Stasis (Polis)

Als Stásis (altgriechisch στάσιςstásis; Plural στάσειςstáseis)[1] bezeichnet die Altertumswissenschaft Bürgerkriege und bürgerkriegsähnliche Zustände in antiken griechischen Stadtstaaten (poleis). Der moderne Wortgebrauch deckt sich dabei nur teilweise mit dem in den antiken Quellen.

Bedeutungen

Ursprünglich bedeutete das Wort stásis „Stillstand, Standpunkt“; früh wurde es auch benutzt, um jene Gruppen, die einen gemeinsamen Standpunkt teilten, zu bezeichnen, und schließlich gebrauchte man es zudem spätestens ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. (Solon), um sowohl die Spaltung einer Polis in zumeist genau zwei rivalisierende, verfeindete Gruppen als auch gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen ihnen zu benennen. All diese Wortbedeutungen blieben in den folgenden Jahrhunderten üblich.[2]

Notlage der Polis

Bei Homer erscheint das Wort Stasis noch nicht. Seit der Entstehung der Polis in archaischer Zeit finden sich dann in den Quellen immer wieder Hinweise auf Spaltungen und Zerwürfnisse innerhalb der Bürgerschaft in zahlreichen griechischen Städten. Da es sich hierbei oft um zeitlich ausgedehnte Prozesse mit verhärteten Fronten zu handeln pflegte, die das politische Leben zum Teil über Generationen prägten, kam die Bezeichnung stasis auf. Zumindest anfangs spielten dabei oftmals rivalisierende Aristokraten mit ihren Anhängern eine bedeutende Rolle, und oft eskalierten diese Konflikte und führten zu Bürgerkriegen. Gerade im 6. Jahrhundert v. Chr. gelang es dabei einigen Adligen, sich durchzusetzen und eine Tyrannis zu errichten (zum Beispiel die Peisistratiden-Tyrannis in Athen). Auch nach dem Ende der archaischen Tyrannis um 500 v. Chr. kam es immer wieder zu Staseis; nun wurden die Konflikte zwischen den Gruppen (die man, wie gesagt, teils ebenfalls staseis nannte) oft durch soziale Spannungen verstärkt. Letztlich ging es meist um Rivalitäten und Machtfragen, aber zugleich gab man sich oft auch als Anhänger unterschiedlicher Staatsformen: So standen im 5. Jahrhundert v. Chr. vielfach Vertreter einer Oligarchie den Anhängern einer Demokratie gegenüber. Die Anhänger der unterlegenen „Partei“ mussten, sofern sie überlebten, zumeist ins Exil gehen, was die große Zahl an Verbannten in der griechischen Welt erklärt.

Extrembeispiel Milet

Aus archaischer Zeit sind drastische Einzelheiten zur Stasis in Milet überliefert: Laut Herodot hätten sich nach dem Sturz zweier Tyrannen einerseits die Reichen und andererseits die Minderbemittelten (die Partei der Fäuste) befehdet. Als diese die Oberhand gewannen, hätten sie die Reichen verjagt und deren Kinder auf der Tenne von Ochsen zertrampeln lassen. Als später die Reichen Milet wieder unter ihre Kontrolle brachten, sollen sie sämtliche in ihre Hände gelangten Widersacher samt Angehörigen, Erwachsene ebenso wie Kinder, mit Pech bestrichen und verbrannt haben. Ein halbes Jahrhundert lang soll die Stasis in Milet gedauert haben, wobei Gewalt und Verbannung, die Verwüstung von Feldern und das Abschlachten von Vieh sowie Rechtsbrüche und immer neue Racheakte wieder und wieder vorkamen.[3] Inwieweit diese späte, von Topoi geprägte Darstellung zutrifft, ist allerdings unklar. Herodot zufolge endete die Stasis jedenfalls erst, als neutrale Schiedsleute aus Paros die Milesier miteinander versöhnten. Grundlage des die Versöhnung herbeiführenden Schiedsspruchs war nach Herodot eine Landesinspektion der Parier, die eine Bestenauslese bezüglich der Ackerbebauung durchgeführt und danach diejenigen als geeignet auch für die Pflege der öffentlichen Angelegenheiten bestimmt hätten, die über die gepflegtesten Äcker verfügten.[4]

