Ostschweizer Dialekt

Ostschweizer Dialekt

Gesprochen in

Ostschweiz
Linguistische
Klassifikation
Offizieller Status
Amtssprache inde jure nirgendwo
de facto im mündlichen Amtsverkehr in der Ostschweiz
Sprachcodes
ISO 639-1

ISO 639-2

gsw (Schweizerdeutsch)

ISO 639-3

gsw

Ostschweizer Dialekt, auch Nordostschweizer Dialekt,[Anm. 1] bezeichnet den hochalemannischen, besonders im Vokalsystem teilweise aber auch mittelalemannisch beeinflussten[1] Dialekt, der in grossen Teilen der Ostschweiz gesprochen wird.

Verbreitung

Zum Ostschweizer Dialekt gehören dialektologisch diejenigen Mundarten, welche die Ostschweizerische Vokalspaltung kennen. Sie gilt:

Verbreitungsgebiet der Ost­schweizerischen Vokalspaltung

Der (traditionelle) Ostschweizer Dialekt geht an der Schweizer Grenze nahtlos in die (traditionellen) Mundarten der baden-württembergischen, bayerischen, vorarlbergischen und liechtensteinischen Nachbarschaft über.[3] Da die Schweiz, Deutschland und Österreich aber je verschiedene sprachliche Ausgleichstendenzen kennen, entwickelt sich die Staatsgrenze zunehmend auch zur Dialektgrenze.[4]

Ostschweizerische Vokalspaltung

Ahd./Mhd.vorneMittehinten
oben/i//y//u/
Mitte/e//ø//o/
untere Mitte/ɛ/ 
unten/æ/ /a/

Als eine Folge der althochdeutschen Umlautung, die zu zwei neuen e-Lauten führte, bekam das Althochdeutsche und das Mittelhochdeutsche im Bereich der Kurzvokale ein asymmetrisches System (Tabelle links). Die beiden Sprachen hatten zwar symmetrisch ein geschlossenes /i/ und /u/ und ein geschlossenes /e/ und /o/, aber nur ein offenes /ɛ/ (das sogenannte germanische ë), das jedoch kein offenes /ɔ/ als Pendant hatte.

Bei vielen Sprachen beobachtete man das Bestreben, das Lautsystem im Gleichgewicht zu halten: Kommt es im Lautsystem in einem Bereich zu einer Bewegung, führt das auch in anderen Bereichen zu Veränderungen. Die Deutschschweizer Dialekte haben ihr Lautsystem auf verschiedenen Wegen wieder ins Gleichgewicht gebracht. Dabei gingen die Ostschweizer Dialekte einen eigenen Weg.

Mehrheit der schweizer­deutschen Dialektevornehinten
oben/i//u/
Mitte/e/Vetter/o/Holder
Moscht
unten/æ/Wätter
Wäschpi
/a/

In der grossen Mehrheit der schweizerdeutschen Dialek-
te wurde die Symmetrie hergestellt, indem das mittel-
hochdeutsche /ɛ/ zu /æ/ gesenkt wurde, womit ein gleich-
mässiges dreistufiges System entstand.

Teil der Glarner Dialektevornehinten
oben/i//u/
Mitte/e/Vetter
Wetter
/o/Holder
Moscht
unten/æ/
Wäschpi
/a/

Ein Teil der Glarner Dialekte hoben das mittelhoch-
deutsche /ɛ/ an, so dass es mit dem geschlossenen /e/
zusammenfiel. Auch dieser Weg führte zum gleichen
Ziel: ein symmetrisches System mit drei vorderen und
drei hinteren Lauten.

William G. Moulton erklärte 1960/61 die Ostschweizerische Vokalspaltung als Korrektur des asymmetrischen Vokalsystems des Mittelhochdeutschen. Anders als bei anderen Deutschschweizer Dialekten blieb in der Ostschweiz /ɛ/ erhalten und die Symmetrie wurde auf dem Weg der Spaltung von /o/ in /o/ (parallel zu /e/) und /ɔ/ (parallel zu /ɛ/) beziehungsweise von /ø/ (parallel zu /e/) zu /ø/ und /œ/ (parallel zu /ɛ/) hergestellt:[5]

Die rote Linie zeigt das Gebiet der Ostschwei­ze­ri­schen Vokalspaltung mit der Vertretung des Se­kun­därumlauts ë/ä. Die grüne Linie markiert die Grenze zwischen dem nördlichen k- (Bodenseealemannisch) und dem südlichen ch-Laut (Hochalemannisch).
Ostschweizer Dialekt
Sekundärumlaut ä
vornehinten
oben/i//u/
Mitte/e/Vetter/o/Holder
untere Mitte/ɛ/Wètter
 
/ɔ/Mòscht
unten/æ/Wäschpi/a/

Im Oberthurgau, im westlichen Fürstenland, im Toggen-
burg, im Appenzellerland und im Werdenberg blieb da-
neben auch /æ/ erhalten.

