Stiefel-Whitney-Klassen

In der Mathematik, genauer in der algebraischen Topologie und in der Differentialgeometrie und -topologie, sind Stiefel-Whitney-Klassen ein spezieller Typ charakteristischer Klassen, die reellen Vektorbündeln zugeordnet werden. Sie sind nach Eduard Stiefel und Hassler Whitney benannt.

Grundidee und Motivation

Stiefel-Whitney-Klassen sind charakteristische Klassen. Sie sind topologische Invarianten von Vektorbündeln über glatten Mannigfaltigkeiten. Zwei isomorphe Vektorbündel haben dieselben Stiefel-Whitney-Klassen. Die Stiefel-Whitney-Klassen liefern also eine Möglichkeit zu verifizieren, dass zwei Vektorbündel über einer glatten Mannigfaltigkeiten verschieden sind. Jedoch kann mit ihrer Hilfe nicht entschieden werden, ob zwei Vektorbündel isomorph sind, da nicht-isomorphe Vektorbündel dieselben Stiefel-Whitney-Klassen haben können.

In der Topologie, der Differentialgeometrie und der algebraischen Geometrie ist es oft wichtig, die maximale Anzahl linear unabhängiger Schnitte eines Vektorbündels zu bestimmen. Die Stiefel-Whitney-Klassen liefern Hindernisse für die Existenz solcher Schnitte.

Im Falle des Tangentialbündels einer differenzierbaren Mannigfaltigkeit sind die erste und zweite Stiefel-Whitney-Klasse die (einzigen) Obstruktionen gegen Orientierbarkeit und die Existenz einer Spinstruktur.

Axiomatischer Zugang

Die Stiefel-Whitney-Klassen sind Invarianten von reellen Vektorbündeln über einem topologischen Raum . Jedem Vektorbündel über werden Kohomologieklassen

für zugeordnet, heißt die i-te Stiefel-Whitney-Klasse des Vektorbündels .

Man kann die Stiefel-Whitney-Klassen durch die folgenden Axiome beschreiben, welche sie eindeutig festlegen.

Axiom 1: Wenn eine stetige Abbildung und ein Vektorbündel über ist, dann ist für . Dabei steht * für den Rücktransport.

Axiom 2: Wenn und Vektorbündel über demselben topologischen Raum sind, dann ist . Dabei bedeutet das Cup-Produkt.

Axiom 3: Für jedes Vektorbündel über einem wegzusammenhängenden Raum ist der Erzeuger von . Für jedes n-dimensionale Vektorbündel ist für alle . Für das „Möbiusband“, d. h. das nichttriviale 1-dimensionale Vektorbündel über dem Kreis ist der Erzeuger von .

Stiefel-Whitney-Klassen als Charakteristische Klassen

Sei die Graßmann-Mannigfaltigkeit und das tautologische Bündel. Der Kohomologiering der Graßmann-Mannigfaltigkeit mit -Koeffizienten lässt sich als Polynomring

über mit Erzeugern darstellen.

Zu einem Vektorbündel mit Faser lässt sich eine bis auf Homotopie eindeutige Abbildung definieren, die durch eine Bündelabbildung in das tautologische Bündel über überlagert wird.

Die i-te Stiefel-Whitney-Klasse ergibt sich dann als

Schnitte

Wenn ein n-dimensionales Vektorbündel k linear unabhängige Schnitte besitzt, dann ist:

.

Die Umkehrung gilt nicht. Sei zum Beispiel die geschlossene, orientierbare Fläche vom Geschlecht g und ihr Tangentialbündel. Dann verschwinden die Stiefel-Whitney-Klassen , aber nur der Torus ist parallelisierbar, für hat jedes Vektorfeld auf eine Nullstelle. (Der Fall ist der Satz vom Igel, der allgemeine Fall folgt aus dem Satz von Poincaré-Hopf.)

w₁ und Orientierbarkeit

Sei ein CW-Komplex. Man hat einen kanonischen Isomorphismus . Unter diesem Isomorphismus entspricht die 1-te Stiefel-Whitney-Klasse eines Vektorbündels dem Homomorphismus , der die Homotopieklasse eines geschlossenen Weges genau dann auf abbildet, wenn das Vektorbündel entlang dieses geschlossenen Weges orientierbar ist. (Andernfalls wird die Homotopieklasse des geschlossenen Weges auf abgebildet. Man beachte, dass es über dem Kreis nur zwei nicht-äquivalente -dimensionale Vektorbündel gibt. Die Homotopieklasse des geschlossenen Weges wird also genau dann auf abgebildet, wenn das zurückgezogene Vektorbündel über nichttrivial ist.)

Insbesondere ist ein Vektorbündel orientierbar genau dann, wenn .

Eindimensionale Vektorbündel

Sei ein CW-Komplex. Die -dimensionalen Vektorbündel über bilden eine Gruppe mit dem Tensorprodukt als Verknüpfung. Die 1-te Stiefel-Whitney-Klasse gibt einen Gruppen-Isomorphismus

.

Kobordismustheorie

Satz (Pontrjagin): Wenn eine kompakte differenzierbare n-Mannigfaltigkeit der Rand einer kompakten differenzierbaren n+1-Mannigfaltigkeit ist, dann ist für alle .

Satz (Thom): Wenn für eine kompakte differenzierbare n-Mannigfaltigkeit die Stiefel-Whitney-Klassen trivial sind, d. h. für alle , dann ist der Rand einer kompakten differenzierbaren n+1-Mannigfaltigkeit.

Siehe auch

Literatur