Standpunkt-Theorie

Eine Standpunkt-Theorie behauptet eine Abhängigkeit der Erkenntnisgewinnung von der Position innerhalb gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse. Der Standpunkt einer Person sei beeinflusst durch die Erfahrungen, die sie im Verlauf ihres Lebens mache, welche wiederum mit ihrer sozialen Situiertheit (z. B. Geschlecht, Wohlstand, Herkunft, Ethnie) zusammenhänge. Standpunkt-Theorie sagt aus, dass sich Neutralität nur angenähert werden kann, wenn in die Wissensfindung Kritik aus verschiedene Perspektiven mit einbezogen wird. Homogene Gruppen – wie etwa eine rein männliche Gruppe Wissenschaftler – seien zum Scheitern verurteilt, wenn sie Objektivität erreichen wollen. Der Blickwinkel einer marginalisierten Gruppe sei für das Annähern an eine objektive Position hingegen besonders wertvoll, da marginalisierte Menschen sowohl die Perspektive der herrschenden Gruppe als auch die eigene Perspektive kennen und sich somit eher bewusst sind, dass die eigene Position dadurch beeinflusst wird, wer man ist und welche Erfahrungen man daher gemacht hat. Zudem ist das aus den Erfahrungen marginalisierter Gruppen destillierte Wissen noch nicht Teil der herrschenden Meinung, was ihrer Kritik besonderes Gewicht gibt. Der Begriff Standpunkt-Theorie (Standpoint Theory) wurde erst in der Postmoderne in der akademischen Diskussion geprägt. Besonders häufig kam der Terminus als Feministische Standpunkt-Theorie vor, er wurde aber auch auf andere Ansätze erweitert. Der unklar umrissene Begriff „Identitätspolitiken“ bezieht sich manchmal auf die Standpunkt-Theorie.

Thesen der Standpunkt-Theorie

  • Ein Standpunkt beeinflusst, welche Haltung die Menschen der sozial konstruierten Welt gegenüber einnehmen.
  • Alle Standpunkte schaffen Voreingenommenheiten oder Vorurteile.
  • Wissen lässt sich nicht unabhängig von Standpunkten erlangen.
  • Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bestimmt weitgehend den Standpunkt, den das Individuum einnimmt.
  • Die Ungleichheiten zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen begünstigen unterschiedliche Standpunkte.
  • Alle Standpunkte sind voreingenommen. Durch die Inklusion möglichst vieler, auch unterdrückter Standpunkte können Gruppen Objektivität erlangen.
  • Marginalisierte Menschen haben den Standpunkt der dominanten Gruppe gezwungenermaßen verinnerlicht und haben weniger Interesse daran, den Status quo aufrechtzuerhalten. Daher ist das Wissen sozial weniger privilegierter Gruppen besonders dazu geeignet, Irrtümer und bisher unterdrückte Wahrheiten aufzudecken, und hat einen epistemischen Vorteil. Bei der Wissenserzeugung (Forschung) sollte daher ein besonderer Schwerpunkt auf die Standpunkte von marginalisierten Menschen gelegt werden.

Hegels Standpunkttheorie

Standpunkttheoretische Konzepte setzen in der Regel bei Hegels Herrschaft und Knechtschaft-Kapitel in der Phänomenologie des Geistes von 1807 an. Nach Hegel hat der Knecht einen erkenntnistheoretischen Vorteil gegenüber dem Herrn.

Mit der These des Bewusstseins ist die Antithese eines anderen Bewusstseins verknüpft. Beide stehen sich in einem paradigmatischen Kampf auf Leben und Tod gegenüber. Eines der beiden wird merken, dass es das Leben hoch schätzt, und daher den Kampf abbrechen. Es ist von nun an der Knecht und muss dem Herrn dienen. Der Knecht wird nun sowohl den Herrn als anderes Bewusstsein anerkennen als auch sich selbst im Produkt seiner Arbeit für den Herrn erkennen:

„Im Herrn ist ihm das Fürsichsein ein andres oder nur für es; in der Furcht ist das Fürsichsein an ihm selbst; in dem Bilden wird das Fürsichsein als sein eigenes für es, und es kommt zum Bewusstsein, dass es selbst an und für sich ist.“[1]

Das Bewusstsein des Knechts wird somit in einem dialektischem Prozess in der Synthese zum Selbstbewusstsein. Zum wahren Selbstbewusstsein wird es allerdings erst, wenn es seine Todesfurcht überwindet.