Ostschweizer Dialekt
Sekundärumlaut ë
vornehinten
oben/i//u/
Mitte/e/Vetter/o/Holder
untere Mitte/ɛ/Wètter
Wèschpi
/ɔ/Mòscht
unten/æ//a/

In Schaffhausen, im Norden des Kantons Zürich, mehr-
heitlich im Thurgau, im östlichen Fürstenland, in der
Stadt St. Gallen sowie im St. Galler und Churer Rhein-
tal wurde /æ/ zu /ɛ/ gehoben.

Binnengliederung

Es existieren in der Ostschweiz zahlreiche Dialektvarianten. Während im nördlichen Dialektgebiet keine scharfen Dialektgrenzen zu finden sind, zeigen sich in den Voralpen und Alpen hingegen zum Teil recht ausgeprägte Trennungslinien.

Die nachfolgende Tabelle zeigt Wortbeispiele in den verschiedenen regionalen Dialektvarianten:[6]

Hochdeutschdas Kind
der Acker
Ziege
zwanzig
Wespe
Käsewähe
etwas
nichts
Bemerkung
Althochdeutschdaz chind
der acchar, achar
geiz
zweinzug
wafsa
châsi, flado
ëtewas (ëtteswas)
niowiht
Schaffhausens Chind
dǝ Akchǝr
Gèiss, Gaass
zwanzg
Wèschpǝlǝ
Chèèstünnǝ
öppis (öpmis)
nüüt, nünt
Schaffhausen und der Thurgau nördlich der Thur sind ein relativ homogenes Dialektgebiet.[7]
Weinlands Chind
dǝ Akchǝr
Gaiss, Gaass
zwanzg
Wèschpǝlǝ
Chèèstünnǝ
öppis
nüüt
Westlicher Thurgaus Chind, Chìnd
dǝ Akchǝr
Gaass, Gaiss
zwanzg
Wèschpǝli
Chäästünnǝ, -tǜlǝ
öpis
nüüt, nünt
Östlicher Thurgaus Chend
dǝ Aggǝr
Gaass
zwanzg
Wäschpǝli; Chèès-
tünnlǝ, -tüllǝ
öppis (naamis)
nünt
Fürstenland
(St. Galler Deutsch)
s Chend
dǝ Aggǝr
Gaiss (älter:
Gaass), zwanzg
Wäschpì
Chääsfladǝ
öppis (nabis)
nünt
In den Städten St. Gallen, Rorschach und Wil werden die Vokale weniger grell ausgesprochen als auf dem Land.
Unteres Toggenburgs Chìnd
dǝ Aggǝr
Gèiss, Gääss
zwänzg
Wäschpi
Chääsfladǝ
näbis, öppis
nüt, nünt
Oberes Toggenburgs Chìnd
dǝ Akchǝr
Gäiss
zwänzg
Wäschpi
Chääsfladǝ
öpis, nämis
nüt
Appenzellerlands Chend, Chènd
dǝ Akchǝr
Gääss
zwènzg
Wäschpi, Wäschpli
Chääsfladǝ
näbis
nünt, nüts
Der Dialekt fällt durch einen starken musikalischen Akzent auf.
St. Galler Rheintal
(Unteres Rheintal)
s Khìand, Kchìand
dǝ Akchǝr
Gòass
zwoanzg
Wèschpǝl
Khèèstǜnnǝlǝ
epǝs
nünt
Der Dialekt wird auch schon zum Mittelalemannischen gerechnet und bildet teilweise den Übergangsdialekt zum Vorarlbergerischen.
Werdenberg
(Oberes Rheintal)
s Chind
dr Aggǝr
Gaiss
zwänzg
Wäschpi; Chääs-
flaadǝ, -chuǝchǝ
ötschis (naisis)
nüüt
Der Dialekt hat ein starkes rätoromanisches Substrat.
Churerdeutschds Khind
dr Aggǝr
Gaiss
zwenzg
Wèschpi
Khèèswèèa
epǝs (ǝswas)
nüüt
Der Dialekt hat ein starkes rätoromanisches Substrat und weist niederalemannische Merkmale auf.

