisieren, und zu starker Fokus auf das aktuelle Geschäft, was zu kognitiver Trägheit führt.

Bedarf für strategische Frühaufklärung

Zusätzlich zur Überwindung der Barrieren kann Bedarf für eine strategische Vorausschau auch durch folgende Gründe ausgelöst werden:

Zur Operationalisierung des Bedarfs haben Day und Schoemaker ein Modell mit 24 Fragen vorgeschlagen.[11]

Implementierung der strategischen Frühaufklärung

Die 5 Dimensionen der strategischen Frühaufklärung

Basierend auf Fallstudien in 20 multinationalen Unternehmen schlägt Rohrbeck ein Reifegradmodell zur organisationellen Zukunftsorientierung vor. Diese misst die Fähigkeit systematisch auf Umbrüche im Unternehmensumfeld zu reagieren entlang fünf Dimensionen:

  • Die Informationsnutzung, welche beschreibt welche Daten durch die strategische Frühaufklärung genutzt werden
  • Die Methodische Ausgereiftheit, welche beschreibt wie die Daten interpretiert werden und wie stark das kommunikative und integrative Potential der eingesetzten Methoden ist
  • Informelle Organisation, welche beschreibt wie durch persönliche Netzwerke Informationen und Erkenntnisse im Unternehmen verbreitet werden und zur Auslösung von Aktivitäten beitragen.
  • Formelle Organisation, welche den Grad der Formalisierung von Prozessen, Gremien und intra-organisationalen Managementsystemen beschreibt
  • Die Kultur, welche beschreibt, inwieweit die Unternehmenskultur die Fähigkeit zur strategischen Frühaufklärung unterstützt oder behindert.

Zur Operationalisierung seines Modells verwendet Rohrbeck 20 Elemente, die mit je 4 Reifegraden gemessen werden. Die Reifegrade sind hierbei qualitativ beschreiben, d. h. es gibt zu jedem Reifegrad eine Aussage, die in Unternehmen jeweils als wahr oder falsch bewertet werden müssen.[10]

Rollen der strategischen Frühaufklärung im Innovationsmanagement

Durch eine empirische Untersuchung konnten auch verschiedene Wertbeiträge der strategischen Frühaufklärung zur Innovationsfähigkeit von Unternehmen beobachtet werden. Rohrbeck schlägt eine Einteilung in 3 Rollen vor (siehe Grafik):[12]

Rollen der strategischen Frühaufklärung im Innovationsmanagement

Die drei Rollen lassen sich entlang des Innovationsprozesses anordnen:

  • In der Inputgeber-Rolle hilft die strategische Frühaufklärung, sowohl marktseitig neue Kundenbedürfnisse als auch technologieseitig neue Technologien zu identifizieren. Darüber hinaus unterstützt sie das Monitoring von Wettbewerbern. Ein Beispiel hierfür ist auch das Technologiescouting, welches durch Expertennetzwerke neue Technologien identifiziert, bewertet und gegebenenfalls bei der Akquise der Technologien unterstützt.[13]
  • Als strategisches Instrument sucht die strategische Frühaufklärung das Umfeld nach neu entstehenden Geschäftsfeldern ab und stößt durch geeignete Systeme den Erneuerungs- und Neupositionierungsprozess an. Bei der Siemens AG wurde beispielsweise ein Verfahren entwickelt, welches den strategischen Review von Geschäftseinheiten ermöglicht und für die Exploration von neuen Geschäftsgebieten verwendet wird. Diese Methode, die unter dem Namen Pictures of the Future vom Zentralbereich Corporate Technologies betrieben wird, besteht aus Szenarioanalyse, Trend-Extrapolation und Roadmapping.[14]
  • Als kontinuierliche Dienstleistung nutzt die strategische Frühaufklärung die Erkenntnisse aus der Umfeldbeobachtung, um Forschungs- und Entwicklungsprojekte zu bewerten. Hierbei stellt sich zum Beispiel die Frage, ob das Projekt auf dem neuesten Stand der Technik ist oder ob die adressierten Kundenbedürfnisse noch aktuell sind.

