Staat und Gesellschaft

Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft wurde in der deutschen Staatsrechtslehre zeitweise sehr kontrovers diskutiert. Sie geht auf Lorenz von Stein zurück und prägte zunächst die Periode der deutschen konstitutionellen Monarchie.

Unter dem Grundgesetz konnte diese Ordnungsidee nicht ganz reibungslos übernommen werden. Anders als in der konstitutionellen Monarchie, steht die Gesellschaft unter dem Grundgesetz nicht mehr dem Staat gegenüber, sondern ist selbst Inhaber und Schöpfer der Staatsgewalt. Es kann daher in Relation dazu nicht mehr von einem Dualismus von Staat und Gesellschaft im Sinne einer völligen Trennung beider ausgegangen werden; für ein funktionierendes Gemeinwesen braucht es vielmehr deren Zusammenarbeit. Nichtsdestoweniger wird auch heute in der Rechts- und Politikwissenschaft grundsätzlich zwischen Staat und Gesellschaft unterschieden, wobei die politischen Parteien als Bindeglied fungieren sollen.

Dem zugrunde liegt auf der Ebene des Rechts die für die Grundstruktur der antiken und modernen westlichen Zivilisation seit dem römischen Recht charakteristische Trennung zweier Rechtsbereiche, dem des Privatrechts (röm. ius privatum) und dem des öffentlichen Rechts (röm. ius publicum). Das Privatrecht regelt die Beziehungen zwischen freien und gleichen Bürgern, seine Grundprinzipien sind Privatautonomie, Eigentum und Vertrag. Diese Beziehungen sind die zwischen formell gleichen Bürgern, die sich „auf Augenhöhe“ begegnen und per Konsens vertragliche Verpflichtungen eingehen. Die Grundprinzipien von Eigentum, Freiheit, Vertrag und Konsens bilden die Grundprinzipien des freien Markts und der (bürgerlichen) Gesellschaft. Sie können aber nur von einem Staat mithilfe seines Gewaltmonopols zuverlässig in gleicher Weise für alle garantiert und durchgesetzt werden.[1]

Das öffentliche Recht behandelt die Bürger dagegen als Untertanen. Seine Grundprinzipien sind Autorität, Herrschaft, Befehl und obrigkeitliche Anordnung, wie beispielsweise im Steuerrecht. Das öffentliche Recht bildet die Basis des durch ein zentrales Gewaltmonopol, Gebiets- und Personalhoheit definierten Staates, Staatsrecht und Staatsorganisationsrecht sind Teile des öffentlichen Rechts, ebenso wie Steuer- und Verwaltungsrecht.

Der scheinbare Widerspruch beider Grundprinzipien wird durch demokratisch-rechtsstaatliche Verfassungen so vermittelt, dass die freien Bürger selbst zu (partiellen) souveränen Herrschern gemacht werden, die sich über demokratische Prozesse – entweder direkt oder über gewählte Repräsentanten – regieren (Volkssouveränität). Dies konstituiert Politik als Selbstverwaltung freier Bürger mithilfe demokratisch legitimierter öffentlicher Autorität. Hierdurch entsteht eine wechselseitige Durchdringung von Staat und Gesellschaft, ohne jedoch die Trennung und die unterschiedlichen, einander scheinbar widersprechenden Handlungslogiken beider Rechtsbereiche (Konsens vs. Befehl) aufzuheben, die Definitionsmerkmal von Politik bleibt.