Lautung (Phonologie)

Der Wortakzent ist in der Regel auf der ersten Silbe. Im Gegensatz zum Hochdeutsch wird die betonte Silbe nicht stärker bzw. lauter gesprochen, sondern in einem höheren Ton. Als Beispiele einige Ortsnamen (Wortakzent fett): Schafuu, Tuurgòu, Sangga, Flòòwil Tòggǝburg, Appezö̀ll, Rintl, Khuur.

Verbreitet ist, wie im Schweizerdeutschen generell, die Assimilation. So passt sich z. B. der Artikel d an: d Frau /pfrau/; d Chue /kxuə/; d Manə (Plural) /b̥ⁿmanə/; d Nuss /d̥ⁿnuss/. In den letzten beiden Fällen löst sich der Verschluss durch die Nase.

Vokale

«Lappi tue d'Augen uf» («Narr, öffne die Augen!»). Spruch am Schwabentor in Schaffhausen

Der Ostschweizer Dialekt hebt sich von den anderen Schweizer Mundarten vor allen durch den Vokalismus ab, der auf die bereits erwähnte Ostschweizerische Vokalspaltung zurückzuführen ist. Im Gegensatz zu den Kurzvokalen gab es bei den Langvokalen kaum Veränderungen – ausser beim langen /a/, das in allen Ostschweizer Dialekten zu einem langen offenen /òò/ geworden ist (Òòbig). Die Dialekte, die kein kurzes /ä/ kennen, haben das lange /æ/ zu einem langen offenen /èè/ gemacht (Chääs, Chèès). Der Diphthong /ei/ wurde in den nördlichen Dialekten zu einem langen /aa/ (Gaass), in den südlichen zu einem langen /ä/ (Gääss) und im St. Galler Rheintal zu /òa/ (Gòass). Das lange /aa/ war eine typische Eigenart der Thurgauer Mundart. Beispielhaft dafür waren die Saapfə oder Laaterə.[8] Heute sind diese Aussprachen zu einem grossen Teil verschwunden und es wird Gaiss oder Gèiss verwendet. Charakteristisch ist sodann die Aussprache von Bòmm für Baum: In einigen Ostschweizer Dialekten wurde in manchen Wörtern aus dem früheren /ou/ ein meist kurzes /o/, wenn anschliessend ein /m/, /b/, /p/ oder /f/ folgte: Tròmm, tròmǝ, Ròòm, globǝ, hopt-, choffǝ, o (Traum, träumen, Rahm, glauben, haupt-, kaufen, auch).

Als geschlossene Vokale werden /i ü u e ö o/ (IPA: /iyueøo/), als offene Vokale /ì ǜ ù è ö̀ ò/ (IPA: /ɪʏʊɛœɔ/) verwendet. Die offenen Vokale werden in der Ostschweiz tendenziell offener ausgesprochen als im Standarddeutsch. Die Vokale /a/ und /ä/ sind sehr hell und offen (IPA: /aæ/). Typisch für praktisch das gesamte Ostschweizerische ist die Brechung von /ɪ/ vor /r/, beispielsweise Gschier (Geschirr).[9] Das Schwa /ə/ liegt näher bei /è/ und /ö̀/ (IPA: [ə]), im Bündnerdialekt und im St. Galler Rheintal neigt es zu einem überkurzen /a/ (IPA: [ɐ]).

Konsonanten

Die Konsonanten /ch, kch, gg/ (IPA: /xk͡xk/) sind velar, aber nicht allzu rau. Affrikaten sind /pf z tsch kch/ (IPA: /p͡f t͡s t͡ʃ k͡x/). Sie werden nach Osten hin abnehmend hart ausgesprochen und kommen an der österreichischen Grenze fast nicht mehr vor. Die Fortes /p t gg/ sind nicht behaucht und die Lenis /b d g/ stimmlos (IPA: /ptkbdg/). Frikative sind /f s sch x h/ (IPA: /fsʃxh/). /l/ ist hell und /r/ wird entweder mit der Zungenspitze (IPA: [r]) artikuliert oder am (hinteren) Gaumen (IPA: [ʁɺ]). Nasal sind /m n ng/ (IPA: /mnŋ/). Die Halbvokale /w j/ werden ohne Reibung gesprochen (IPA: /ʋj/).