In der Untersuchung von Rohrbeck zeigte sich, dass die Unternehmen durchschnittlich zu wenig Wert auf die dritte Rolle legen. Der Regelfall ist immer noch, dass FuE-Projektentscheidungen zu eingesetzten Technologien, enthaltenen Funktionen, sowie welche Kundenbedürfnisse adressiert werden, am Anfang des Projekts getroffen werden und diese dann auch bei besserem Wissen später nicht mehr revidiert werden. Hier besteht demnach Potential für weitere Verbesserungen bei der Nutzung der strategischen Frühaufklärung sowie Potential, die Innovationsfähigkeit der Unternehmen zu erhöhen.[12]

Prozess der strategischen Frühaufklärung

Averil Hilton[15] entwickelte den Frühaufklärung-Prozess auf der Grundlage der Analyse verschiedener nationaler Frühaufklärung-Programme, der akademischen Disziplinen Zukunftsforschung und Wissensmanagement. Mit einigen wenigen Übernahmen von Carolin Durst et al. auf der Grundlage von Horton, Sutherland und Woodroof und Voros[16] besteht dieser Prozess aus 3 Schritten:

  • Die Eingabe umfasst das Scoping und das Sammeln von Informationen. Sie beginnt mit der Formulierung einer strategischen Frage und der Festlegung des Umfangs des Projekts. Darauf folgt die Sammlung von Daten zu Zukunftsthemen, Trends, Ideen aus einer Vielzahl von Quellen wie Experten, Universitäten, Unternehmensnetzwerken, persönlichen Netzwerken, Kunden, Lieferanten, der Literatur, der Regierung, anderen Frühaufklärung-Berichten, Forschung und Umfragen.
  • Die Frühaufklärung umfasst die Analyse, Interpretation und Prospektion dieses Wissens, um ein Verständnis für seine Auswirkungen auf die Zukunft aus der Sicht einer bestimmten Organisation zu schaffen. Wenn die Daten analysiert und interpretiert werden, werden sie auch prospektiert oder mit anderen Worten, sie werden verwendet, um Zukunftsperspektiven zu schaffen.
  • Die Ausgabe umfasst die Bewertung alternativer Zukunftsperspektiven und die Formulierung einer Strategie für diese. Die umfasst bereits die Verpflichtung zum Handeln in einer bestimmten Organisation.

Fallstudien

In den vergangenen Jahren hat die Bedeutung der Strategischen Frühaufklärung in Unternehmen zugenommen und wird zunehmend professionalisiert.[17][18] Inzwischen gibt es auch eine Reihe von in der Wissenschaft dokumentierten Fallstudien:

Unternehmen nutzen die Strategische Frühaufklärung als Erweiterung im Strategischen Management,[34] zur Identifikation neuer Geschäftsfelder[9] und zur Verbesserung ihrer Innovationsfähigkeit.[12]

