Sprache Kanaans

Sprache Kanaans ist eine selbstkritisch-ironisierende Bezeichnung für eine christliche Gruppensprache (Jargon), die – meist unbewusst – häufig in den Zusammenkünften freikirchlicher und pietistischer Kreise verwendet wird.

Die Bezeichnung geht zurück auf Jesaja 19,18 („Zu der Zeit werden fünf Städte in Ägyptenland die Sprache Kanaans sprechen …“) und bezeichnet eine Sprachform, die deutlich von der Alltagssprache abweicht und durch den Satzbau sowie das Vokabular traditioneller Bibelübersetzungen geprägt ist, etwa durch die Sprache der Luther-Bibel (1912). Für andere Kreise, zum Beispiel die Brüdergemeinden, war der Sprachstil der Elberfelder Bibel formend.[1]

Beispiele

„Kanaanäische“ Redewendungen

Sprache KanaansÜbertragung in die Alltagssprache
Als ich noch in der Welt war ...Bevor ich Christ wurde …
Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!Liebe Gemeindemitglieder!
Bruder Schmidt, Schwester Frey und Geschwister Müller (nur Gemeindemitglieder untereinander)Herr Schmidt, Frau Frey und Herr und Frau (Eheleute) Müller
Ich habe keine Freudigkeit.Ich habe keine Lust.
Ihr fehlt die Freimütigkeit.Sie stimmt nicht zu / sie traut sich nicht.
Dein Wandel ist nicht auf dem Boden der Wahrheit/Schrift.Du richtest dich nicht nach den biblischen Lebensregeln.
Er wandelt nicht im Herrn/im Geist.Sein Lebenswandel widerspricht unseren (christlichen) Überzeugungen.
Wir haben heute unter der Verkündigung des Wortes (Gottes) eine tiefe Salbung empfangen.Die Predigt war sehr ansprechend.
Er kommt mit großer Treue in die Stunde.Er besucht regelmäßig den Gottesdienst.
Bruder Müller dient heute am Tisch (des Herrn).Gemeindemitglied Müller hilft heute bei der Austeilung des Abendmahls.
Bruder Müller wird uns heute am Wort dienen.Gemeindemitglied Müller hält heute die Predigt
Wer möchte ein Zeugnis geben?Wer hat eine Erfahrung mit Gott gemacht und möchte davon berichten?
Solange wir noch hienieden auf Erden wandeln …Solange wir noch nicht gestorben sind …
Beuget eure Herzensknie …Seid demütig …
Er lebt nicht nach der Reinheit des HeiligtumsEr führt ein unmoralisches Leben
Herr, gib uns gesalbte Ohren zu hören und gesalbte Augen zu sehen …Gott, lass uns offen sein für dein Wort …
Er ist heimgegangen …Er ist verstorben …
Mir ist ein Wort groß geworden …Mich hat ein Bibelvers beeindruckt …
Laßt uns stillewerden …Wir wollen nun gemeinsam beten. …
Vergib uns, wo wir gefehlt haben …„gefehlt“ i. S. von „einen Fehler gemacht haben“, gesündigt haben.
Den unteren Weg gehenDemütig sein, sich aufopfern, aus Pflichtgefühl (Gott gegenüber) ungeliebte Dinge tun
der Feindder Teufel
Jesus ist im Fleisch gekommen.Jesus erschien als Mensch aus Fleisch und Blut in dieser Welt

„Rotkäppchen“ in der Sprache Kanaans

Aus einer Übertragung des Märchens vom Rotkäppchen in die Sprache Kanaans:[2]

[...] Nach einiger Zeit sagte die Mutter zu Rotkäppchen: „Du bist gefragt, mein Kind, ob du der Großmutter freudig mit ein paar Lebensmitteln dienen willst. Du kennst ja den Weg zu ihrem Häuschen im Wald. Insonderheit musst du dir sagen lassen, dass du dich vor dem bösen Wolf in acht nehmen musst; du könntest sonst in große Daseinsangst geworfen werden. Fühlst du dich dafür nun zugerüstet oder überfordere ich dich, mein Kind?“ Das Rotkäppchen schüttelte den Kopf und ließ sich freudig mit den Lebensmitteln ausrüsten. „Es muss dir wichtig werden“, sagte die Mutter dabei, „stets auf dem rechten Weg zu bleiben und dich mit keinem einzulassen. Und“, sie zog einen eng beschriebenen Bogen aus der Schreibmaschine, „hier ist noch das Wort, das ich nach ernsthafter Prüfung meines Gewissens für die Großmutter im Walde erarbeitet habe.“ […]
Als der Jäger vorüberkam, ließ er sich die Not der beiden groß werden und wurde darüber freudig, den bösen Wolf zu töten. Dann zog er die Großmutter und das Rotkäppchen entschlossen aus dem Bauch des Wolfes. Das Rotkäppchen aber musste sich in großem Ernst fragen lassen, warum es mit dem bösen Wolf gegangen war. Als die beiden nun dem guten Jäger so recht von Herzen danken wollten, wehrte er ihnen ab und sagte: „Wir müssen nüchtern sein. Es war mir wesentlich, dass ich euch in Verantwortung diesen Dienst tun durfte. Das müsst ihr euch nun schenken lassen.“ […]

„Kanaanäische Dialekte“

Innerhalb der Sprache Kanaans haben sich je nach Freikirche bzw. pietistischer Gemeinschaft bestimmte „Dialekte“ entwickelt, sodass geschulte Hörer die jeweiligen Sprecher ihrer gemeindlichen Herkunft nach zuordnen können. Nach Erich Geldbach kann zum Beispiel „ein geübtes Ohr auch heute noch einen deutschen exklusiven Darbysten unschwer an seiner Sprache erkennen“.[3]

Umgekehrt kann ein und derselbe Begriff je nach Richtung der Gemeinde unterschiedliche Bedeutungen haben. So kann „Lobpreis“ je nach Gruppe eine Gebetszeit bedeuten, in der Gott gelobt wird, oder eine Reihe von gesungenen Anbetungsliedern, oder eine Mischung von beidem – innerhalb der Gruppe ist der Sinn eindeutig.