Der Ostschweizer Dialekt hat wie die anderen Hochalemannischen Mundarten das althochdeutsche /k/ zu /ch/ verschoben (Chind) – ausser im St. Galler und Churer Rheintal (Khind). Diese werden wegen dieser fehlenden Lautverschiebung auch zum Mittelalemannischen gezählt. Auffällig ist ein geminiertes /kk/, das in den östlichen Dialekten der Ostschweiz, in der sogenannten «Beggeli-Zone» (nach Beggeli für sonstiges schweizerdeutsche Beckeli), nicht zu /kx/ verschoben wurde: tringgǝ, druggǝ, Aggǝr (trinken, drücken, Acker).

Während früher das R /r/ in der gesamten Ostschweiz apikal, also mit der Zungenspitze artikuliert worden war, begannen sich in der nördlichen Ostschweiz um 1900 die dorsale und die uvulare (am Zäpfchen artikulierte) Aussprache des R auszubreiten.[Anm. 2] Im Appenzellerland und im St. Galler Rheintal ist das R verbreitet stumm geworden (Bèèg statt Bèrg). Viele Appenzeller nasalieren zudem die Vokale vor einem /m/, /n/ oder /ng/.

Wortschatz (Lexik)

Der Ostschweizer Wortschatz entspricht zu grossen Teilen dem allgemeinen schweizerdeutschen Vokabular. Es existieren jedoch zahlreiche Besonderheiten, die für die ganze oder für Teile der Ostschweiz charakteristisch sind, zum Beispiel Bitzgi (Kerngehäuse), Bolle, Zuckerbolle (Bonbon), brääsele, breesele, brüüsele (brenzlig riechen), Chetteleblueme (Löwenzahn), chiide (tönen), Chöider oder Möider (Kater), Chuchere (Papiersack), Flade oder Tünne(le) (siehe auch Abschnitt Binnengliederung), Girèizi (Kinderschaukel), Glufe (Stecknadel), Hasel-, Häselbeeri (Heidelbeere), Jucker (Heuschrecke), Mesmer (Kirchdiener, sonst in der Deutschschweiz Sigrist), Mikte, Miktig, Mektig (Mittwoch), Ooreschlüüffer (Ohrwurm), rüebig (ruhig), Schmaalz (Butter), strääze (stark regen), zibölele (Katzen hageln), Züche (Schublade).[10] Besonders viele eigentümliche Wörter haben sich in Appenzell Innerrhoden erhalten.[11]

Im gesamtschweizerdeutschen Kontext merkmalhaft für das Ostschweizerdeutsch ist das Vorkommen verbaler Langformen, wo die anderen Mundarten ausschliesslich Kurzformen haben. Dies gilt – von Verb zu Verb unterschiedlich ausgeprägt – für «mehrheitsschweizerdeutsch» aafaa/aafoo gegenüber fast allgemein ostschweizerisch aafange/aafache/aafahe (anfangen), «mehrheitsschweizerdeutsch» gsee gegenüber teilweise ostschweizerisch sèche/sèhe (sehen), «mehrheitsschweizerdeutsch» schlaa/schloo gegenüber teilweise ostschweizerisch schlache/schlahe (schlagen) sowie «mehrheitsschweizerdeutsch» zie gegenüber fast allgemein ostschweizerisch züche/zühe/züüche/züühe (ziehen).[12][Anm. 3]

Auffällig ist das Wort für «etwas». Das in der ganzen Deutschschweiz verwendete öppe, öppis (althochdeutsch ëtewas, ëtteswas) gilt zwar auch verbreitet in der Ostschweiz, aber in Schaffhausen und im nördlichen Thurgau verwendet die ältere Bevölkerung dafür auch das Wort naamis, und im Toggenburg und im Appenzellerland gilt allgemein näbis (beides aus althochdeutsch [ih] enweiʒ waʒ ‚ich weiss nicht was‘).[13][14]

Grammatik

Im Folgenden seien einige morphologische und syntaktische Besonderheiten der Ostschweizer Dialekte genannt:

Eine gesamtostschweizerische Besonderheit ist der /iə/- beziehungsweise der /x/-Laut im Präsens von gsee, sèche (sehen), also ich gsie, du gsiesch(t), er gsiet, mir/ir/si gsiend beziehungsweise besonders im östlichen Thurgau ich sech, du sechsch(t), er secht sowie im ganzen nordöstlichen Ostschweizerisch mir/ir/si sèched.[15]

Typisch für die ältere Ostschweizer Mundart ist sodann die Umlautlosigkeit im Plural der Kurzverben und der Präteritopräsentia, etwa mer gond (wir gehen), mer hand (wir haben), mer muend. Im Laufe des 20. Jahrhunderts ist sie allerdings in vielen Gebieten durch die in der übrigen Deutschschweiz übliche umgelautete Form (mer gönd, mer händ, mer müend) verdrängt worden; am verbreitetsten kommt sie heute noch im Rheintal vor.[16]