Siehe auch

Wissenschaftliche Zeitschriften

Konferenzen

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Franz Liebl: Strategische Frühaufklärung: Trends – issues – stakeholders. Oldenbourg, München / Wien 1996, ISBN 3-486-23418-8.
  2. Adrian Müller, Günter Müller-Stewens: Strategic Foresight: Trend- und Zukunftsforschung in Unternehmen – Instrumente, Prozesse, Fallstudien. Schäffer-Poeschel, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-7910-2868-2.
  3. René Rohrbeck, Cinzia Battistella, Eelko Huizingh: Corporate foresight: An emerging field with a rich tradition. In: Technological Forecasting and Social Change. Band 101, S. 1–9, doi:10.1016/j.techfore.2015.11.002.
  4. René Rohrbeck, Sarah Mahdjour, Sebastian Knab, Tobias Frese: Benchmarking Report: Strategic Foresight in Multinational Companies. ID 1470050. Social Science Research Network, Rochester, NY 1. Juli 2009, doi:10.2139/ssrn.1470050.
  5. Martin Roll, 2004 Strategische Frühaufklärung: Vorbereitung auf eine ungewisse Zukunft am Beispiel des Luftverkehrs. 1. Aufl. ed. Gabler Edition Wissenschaft: Unternehmensführung & Controlling, Wiesbaden: Dt. Universitäts-Verlag, ISBN 3-8244-8254-1.
  6. Ulrich Krystek, Günter Müller-Stewens: Frühaufklärung für Unternehmen: Identifikation und Handhabung zukünftiger Chancen und Bedrohungen. Schäffer-Poeschel, Stuttgart 1993, ISBN 3-7910-0639-8
  7. Arie De Geus: The living company. Harvard Business School Press, Boston, Mass. 1997, ISBN 1-57851-820-2.
  8. Constantine Andriopoulos, Marianne W. Lewis: Exploitation-Exploration Tensions and Organizational Ambidexterity: Managing Paradoxes of Innovation. In: Organization Science. Band 20, Nr. 4, 19. Dezember 2008, ISSN 1047-7039, S. 696–717, doi:10.1287/orsc.1080.0406.
  9. a b Tobias Heger, René Rohrbeck: Strategic foresight for collaborative exploration of new business fields. In: Technological Forecasting and Social Change. Band 79, Nr. 5, S. 819–831, doi:10.1016/j.techfore.2011.11.003.
  10. a b René Rohrbeck: Corporate Foresight: Towards a Maturity Model for the Future Orientation of a Firm. Physica-Verlag, Springer, Heidelberg 2010, ISBN 978-3-7908-2625-8.
  11. George S. Day, Paul J. H. Schoemaker: Scanning the periphery. In: Harvard Business Review. 83, Nr. 11, 2005, S. 135–148.
  12. a b c René Rohrbeck, Hans Georg Gemünden: Corporate Foresight. Its Three Roles in Enhancing the Innovation Capacity of a Firm. In: Technological Forecasting and Social Change. Band 78, Nr. 2. Rochester, NY 1. Februar 2011, S. 231–243 (ssrn.com – abstract).
  13. René Rohrbeck: Harnessing a Network of Experts for Competitive Advantage. Technology Scouting in the ICT Industry. In: R&D Management. Band 40, Nr. 2. Rochester, NY 2010, S. 169–180 (ssrn.com – abstract).
  14. Marc Gruber, Bernd Kolpatzik, Jürgen Schönhut, Claudia Venter: Die Rolle des Corporate Foresight im Innovationsprozess: Ziele, Ausgestaltung und Erfahrungen am Beispiel der Siemens AG. In: Zeitschrift Führung und Organisation (zfo). Nr. 5, 2003, S. 285–290.
  15. Averil Horton: A simple guide to successful foresight. In: The journal of future studies, strategic thinking and policy. Band 1, Nr. 1, 1999, S. 5–9, doi:10.1108/14636689910802052.
  16. Carolin Durst, Michael Durst, Thomas Kolonko, Andreas Neef, Florian Greif: A holistic approach to strategic foresight: A foresight support system for the German Federal Armed Forces. In: Technological Forecasting and Social Change. Band 97, 2015, S. 91–104, doi:10.1016/j.techfore.2014.01.005.
  17. Cornelia Daheim, Gereon Uerz: Corporate foresight in Europe: from trend based logics to open foresight. In: Technology Analysis & Strategic Management. Band 20, Nr. 3, 1. Mai 2008, ISSN 0953-7325, S. 321–336, doi:10.1080/09537320802000047.