In bestimmten Fällen können Ausdrücke mit Bezug auf die Bibel auch ein Codewort für den betreffenden Text sein, beispielsweise bezieht sich „sub conditione Jacobi“ als Zusatz bei Zukunftsplänen auf Jakobus 4,15: „wenn der Herr will und wir leben, werden wir dieses oder jenes tun“. Dieses Phänomen ist vergleichbar dem auch allgemeiner bekannt gewordenen „Matthäi am letzten“ (gemeint ist: Matthäus, letztes Kapitel), das als Umschreibung für Mt 28,16-20 gemeint ist.

Auch die Charismatische Bewegung hat inzwischen ihre eigene Sprache Kanaans entwickelt. Für Außenstehende nur schwer verständliche Begriffe und Redewendungen wie gesalbt werden, den Segen des Vaters empfangen, im Geist ruhen, geistliche Kampfführung und Jesus proklamieren sind typisch für neo-pfingstlerische Gruppen.

Die modernen Milieukirchen, so zum Beispiel die Jesus Freaks, haben ebenfalls ein eigenes sprachliches Genre entwickelt. Dieser Dialekt ist allerdings nicht von den traditionellen Bibelübersetzungen geprägt, sondern von der aktuellen Jugendsprache, und stellt daher keine Sprache Kanaans im engeren Sinne mehr dar. Hier hat sich die eingangs beschriebene Entwicklung sogar umgedreht; die Volxbibel ist dafür ein Beleg.

Soziologische Aspekte

In vielen Fällen hat sich mit der Sprache Kanaans aus einer ursprünglich christlichen Fachsprache mit spezifischen Bezeichnungen für theologische oder gemeindliche Zusammenhänge eine breiter verwendete Gruppensprache (Jargon) entwickelt, die, wie bei anderen Gruppen auch, soziologisch der Identitätsstiftung nach innen wie nach außen dient.

Als mögliche Ursachen für dieses Phänomen lassen sich anführen, dass die Sprecher entweder die alte, aus Bibeltexten und Gemeindetradition gewohnte Sprache in Form eines Rituals zur Gewinnung eines eigenen Sicherheitsgefühls benötigen, dass sie zu einem Auseinanderklaffen der verschiedenen Lebensbereiche Alltag und Gemeinde neigen oder dass sie wenig Umgang mit Menschen außerhalb ihres Frömmigkeitsstils pflegen und auch kaum „weltliche“ Medien (Bücher, Zeitschriften, Rundfunk, Internet) nutzen (Absonderung von „der Welt“).[4] Die Verwendung der Sprache Kanaans kann jedoch auch symptomatisch für ein eher formales, unpersönliches Gottesbild oder einen gesetzlichen, an die Erfüllung äußerer Vorgaben gebundenen Glauben sein.

Siehe auch

Literatur

  • Joachim Burkhardt / Hans Rittermann: Rotkäppchen und der Wolf. Kleine Phänomenologie der Sprache Kanaans. In: Joachim Burkhardt (Hrsg.): Kirchensprache – Sprache der Kirche. Zwingli-Verlag, Zürich/Stuttgart 1964. S. 9–32.
  • Andreas Malessa: Das frommdeutsche Wörterbuch. Jetzt verstehe ich die Christen! Oncken-Verlag, Wuppertal/Kassel 2002, ISBN 3789380741 (humoristische Darstellung der Sprache Kanaans).
  • Jörg Zink: Sprache Kanaans und christlicher Jargon. In: ders.: Das biblische Gespräch. Eine Anleitung zum Auslegen biblischer Texte. Burckhardthaus-Verlag, Gelnhausen/Berlin, und Christophorus-Verlag, Freiburg 1978. S. 165ff.

Quellen

  1. Zur Sprache der Brüderbewegung siehe Michael Schneider: Kennzeichen und Probleme der „Versammlungssprache“, in: Zeit & Schrift 6/2001, S. 4–11; überarbeitet und erweitert als: Die Sprache der „geschlossenen Brüder“ – Kennzeichen und Probleme (PDF; 104 kB).
  2. L. Röhrich: Gebärde, Metapher, Parodie, Düsseldorf 1967, S. 143f. (das komplette Märchen gibt es hier)
  3. Erich Geldbach: Christliche Versammlung und Heilsgeschichte bei John Nelson Darby, 3. Auflage, Wuppertal 1975, S. 51.
  4. „Die Eigentümlichkeit der deutschen ‚Darbystensprache‘ ist zudem noch auf die Übersetzung erbaulicher Schriften Darbys zurückzuführen […] Weil normalerweise ein exklusiver Darbyst neben erbaulichen Schriften und der Bibel kein anderes Buch liest, lebt er in ganz besonderer Weise im Sprachschatz der Bibel, so daß ein geübtes Ohr auch heute noch einen deutschen exklusiven Darbysten unschwer an seiner Sprache erkennen kann.“ Erich Geldbach: Christliche Versammlung und Heilsgeschichte bei John Nelson Darby, 3. Aufl., Wuppertal 1975, S. 51 (online).

Weblinks