Ein unvermindert lebendiges Merkmal der Ostschweizer Dialekte, das aber auch für die anschliessenden Mundarten im Raum Linth–Walensee-Seez sowie March und Höfe gilt, ist die Bildung des Partizips Perfekt von tue (tun) mit dem gleichen Ablaut wie im Infinitiv, als tue (getan). Alle anderen schweizerdeutschen Dialekte haben im Partizip Perfekt hingegen den dem Schriftdeutschen entsprechenden Typus taa/too.[17]

Eine – freilich auf dem Rückzug befindliche – Besonderheit des traditionellen nördlichen Ostschweizerisch (Klettgau, Reiat, Oberthurgau, nordöstliches St. Gallen bzw. unterstes Rheintal, Appenzellerland; nach neueren Erhebungen fast nur noch Klettgau, Reiat, Appenzell, unteres Rheintal – mit nördlicher Fortsetzung bis ins Ostschwäbisch und östlicher Fortsetzung bis in den Bregenzerwald) ist die Unterscheidung zweier Infinitive, nämlich eines unmarkierten auf -e und eines auf -ed, id, -nd ausgehenden nach der Infinitivpartikel z (zu), vergleiche etwa mache (machen), singe (singen), gòò (gehen), aber z mached, z machid (zu machen), z singed, z singid (zu singen), z gònd, z gönd (zu gehen). Letztere Formen gehen auf das althochdeutsche Gerundium zurück.[18]

Typisch st. gallisch, appenzellerisch und teilweise oberthurgauerisch ist bis heute, dass das koprädikative Adjektiv auf -e ausgeht: du muesch d Melch aber haasse/häässe trinke «du musst die Milch aber heiss trinken»; Fischstääbli mue me doch gfròòr(n)e aabròòte «Fischstäbchen muss man doch gefroren anbraten»; oogsträälete send d Chend a s Hoochsig choo «ungekämmt kamen die Kinder an die Hochzeit».[19]

Ein Merkmal des Ostschweizerischen (aber auch des Nordwestschweizerdeutschen) ist sodann die Form mii für standarddeutsch «meins» oder «mir» in Possessivkonstruktionen wie da isch mii «das ist meins», da ghöört mii «das gehört mir».[20]

Wahrnehmung ausserhalb der Ostschweiz

Die Märchenerzählerin Trudi Gerster begleitete drei Generationen von Schweizer Kindern. Sie störten sich nicht an ihrem St. Galler Dialekt.

Der St. Galler und Thurgauer Dialekt mit der «spitzen», nasalen Aussprache der Vokale wird von anderen Deutschschweizern häufig als unsympathisch beurteilt. Für die Unbeliebtheit der Ostschweizer Dialekte werden aussersprachliche Faktoren vermutet. Obwohl in Teilen Graubündens oder in Italien ähnliche A-Laute verwendet werden, sind diese Sprachformen in der Schweiz dennoch beliebt.[7] Im Gegensatz zu Graubünden, dem Berner Oberland oder dem Wallis ist die Ostschweiz keine klassische Ferienregion der Schweizer, womit positive Erinnerungen an die Ostschweiz fehlen.[21] In der Alten Eidgenossenschaft hatten der Thurgau als Untertanengebiet oder Stadt und Fürstabtei St. Gallen als Zugewandte Orte einen geringeren Stellenwert als die autonomen Alten Orte. Eine Studie hat jedoch gezeigt, dass Menschen, die die Schweiz nicht kennen, den berndeutschen und den Thurgauer Dialekt genau gleich schön finden.[7]

In den letzten Jahren hat sich in der Ostschweiz eine starke Mundartszene entwickelt. Vor allem Musik und Spoken Word in Ostschweizer Dialekt boomen – auch ausserhalb der Kantonsgrenzen. Die Schaffhauser Bands Min King und Papst & Abstinenzler, die St. Galler Manuel Stahlberger und Gülsha Adilji sowie die Thurgauerin Lara Stoll sind nur einige Beispiele für das gewachsene Ostschweizer Selbstbewusstsein auf den Bühnen.[7] Schon länger bekannt als Ostschweizer Dialektsprecher sind Trudi Gerster, Walter Roderer, Urs Kliby und Matthias Hüppi.