  18. Jan Oliver Schwarz: Assessing the future of futures studies in management. In: Futures. Band 40, Nr. 3, 2007, S. 237–246, doi:10.1016/j.futures.2007.08.018.
  19. Rupert Hofmann: Visionary competence for long-term development of brands, products, and services: The trend receiver concept and its first applications at Audi. In: Technological Forecasting and Social Change. Band 101, S. 83–98, doi:10.1016/j.techfore.2014.06.005.
  20. Frank Ruff: The advanced role of corporate foresight in innovation and strategic management — Reflections on practical experiences from the automotive industry. In: Technological Forecasting and Social Change. Band 101, S. 37–48, doi:10.1016/j.techfore.2014.07.013.
  21. Inga-Lena Darkow: The involvement of middle management in strategy development – Development and implementation of a foresight-based approach. In: Technological Forecasting and Social Change. Band 101, S. 10–24, doi:10.1016/j.techfore.2013.12.002.
  22. Ted Farrington, Keith Henson, Christian Crews: Research Foresights: The Use of Strategic Foresight Methods for Ideation and Portfolio Management. In: Research-Technology Management. Band 55, Nr. 2, 1. März 2012, ISSN 0895-6308, S. 26–33, doi:10.5437/08956308X5502023.
  23. Sebastian Knab, René Rohrbeck: Strategic Foresight at General Electric: About the Ability to Mobilize all Employees to Manage Outbreaks in the Business Environment to Succeed (German: Strategische Frühaufklärung bei General Electric: Von der Fähigkeit alle Mitarbeiter zu Mobilisieren um Umbrüche im Unternehmensumfeld erfolgreich zu managen). Social Science Research Network, Rochester, NY 29. November 2009 (papers.ssrn.com [abgerufen am 15. Januar 2018] abstract).
  24. D. Theis: Pictures of the Future: An industrial foresight and innovation source. In: 2006 Technology Management for the Global Future – PICMET 2006 Conference. Band 2, Juli 2006, S. 837–869, doi:10.1109/PICMET.2006.296619.
  25. Ingo Rollwagen, Jan Hofmann, Stefan Schneider: Improving the business impact of foresight. In: Technology Analysis & Strategic Management. Band 20, Nr. 3, 1. Mai 2008, ISSN 0953-7325, S. 337–349, doi:10.1080/09537320802000070.
  26. Siri Boe-Lillegraven, Stephan Monterde: Exploring the cognitive value of technology foresight: The case of the Cisco Technology Radar. In: Technological Forecasting and Social Change. Band 101, S. 62–82, doi:10.1016/j.techfore.2014.07.014.
  27. Corporate Foresight at Cisco: Introduction of the Technology Radar. Abgerufen am 15. Januar 2018.
  28. Cisco Technology Radar: Innovationsstärke durch Technology Foresight. Abgerufen am 5. März 2020.
  29. René Rohrbeck, Heinrich Arnold, J Heuer: Strategic Foresight in Multinational Enterprises – A Case Study on the Deutsche Telekom Laboratories. In: ISPIM-Asia 2007 Conference. 12. Februar 2007 (researchgate.net [abgerufen am 15. Januar 2018]).
  30. Tobias Heger, Magnus Boman: Networked foresight—The case of EIT ICT Labs. In: Technological Forecasting and Social Change. Band 101, S. 147–164, doi:10.1016/j.techfore.2014.02.002.
  31. a b La prospective stratégique d’entreprise. Concepts et études de cas. InterEditions, Paris 1996, ISBN 2-7296-0443-X.
  32. Living in the Futures. In: Harvard Business Review. 1. Mai 2013 (hbr.org [abgerufen am 15. Januar 2018]).
  33. Michael Jefferson: Shell scenarios: What really happened in the 1970s and what may be learned for current world prospects. In: Technological Forecasting and Social Change. Band 79, Nr. 1, S. 186–197, doi:10.1016/j.techfore.2011.08.007.
  34. René Rohrbeck, Menes Etingue Kum: Corporate foresight and its impact on firm performance: A longitudinal analysis. In: Technological Forecasting and Social Change. S. 105–116, doi:10.1016/j.techfore.2017.12.013.

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