Staatliche Macht wird in solchen Verfassungen auf dreierlei Weise eingeschränkt und kontrolliert. Erstens durch das Privatrecht, das eine fundamentale Dezentralisierung staatlicher Souveränität darstellt: im Rahmen der Privatautonomie ist jeder Eigentümer uneingeschränkter Souverän über den Bereich seines Eigentums und kann alle anderen von jeder Verfügung darüber ausschließen (§ 903 BGB). Zweitens durch das Prinzip der (horizontalen) Gewaltenteilung in die drei voneinander funktional getrennten Zweige der Staatsgewalt: Exekutive (mit Aufteilung auf verschiedene Exekutivzweige: Regierung, öffentliche Verwaltung, Polizei, Militär etc.), Legislative (Parlament) und Judikative (Gerichte inkl. Verfassungsgericht), an deren Entscheidungen auch der Staat gebunden ist (Rechtsstaatsprinzip). Drittens durch das Prinzip des Föderalismus oder Bundesstaatsprinzip, das auch als vertikale bzw. föderative Gewaltenteilung zwischen Bund und Einzelstaaten bezeichnet werden kann.[2] Hierbei wird das staatliche Gewaltmonopol wie schon durch das Privatrecht fundamental geteilt, dezentralisiert und damit geschwächt, indem unterschiedliche, voneinander weitgehend unabhängige Regierungsebenen geschaffen werden, die unabhängig voneinander demokratische Gesetzgebung vollziehen können. In der Bundesrepublik Deutschland sind dies die Bundes-, Länder- und Gemeinderegierungen, denen jeweils eigene Wahlen und eigene Gesetzgebungskompetenzen entsprechen.

Die klare Unterscheidung von öffentlichem Recht und privatem Recht wird auch dadurch erschwert, dass der Staat zwar prinzipiell öffentlich-rechtliches Rechtssubjekt ist, aber in manchen Bereichen auch als privatrechtliches Rechtssubjekt auftreten kann. So tritt er als Erheber von Steuern als öffentlich-rechtliches, als Emittent von Staatsanleihen oder als Betreiber öffentlicher Einrichtungen wie Schwimmbäder, Museen oder Transportsystemen auch als privates Rechtssubjekt auf, das sich dem Vertragsrecht unterwirft. Der Staat bleibt damit zwar Staat, tritt aber daneben auch als gleichberechtigtes Mitglied der (bürgerlichen) Gesellschaft auf, der per Konsens Verträge schließt und sich an diese auch halten muss.[3]

Die einzelnen Ansichten

Ein von Horst Ehmke vorgebrachter Einwand gegen eine Unterscheidung von Staat und Gesellschaft baut darauf auf, dass die Gesellschaft als Verband pragmatisch gesehen den Staat ausmacht, es handele sich also bei Staat und Gesellschaft um denselben Verband. Es wäre so gesehen von wenig Sinn von einer Intervention des Staates in die Wirtschaft, welche als Teil oder „Herzstück“ der Gesellschaft gesehen wird, zu sprechen. Da alle, die dem Staat angehörten, auch irgendwie in der Wirtschaft stünden, dann gleichsam in sich selbst intervenieren würden. Ehmke will daher diese Begriffe überwinden und im Anschluss an amerikanisches Staatsdenken von den Begriffen „civil society“ und „government“ ausgehen.

Konrad Hesse fragt daran anschließend kritisch an, welche Bedeutung die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft hat; denn ohne eine konkrete und differenzierte Zuordnung, was dem Staat und was der Gesellschaft zuzuordnen wäre, hätte die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft nicht mehr als Nicht-Identität zum Inhalt. Allerdings differenziert auch Hesse zwischen Staat und Gesellschaft.[4]

Josef Isensee hält hingegen die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft nach wie vor für sinnvoll und bringt als verfassungsrechtliche Scheide- und Grenzlinie das Subsidiaritätsprinzip an, das er für einen Grundsatz des deutschen Verfassungsrechts hält. Das Grundgesetz habe eine Ordnungsentscheidung getroffen, die die Subsidiarität des Staates gegenüber den gesellschaftlichen Kräften vorsieht. Demzufolge ist es immer noch nötig, begrifflich zwischen Staat und Gesellschaft zu unterscheiden.

Auch Ernst-Wolfgang Böckenförde tritt nachdrücklich für eine begriffliche Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ein. Das Individuum als Teil der Gesellschaft stehe nach dem Grundgesetz einem Staat gegenüber, vor dem es zu schützen und daher auch zu unterscheiden ist. Er bezeichnet die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung individueller Freiheit. Dies setze voraus, dass Staat und Gesellschaft sich nicht beliebig gegenseitig durchdringen dürfen.