Literatur

Übersicht
  • Rudolf Hotzenköcherle: Die Sprachlandschaften der deutschen Schweiz. Sauerländer, Aarau/Frankfurt am Main/Salzburg 1984 (Reihe Sprachlandschaften der Schweiz, 1), ISBN 3-7941-2623-8, insbesondere Der Nordosten, S. 91–124.
Grammatiken
Wörterbücher
  • Alfred Richli u. a.: Schaffhauser Mundartwörterbuch. Meier Buchverlag, Schaffhausen 2003, ISBN 3-85801-162-2.
  • Emmi Mühlemann-Messmer: Was duu nüd sääscht. Schläpfer, Herisau 1990. (2. Auflage. 1999, ISBN 3-85882-069-5) (Hinterlender Dialekt).
  • Stefan Sonderegger, Thomas Gadmer: Appenzeller Sprachbuch. Der Appenzeller Dialekt in seiner Vielfalt. Hrsg. von der Erziehungsdirektionen der Kantone A. Rh. und I. Rh., Appenzell/Herisau 1999, ISBN 3-85882-310-4.
  • Joe Manser: Innerrhoder Dialekt. (= Innerrhoder Schriften. 9). Appenzell 2001, ISBN 3-9520024-9-6. (4., erweiterte Auflage 2008).
  • Wendel Langenegger: Im Rintl dahoam. Rheintaler Wörterbuch (unter besonderer Berücksichtigung der Mundart von Kriessern.) 2001.
  • Hans Eggenberger u. a.: Grabser Brögge. Ausdrücke in Mundart. Druck+Verlag AG, Schaan [o. J.] ISBN 3-905501-69-4.
  • Susan Osterwalder-Brändle: Hopp Sanggale! Wörter, Redensarten, Geschichten. St. Galler Mundartwörterbuch. Cavelti, Gossau 2017, ISBN 978-3-033-06191-0.
Verschiedenes
  • Heinrich Altherr: Die Sprache des Appenzellervolkes. Verlag Appenzeller Hefte, 2. Auflage 1973. (Online bei der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, PDF; 9,1 MB).
  • Hermann Bauer: aadlech bis zibölele. 30 Merkwürdigkeiten aus dem Sanggaller Wörterbuch. (= z’ Sanggale. [Band 1]). Leobuchhandlung, St. Gallen [1972].
  • Hermann Bauer: ’s isch all daa. Drei Dutzend bemerkenswerter Sanggaller Redensarten. (= z’ Sanggale. Band 2). Leobuchhandlung, St. Gallen [1973].
  • Hermann Bauer: Joo gad-o-noo. Sanggaller Sprach- und Lokalkolorit in vier Dutzend Redensarten. (= z’ Sanggale. Band 5). Mit Stadtzeichnungen von Godi Leiser. Leobuchhandlung, St. Gallen [1977].
  • Oscar Eckhardt: Tschent. Churer Dialekt. 2., überarb. und erw. Auflage. Verlag Desertina, Chur 2007.
  • Oscar Eckhardt: Alemannisch im Churer Rheintal. Von der lokalen Variante zum Regionaldialekt. (= Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beiheft 162). Franz Steiner, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-515-11264-2.
  • Oscar Eckhardt: Alemannisch im Churer Rheintal. Von der lokalen Variante zum Regionaldialekt. In: Schweizerisches Idiotikon / Schweizerdeutsches Wörterbuch. Jahresbericht 2017. S. 21–32.
  • Gesellschaft Schweiz-Liechtenstein (Hrsg.): Die Sprachlandschaft Rheintal. (= Schriftenreihe. Nr. 4). Zollikofer, St. Gallen 1981 Darin: Hans Stricker: Zur Sprachgeschichte des Rheintals, vor allem Werdenbergs und Liechtensteins (S. 7–58) und: Eugen Gabriel: Die liechtensteinische Mundart im Rahmen ihrer Nachbarmundarten. (S. 59–95).
  • Martin Hannes Graf: Thurgauer Mundart in Geschichte und Gegenwart. (= Sprachen und Kulturen. 5). Hrsg. von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Bern 2012. (2., überarbeitete und erweiterte Auflage Bern 2014).
  • Ernst Hausknecht: St. Galler Mundart. In: Die Stadt St. Gallen und ihre Umgebung. Natur und Geschichte, Leben und Einrichtungen in Vergangenheit und Gegenwart. Hrsg. von Gottlieb Felder. Fehr’sche Buchhandlung, St. Gallen 1916, S. 245–262.
  • Astrid Krähenmann: Quantity and Prososdic Asymmetries in Alemannic. Synchronic and Diachronic Perspektives. Berlin 2003 (auf den Thurgau bezogen).
  • Johannes Meyer: Das gedehnte a = ai in nordostalemannischen Mundarten. In: Schweizerische Schulzeitung. Band 2, 1872, Nr. 44–47, S. 350 ff.
  • William G. Moulton: Lautwandel durch innere Kausalität: die ostschweizerische Vokalspaltung. In: Zeitschrift für Mundartforschung. Band 27, 1960, S. 227–251.
  • Alfred Saxer: Das Vordringen der umlautenden Plurale bei den Kurzverben (gehen, haben, kommen, lassen, müssen, schlagen, stehen, tun) in der Nordostschweiz. Juris, Zürich 1952.
  • Erich Seidelmann: Mhd. o, ö und das leere Fach. Zur sogenannten «Vokalspaltung» im Alemannischen. In: Hubert Klausmann (Hrsg.): Raumstrukturen im Alemannischen. Beiträge der 15. Arbeitstagung zur alemannischen Dialektologie. Schloss Hofen, Lochau (Vorarlberg) von 19.–21.9.2005. (= Schriften der Vorarlberger Landesbibliothek. 15). Neugebauer, Graz/Feldkirch 2006, S. 53–59 (Seidelmann untersucht die Vokalspaltung auch im süddeutschen Raum).
  • Rudolf Trüb: Ein Lautwandel der Gegenwart. Die Entwicklung von ā, ǟ usw. zu ei in Wörtern wie Seil, Fleisch in der Nordostschweiz [= Festschrift für Rudolf Hotzenköcherle]. In: Paul Zinsli, Oskar Bandle, Peter Dalcher, Kurt Meyer, Rudolf Trüb, Hans Wanner (Hrsg.): Sprachleben der Schweiz. Sprachwissenschaft, Namenforschung, Volkskunde. Francke, Bern 1963, S. 87–100.