Marxistische und an Marx anknüpfende Standpunkttheorien

Karl Marx hat Hegels Philosophie auf den Produktionsprozess im Kapitalismus bezogen, in der sich Herr und KnechtKapitalisten und Proletarier – in einer organisierten gesellschaftlichen Beziehung als Klassen gegenüberstehen. Aus der Perspektive des Proletariers ist der Ablauf des Produktionsprozesses prinzipiell verfügbar, da seine Anstrengung die Beziehung zwischen Selbst und Gegenstand erst hervorbringe. Vom Standpunkt der herrschenden Klasse hingegen seien die tatsächlichen Praktiken und die hierfür erforderlichen materiellen Bedingungen nicht sichtbar. Aus dem Standpunkt des Proletariats resultiere sein Klassenbewusstsein und der damit verbundene Klassenkampf, wenn es von der Klasse an sich zur Klasse für sich werde.

Einen radikalen Klassenstandpunkt nahm die Proletkult-Bewegung (19171925) ein. Ihr Haupttheoretiker Alexander Bogdanow forderte in seinem Buch Die Wissenschaft und die Arbeiterklasse[2] die Schaffung eigener proletarischer Universitäten sowie die Entwicklung einer eigenen proletarischen Wissenschaft vom Arbeiterstandpunkt aus.

Georg Lukács bezeichnete in Geschichte und Klassenbewußtsein den historischen Prozess als das, worin sich die Wahrheit der Praxis einer Klasse ausbilde.

Auch Ernst Bloch vertritt eine Standpunkt-Theorie, indem er von einer wechselseitigen Subjekt-Objekt-Beziehung ausgeht: Man kann nicht erkennend außerhalb des Erkennens stehen, einen Standpunkt des Objekts gewinnen, der nicht selbst wieder nur ein bloßer Standpunkt der erkennenden Subjekt-Objekt-Beziehung wäre.

Im englischen Sprachgebrauch gibt es für den Ansatz, der vom Standpunkt der Arbeiter ausgeht, den Begriff Workerism. Im italienischen Operaismus wurde dieser Standpunkt ebenfalls vertreten.

Howard Zinn hat die Geschichte des amerikanischen Volkes neu geschrieben, radikal aus der Perspektive einer Geschichte von unten, dem Standpunkt der Machtlosen.

Nach Pierre Bourdieu beruhen die Machtverhältnisse einer Gesellschaft, die sich unter anderem im Raum der Lebensstile zeigen, auf der Verfügung von Klassen über Kapitalsorten. Bourdieus Standpunkttheorie ist eine der Kritik an der von ihm so genannten Scholastik, der scheinbar voraussetzungslosen und folgenlosen Erkenntnisproduktion, die aber in Wirklichkeit auf inkorporiertem, d. h. verinnerlichtem Bildungskapital des familiären Umfeldes beruhe. Die scholastische Situation sei ein Ort und ein Zeitpunkt sozialer Schwerelosigkeit. Es sei wichtig, dass die Subjekte der Objektivierung sich selber objektivieren und damit den einem Akteur bzw. einer Klasse möglichen Bewusstseins- und Handlungsspielraum ausnutzen.

Feministische Standpunkttheorie

Die feministischen Standpunkttheorien kritisieren androzentrische Weltanschauungen, in deren Zentrum Männer stehen, beziehungsweise Männlichkeiten als Maßstab und Norm verstanden werden. Darüber hinaus vertreten sie die Position, dass aufgrund der patriarchalen Herrschaftsverhältnisse Frauen einen objektiveren Zugang zu bestimmten Bereichen der Welt hätten. Bekanntere feministische Theoretikerinnen der Standpunkttheorie sind Nancy Hartsock, Sandra Harding und Dorothy Smith.