Zusammenfassung

Die Abgrenzung von Individuum – als Teil der Gesellschaft – und Staat ist offensichtlich sehr gut möglich. Nun ist diese Abgrenzung bei Gruppen oder Organisation dann weiterhin sehr einfach, wenn diese Gruppen oder Organisationen ganz außerhalb der staatlichen Verwaltung stehen – etwa, wenn es sich bei den Inhalten der Gruppe um eindeutig und klar nichtstaatliche Inhalte handelt. Diese Abgrenzung wird dann zunehmend schwierig, wenn einerseits die Gruppe oder Organisation eine substantielle Größe erreicht, und somit in der demokratischen Gesellschaft als Mehrheit auftreten kann, oder wenn andererseits von der Gruppe oder Organisation Inhalte vertreten werden, die üblicherweise Domäne der staatlichen Verwaltung anzurechnen sind.

Kaum lösbar sind somit Konflikte zwischen von der staatlichen Verwaltung begrifflich schwer abgrenzbarer Gruppen, und der staatlichen Verwaltung selbst. Ist etwa eine konkrete Form der Diskriminierung zu verhandeln und stellt sich – auch wenn nur latent – ein substantieller Teil der Bevölkerung hinter diese konkrete Form der Diskriminierung, so liegt ein Konflikt vor, der weder durch den Staat noch durch die Bevölkerung selbst so ohne weiteres gelöst werden kann. Jegliche Diskussion um Diskriminierung, Einwanderungspolitik und ganz allgemein um die Frage nach dem Ausmaß der Staatsgewalt, ist daher ohne Berücksichtigung der begrifflich unklaren Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft nur sehr beschränkt möglich. Diese Unklarheit mag akademisch erscheinen, senkt aber den alltäglichen Gebrauchswert des Demokratie-Konzepts für von Konflikten betroffene Personen in einem ganz erheblichen Ausmaß.

Heute wird die diesbezügliche Diskussion auch unter dem Aspekt gesehen, dass sich in dieser Debatte zwei gegensätzliche Rechtsschulen gegenüberstanden. Die Smend-Schule um Hesse und Ehmke war im Sinne der Smendschen Integrationslehre gegen jede strikte Differenzierung. Die Schmitt-Schule um Böckenförde und Ernst Forsthoff setzte sich demgegenüber für ein axiomatischeres juristisches Denken ein und bemühte sich um eine schärfere Herausarbeitung der Gegensätze.

Siehe auch

Literatur

  • Hans Heinrich Rupp: Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. In: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl., Heidelberg 2004, § 31, S. 879 ff.
  • Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.): Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976.
  • Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, Opladen 1973.
  • Horst Ehmke: Wirtschaft und Verfassung, Karlsruhe 1961.
  • Horst Ehmke: „Staat“ und „Gesellschaft“ als verfassungstheoretisches Problem. In: Ders.: Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik (hrsgg. von Peter Häberle), Königstein 1981, S. 300–324.
  • Konrad Hesse: Bemerkungen zur heutigen Problematik der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. In: DÖV, Jg. 1975, S. 437 ff.
  • Konrad Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1999.
  • Josef Isensee: Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl., Duncker & Humblot, Berlin 2001, ISBN 3-428-10632-6.
  • Frieder Günther: Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970. Oldenbourg, München 2004, ISBN 3-486-56818-3.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Georg Jellinek: Allgemeine Staatslehre. 3. Aufl., Vlg. O. Häring, Berlin 1914.
  2. Vgl. Hiltrud Naßmacher, Politikwissenschaft, 6. Aufl., Oldenbourg, München 2010, S. 376.
  3. Georg Jellinek: Allgemeine Staatslehre. 3. Aufl., Berlin 1914, Vlg. O. Häring, S. 384 f.
  4. Vgl. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 210.