Siehe auch

Commons: Audioaufnahmen im Ostschweizer Dialekt – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Peter Wiesinger: Die Einteilung der deutschen Dialekte. In: Werner Besch u. a.: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektogie (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Band 1). Berlin / New York 1983, S. 807–900, besonders S. 836 sowie Karten 47.4 und 47.5.
  2. Rudolf Hotzenköcherle: Die Sprachlandschaften der deutschen Schweiz. (= Sprachlandschaften der Schweiz. 1). Sauerländer, Aarau / Frankfurt am Main / Salzburg 1984, ISBN 3-7941-2623-8; hier: Der Nordosten. S. 91–124.
  3. Vgl. den Südwestdeutschen Sprachatlas, den Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben und den Vorarlberger Sprachatlas mit Einschluss des Fürstentums Liechtenstein, Westtirols und des Allgäus.
  4. Zum Thema vgl. Hans-Peter Schifferle: Dialektstrukturen in Grenzlandschaften. Untersuchungen zum Mundartwandel im nordöstlichen Aargau und im benachbarten südbadischen Raum Waldshut (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1, 1538). Bern 1995.
  5. Erstmals in William G. Moulton: The short vowel system in Northern Switzerland. In: Word. Band 16, 1960, S. 155–182, hier S. 165–174, und ausführlich in William G. Moulton: Lautwandel durch innere Kausalität: die ostschweizerische Vokalspaltung. In: Zeitschrift für Mundartforschung. Band 28, 1961, S. 227–251.
  6. Daten gemäss Sprachatlas der deutschen Schweiz.
  7. a b c d Ostschweizer-Dialekt ist schön! In der Sendung Schnabelweid von Radio SRF 1 vom 8. März 2018.
  8. Sabrina Bächi: Thurgauer Dialekt: «Ase schöö». In: St. Galler Tagblatt (online), 25. März 2017.
  9. Sprachatlas der deutschen Schweiz, Band II, Karte 69.
  10. Beispiele gemäss Sprachatlas der deutschen Schweiz und Schweizerischem Idiotikon.
  11. Jesko Calderara: Mundart: Wenn «de Hopme förbt». In: St. Galler Tagblatt (online), 12. August 2017.
  12. Sprachatlas der deutschen Schweiz. Band III 19, 73, 78, 99.
  13. Schweizerisches Idiotikon, Band IV, Spalten 807–813, Artikel neiss- (Digitalisat).
  14. Christoph Landolt: Säit öpper öppis? ötschwär ötschis? etter ettis? näber näbis? eswär eswas? einwär einwas? Wortgeschichte vom 22. März 2014, hrsg. von Redaktion des Schweizerischen Idiotikons.
  15. Sprachatlas der deutschen Schweiz. Band III, 96–97.
  16. Sprachatlas der deutschen Schweiz. Band III 47, 52, 59, 66, 72, 76 f., 87 f., 102, 105, 107; Alfred Saxer: Das Vordringen der umlautenden Plurale bei den Kurzverben (gehen, haben, kommen, lassen, müssen, schlagen, stehen, tun) in der Nordostschweiz. Juris, Zürich 1952.
  17. Sprachatlas der deutschen Schweiz, Band III 54.
  18. Sprachatlas der deutschen Schweiz, Band III 1, 3, 55; Neuaufnahmen ab 2000 für den Syntaktischen Atlas der deutschen Schweiz, Band I 268–271, Band II 153 f.
  19. Syntaktischer Atlas der Schweiz, Band I 281–297, Band II 161–183.
  20. Syntaktischer Atlas der Schweiz, Band I 59–63, Band II 32–34.
  21. Grusigi Dialäkt – gits nit! In der Sendung Schnabelweid von Radio SRF 1 vom 19. November 2020.