Wiederkehrendes Phänomen der griechischen Antike

Während des Peloponnesischen Krieges kam es in mehreren kleineren Poleis zu sehr blutigen Staseis, die sich quasi im Windschatten des größeren Konfliktes entfalteten, indem sich die Bürgerkriegsparteien den unterschiedlichen Machtblöcken (in diesem Fall Sparta bzw. Athen) anschlossen. Berühmt ist in diesem Fall der Bericht des Thukydides über die Stasis auf Korkyra.[5] Platon und insbesondere Aristoteles diskutierten das Phänomen in ihren philosophischen Schriften. Auffällig ist dabei, dass die Griechen in der Regel die Unterwerfung unter eine fremde Macht recht bereitwillig hingenommen zu haben scheinen, sofern dieser Verzicht auf außenpolitische Freiheit (eleuthería) mit dem Sieg über die verfeindete Partei innerhalb der eigenen Gemeinde verbunden war. Dies änderte sich auch nicht mit der Errichtung der makedonischen Hegemonie über Griechenland im späteren 4. Jahrhundert: Auch im Hellenismus kam es vielerorts zu Staseis.[6] Eine weitgehende Befriedung der griechischen Poleis gelang erst mit der Errichtung des Prinzipats und der Durchsetzung der Pax Romana.

Ursachenforschung

Die Ursachen für Staseis waren bereits im Altertum umstritten. Die Quellen benennen oft Konflikte zwischen „Arm“ und „Reich“ oder zwischen „Demokraten“ und „Oligarchen“ (siehe oben) als Wurzel, doch während ein Teil der modernen Forschung dieser Interpretation im Kern folgt und sozio-ökonomische Probleme als wesentliche Triebfeder von Staseis betrachtet,[7] sehen die Vertreter der „elitären Stasistheorie“ stattdessen eskalierende Rivalitäten innerhalb der städtischen Eliten um Status, Ehre und die politische Macht in den Poleis als die eigentliche Ursache.[8] Auch außenpolitische Konstellationen konnten zum Ausbruch einer Stasis beitragen.