Sandra Harding unterscheidet die schwache Objektivität, welche lediglich vom Wissenschaftler und von der Wissenschaftlerin eine Objektivität verlangt, von der strengen Objektivität, welche sich dadurch auszeichne, dass Forscher den Standpunkt ihrer eigenen sozialen Gruppenzugehörigkeit in die wissenschaftliche Arbeit bewusst miteinbezögen. Die Forschung sollte bei den dominierten Gruppen beginnen. Harding fordert von Angehörigen dominanter Gruppen ein verräterisches Bewusstsein, womit die eigene Arroganz und Ignoranz gegenüber dominierten Gruppen beendet werden solle. Allerdings müsse berücksichtigt werden, dass die Menschen gleichzeitig verschiedenen Gemeinschaften angehörten und somit oftmals gleichzeitig dominierten und dominanten Gruppen zugehörig seien.

Donna Haraway teilt mit der feministischen Standpunkt-Theorie die Kritik an der scheinbaren Objektivität der (patriarchalen) Wissenschaft, die nicht die soziale Situiertheit von Wissen mitbedenke. Sie spricht in diesem Zusammenhang vom Gottes-Trick, da der Wissenschaftler so täte, als nähme er eine Position außerhalb des Forschungsobjektes ein, als sei sein Standpunkt erhaben und gottähnlich.

Innerhalb der neueren Frauen- und Geschlechterforschung wurde die klassische feministische Standpunkt-Theorie inzwischen um einen intersektionalen Ansatzes ergänzt. Die neuere feministische Standpunkt-Theorie erweitert die Analyse aus der Perspektive bzw. dem Standpunkt von Frauen um die Perspektiven anderer marginalisierter Gruppen. Dieser Entwicklung liegt die Erkenntnis zugrunde, dass bei der Analyse von Ungleichheit und Machtverhältnissen neben Geschlecht auch andere soziale Strukturkategorien wie Klasse, sexuelle Orientierung und Ethnizität wichtig sind. Demnach gibt es nicht nur einen feministischen Standpunkt (den von Frauen allgemein), sondern mehrere Standpunkte, etwa die Perspektive schwarzer, lesbischer oder armer Frauen. Beispielsweise hat Patricia Hill Collins einen Standpunkt schwarzer Frauen in Abgrenzung zum Ansatz der klassischen feministischen Standpunkt-Theorie entwickelt, um nicht nur sexistische, sondern auch rassistische, kolonialistische und eurozentrische Machtverhältnisse zu beleuchten.[3]

Siehe auch

Literatur

  • Alexander Bogdanow: Die Wissenschaft und die Arbeiterklasse. Frankfurt a. M. 1971
  • Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt a. M. 2001
  • Donna J. Haraway: Monströse Versprechen: Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft. Hamburg 1995
  • Sandra Harding: Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht. Hamburg 1989
  • Sandra Harding: Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken die Wissenschaft neu. Frankfurt a. M. 1994
  • Sandra Harding: The Feminist Standpoint Theory Reader. Intellectual and Political Controversies. Routledge, 2003, ISBN 0-415-94500-3.
  • G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M. 1986
  • Elisabeth List / Herlinde Studer (Hrsg.): Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik. Frankfurt a. M. 1989
  • Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik. (1923), Neuwied und Berlin 1970
  • Dorothy E. Smith: Eine Soziologie für Frauen. Hamburg 1999

Einzelnachweise

  1. Hegel: Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft. In: Phänomenologie des Geistes. 1807, S. 154.
  2. Bogdanow, Alexander: Die Wissenschaft und die Arbeiterklasse, Frankfurt a. M. 1971
  3. Ruth Becker, Beate Kortendiek (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung: Theorie, Methoden, Empirie. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010 (3. Auflage), ISBN 978-3-531-17170-8, S. 297.