Anmerkungen

  1. Zur Nordostschweiz wird oft auch der Kanton Zürich miteingerechnet. Dort wird jedoch Zürichdeutsch gesprochen, mit Ausnahme einiger Grenzgemeinden zu den Ostschweizer Kantonen Schaffhausen und Thurgau.
  2. Anlässlich der Erhebungen zum Sprachatlas der deutschen Schweiz in der Zeit um 1950 bei schon älteren Gewährspersonen wurde nicht apikales /r/ in der Ostschweiz erst ganz sporadisch erhoben; siehe Band II, 151–153. Genauere Angaben liefern zwei Ortsgrammatiken, die im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts verfasst wurden: Im Kanton Schaffhausen überwog damals uvulares /r/ in den Dörfern Barzen, Hallau, Herblingen, Ramsen, Schaffhausen, Thayngen, apikales in Buch, Lohn, Oberhallau und im Reiat; siehe Georg Wanner: Die Mundart des Kantons Schaffhausen. (= Beiträge zur Schweizerdeutschen Grammatik. 20). Huber, Frauenfeld 1941 [verfasst vor 1922], S. 10. Für den Kanton Thurgau wurde damals festgehalten, dass in Kesswil die Schüler der neunten Klasse das /r/ apikal aussprachen, diejenigen der ersten Klasse uvular; siehe Fritz Enderlin: Die Mundart von Kesswil. (= Beiträge zur Schweizerdeutschen Grammatik. 5). Huber, Frauenfeld [1911], S. 168. Zur Geschichte des /r/ in der Deutschschweiz siehe auch Martin Hannes Graf: Thurgauer Mundart in Geschichte und Gegenwart. (= Sprachen und Kulturen. 5). Hrsg. von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Bern 2014, S. 41–43.
  3. Die Verhältnisse bei «ziehen» sind komplexer als diejenigen bei den andern drei Verben, da zie und zü(ü)che einen unterschiedlichen Hintergrund haben: Ausgehend vom mittelhochdeutschen Paradigma Infinitiv ziehen – Präsens Singular züche, züchest, züchet – Präsens Plural ziehen, ziehet, ziehend (mit /iə/ aus althochdeutsch /io/ und /üː/ aus althochdeutsch /iu/) stellt zie (in Teilen des Kantons Schaffhausen und des Toggenburgs) eine Generalisierung des /iə/-Lauts von Infinitiv und Präsens Plural auch im Präsens Singular dar, bei züche usw. gilt dagegen Generalisierung des /ü/-Lauts des Präsens Singulars auch im Infinitiv und im Präsens Plural. Im mittleren Toggenburg hat sich das lautgesetzliche Verhältnis zie – i züche, du züchsch, er zücht – mir ziend, ir ziend, si ziend teilweise erhalten. Siehe Sprachatlas der deutschen Schweiz, Band III, 19–21 und den Artikel ziehen im Schweizerischen Idiotikon (im Druck), sodann spezifisch Georg Wanner: Die Mundart des Kantons Schaffhausen (= Beiträge zur Schweizerdeutschen Grammatik. 20). Huber, Frauenfeld 1941, S. 77; Wilhelm Wiget: Die Laute der Toggenburger Mundarten (= Beiträge zur Schweizerdeutschen Grammatik. 9). Huber, Frauenfeld 1916, S. 53.

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