Literatur

  • Hans-Joachim Gehrke: La Stasis. In: Salvatore Settis (Hrsg.): I Greci. Storia, Cultura, Arte, Società. Einaudi, Turin 1997, S. 453ff.
  • Neeme Näripä: Stasis. Ein antikes Konzept. University of Tartu Press, Tartu 2019, ISBN 978-9949-03-166-5, online.
  • Dirk Loenen: Stasis. Enige aspecten van de begrippen partij- en klassen strijd in Oud-Griekenland. Amsterdam 1953.
  • Hans-Joachim Gehrke: Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jh. v. Chr. (= Vestigia. Band 35). C. H. Beck, München 1985, ISBN 3-406-08065-0 (Das Standardwerk zur Stasis in klassischer Zeit; Gehrke spart aber Athen, Sparta und die Westgriechen aus. Er sieht Konflikte innerhalb der Eliten als eigentlichen Motor der Staseis.)
  • Aloys Winterling: Polisbegriff und Stasistheorie des Aeneas Tacticus. Zur Frage der Grenzen der griechischen Polisgesellschaften im 4. Jahrhundert v. Chr. In: Historia 40, 1991, S. 195ff.
  • Mogens Herman Hansen: Stasis as an essential Aspect of the Polis. In: Mogens Herman Hansen, Thomas Heine Nielsen (Hrsg.): An Inventory of Archaic and Classical Poleis. Oxford University Press, Oxford u. a. 2004, ISBN 0-19-814099-1, S. 124–129 (knappe, aber sehr informative Einführung).
  • Nick Fisher: Hybris, revenge and stasis in the Greek city-states. In: Hans van Wees (Hrsg.): War and Violence in Ancient Greece. Duckworth, London 2000, ISBN 0-7156-3046-6, S. 83ff. (Fisher betont die Bedeutung von Rache für die Eskalation innerer Konflikte.)
  • Jonathan J. Price: Thucydides and internal war. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2001, ISBN 0-521-78018-7.
  • Eberhard Ruschenbusch: Untersuchungen zu Staat und Politik in Griechenland. Vom 7. - 4. Jh. v. Chr. Bamberg 1978. (Ruschenbusch betont die außenpolitische Komponente der inneren Konflikte.)
  • Hans van Wees: „Stasis, Destroyer of Men“: Mass, Elite, Political Violence and Security in Archaic Greece. In: C. Brélaz u. a. (Hrsg.): Sécurité Collective et Ordre Public dans les Sociétés Anciennes. Fondation Hardt, Genf 2008, S. 1–39.
  • Benjamin Gray: Stasis and Stability. Oxford University Press, Oxford 2015.
  • Ulrich Gotter: Zwischen Christentum und Staatsraison. Römisches Imperium und religiöse Gewalt. In: Johannes Hahn (Hrsg.): Spätantiker Staat und religiöser Konflikt. De Gruyter, Berlin/New York 2011, S. 133ff.
  • Shlomo Berger: Revolution and Society in Greek Sicily and Southern Italy. Franz Steiner, Stuttgart 1992.
  • Ronald L. Weed: Aristotle on Stasis. A Moral Psychology of Political Conflict. Logos-Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-8325-1380-1.
  • Iain Bruce: The Corcyraean Civil War of 427 B. C. In: Phoenix 25, 1971, ISSN 0031-8299, S. 108ff.
  • Henning Börm: Bürgerkrieg. Griechisch. In: Leonhard Burckhardt, Michael Alexander Speidel (Hrsg.): Militärgeschichte der griechisch-römischen Antike (Der Neue Pauly Supplement 12), Metzler, Stuttgart 2022, S. 117ff.
  • Henning Börm: Mordende Mitbürger. Stasis und Bürgerkrieg in griechischen Poleis des Hellenismus (= Historia-Einzelschriften. Band 258). Franz Steiner, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-515-12311-2.
  • Nicole Loraux: The Divided City. Zone Books, New York 2002.
  • Cinzia Bearzot: Stasis e polemos nel 404. In: Marta Sordi (Hrsg.): Il pensiero sulla guerra nel mondo antico. Vita e Pensiero, Mailand 2001, ISBN 88-343-0689-9, S. 19ff.
  • Karl-Joachim Hölkeskamp: Bürgerzwist und politische Gewalt in den griechischen Poleis. In: Gymnasium. 96, 1989, S. 149–152. (Ausführliche Rezension zu Gehrke 1985, mit allgemeinen Überlegungen.)
  • Paula Botteri: Stasis: Le mot grec, la chose romaine. In: Metis 4, 1989, ISSN 1105-2201, S. 87ff., online.
  • Moshe Berent: Stasis, or the Greek invention of Politics. In: History of Political Thought 19, 1998, S. 331ff.
  • Henning Börm: Stasis in Post-Classical Greece. The Discourse of Civil Strife in the Hellenistic World. In: Henning Börm, Nino Luraghi (Hrsg.): The Polis in the Hellenistic World. Franz Steiner, Stuttgart 2018, S. 53ff., online.
  • Henning Börm: Gespaltene Städte. Die Parteinahme für makedonische Könige in griechischen Poleis. In: Stefan Pfeiffer, Gregor Weber (Hrsg.), Gesellschaftliche Spaltungen im Zeitalter des Hellenismus. Franz Steiner, Stuttgart 2021, S. 21–55, online.
  • Geoffrey de Ste Croix: The Class Struggle in the Ancient Greek World. London 1981. (Einflussreiches, faktenreiches Werk, das die inneren Kämpfe im antiken Griechenland im Sinne des Marxismus als Klassenkampf deutet.)
  • Mark A. Barnard: Stasis in Thucydides. Narrative and analysis of factionalism in the polis. University Microfilms International, Ann Arbor MI 1982 (Chapel Hill NC, Univ. of North Carolina, Diss., 1980).
  • Peter Funke: Stasis und politischer Umsturz in Rhodos zu Beginn des 4. Jhdts. v. Chr. In: Werner Eck u. a. (Hrsg.): Studien zur antiken Sozialgeschichte. Böhlau, Köln/Wien 1980, S. 59ff.
  • Andrew Lintott: Violence, Civil Strife and Revolution in the Classical City 750–330 BC. Croom Helm, London u. a. 1982, ISBN 0-7099-1605-1.
  • Richard Buxton: A Model of Conflict: The Metonymic Function of stasis in Xenophon's „Hellenica“. Seattle, Univ. of Washington, Diss. 2011.

Einzelnachweise

  1. Wilhelm Gemoll: Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch. G. Freytag Verlag/Hölder-Pichler-Tempsky, München/Wien 1965.
  2. Mogens Herman Hansen: Stasis as an essential Aspect of the Polis. In: Mogens Herman Hansen, Thomas Heine Nielsen (Hrsg.): An Inventory of Archaic and Classical Poleis. Oxford University Press, Oxford u. a. 2004, ISBN 0-19-814099-1, S. 124–129, besonders S. 124.
  3. Christian Meier: Kultur, um der Freiheit willen: Griechische Anfänge – Anfang Europas? München 2009, S. 226.
  4. Herodot V, 28 f.
  5. Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges 3,79–84.
  6. Henning Börm: Mordende Mitbürger. Stasis und Bürgerkrieg in griechischen Poleis des Hellenismus. Franz Steiner, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-515-12311-2.
  7. Besonders prominent Geoffrey de Ste Croix: The Class Struggle in the Ancient Greek World. Duckworth, London 1981.
  8. Hans-Joachim Gehrke: Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jh. v. Chr. C. H. Beck, München 1985, ISBN 3-406-08065-0.