Sozialstruktur

Sozialstruktur ist ein Begriff in der Soziologie, mit dem die einteilende Ordnung menschlicher Gesellschaften nach ihren sozialen Merkmalen, vor allem ihrer sozialen Schichtung beschrieben werden soll. Dabei leistet die Sozialstrukturanalyse auf der Grundlage unterschiedlicher Theorien die wissenschaftliche Erforschung und Einteilung der Sozial­struktur, während die Bevölkerungswissenschaft (Demografie) Bestandszahlen und zahlenmäßige Veränderungen einer Gesellschaft erfasst. Von geschichteten oder gruppierten Gesellschaften unterscheiden sich „segmentäre Gesellschaften“ mit gleichartigen und gleichrangigen Bevölkerungsteilen. Zusätzlich zur soziologischen Einteilung hat die Sozialstruktur auch dynamische Merkmale, sowohl was ihre Entwicklung betrifft, als auch im Hinblick auf die sozialen Prozesse.

Die Bezeichnung Sozialstruktur wurde 1905 vom deutschen Soziologen und Philosophen Ferdinand Tönnies eingeführt; allgemein bezieht sie sich auf die Gruppierung des sozialen Beziehungsgefüges einer Gesamtgesellschaft nach Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten in mehreren Dimensionen. Strukturgebende Gruppierungen sind beispielsweise soziale Schicht, Soziale Klasse, Kaste, soziale Lage, soziales Milieu, Lebensstil oder geschichtlich die Ständeordnung. Je nach soziologischem Blickwinkel und Erkenntnisinteresse werden diese im Einzelnen in die für die jeweilige Dimension wichtigen Merkmale unterteilt, um die dauerhaften sozialen Wechselwirkungen dieser Gruppierungen untereinander zu erkennen und zu erklären.

In der Sozialstrukturanalyse wird die Sozialstruktur empirisch-sozialwissenschaftlich untersucht. Ziele sind die Beschreibung, die Erklärung von Zusammenhängen, der Vergleich und die Politikberatung.

Soziodemographische Merkmale zur Beschreibung der Sozialstruktur

Unter Bevölkerungsstruktur versteht man in der Demografie und der Statistik die Zusammensetzung einer Bevölkerung aus Teilgruppen. Soziodemographie ist ein in der empirischen Sozialforschung gebräuchlicher Begriff, der die Bevölkerungsmerkmale auf Personenebene (Mikroebene) beschreibt, nach denen die Mitglieder einer Stichprobe oder einer Zielgruppe beschrieben werden. Aus solchen soziodemographischen Angaben lassen sich Aggregatdaten bilden, die zur Beschreibung der Bevölkerungsstruktur genutzt werden können.

Bei besonders häufig abgefragten Angaben spricht man auch von der Standard-Soziodemographie. Zu den gebräuchlichsten soziodemographischen Daten (auch Soziale Indikatoren genannt) gehören folgende Merkmale:[1][2]

MerkmalGängige Ausprägungen, KlassifikationenGängige Aggregatdaten, soziale UngleichheitGängige Begriffe zu Veränderung im Zeitverlauf, sozialer Wandel
Biologisches Geschlecht oder soziales Geschlechtweiblich, männlich, nichtbinäre GeschlechtsidentitätenGeschlechterverteilung, Gender-Pay-GapFrauenemanzipation
AlterAlter in JahrenAltersstruktur, LebenserwartungAlterung der Bevölkerung
Familienstandverheiratet, geschieden, verwitwet
Nationalität, Migration und Herkunftslanddeutsch, sonstigeAusländeranteilIntegration
Regionale Zugehörigkeitost, west; Bundesland; Nielsen-Gebiet; OrtsgrößenSegregation
Religionszugehörigkeitkatholisch, evangelisch, sonstige, keineSäkularisierung
FamilienstrukturKinder im Haushalt: ja/ nein, Anzahl Personen im HaushaltHaushaltsgrößeIndividualisierung
BildungCasmin-Klassifikation, höchster berufsbildender AbschlussBildungsungleichheitBildungsexpansion
Schulbildungohne Schulabschluss, Hauptschulabschluss, Realschulabschluss, Fach-/Abitur
Erwerbsstatus, BerufstätigkeitVoll-/Teilzeit, Berufliche StellungEntgrenzung der Arbeit
Berufz. B. Klassifizierung der Berufe, ISCO 88Berufliches PrestigePrestige-Skala
EinkommenHauptverdienereinkommen, Haushaltsnettoeinkommen, Zahl der Einkommensbezieher im HaushaltEinkommensverteilungArmutsbericht
Sozialer Status, Sozioökonomischer StatusInternational Socio-Economic Index of Occupational StatusSoziale Schicht, Soziale KlasseSoziale Mobilität, Vertikale Durchlässigkeit
Gesundheitspezifische KrankheitenSozial bedingte Ungleichheit von GesundheitschancenGesundheitspolitik
WohnungMiete, EigentumswohnungVolkszählung, EinwohnerzahlWohnungsbaupolitik, Segregation

Ähnliche Standardmerkmale werden in der empirischen Sozialforschung zu Betrieben, Unternehmen und Organisationen (Mesoebene) und Regionen oder Ländern (Makroebene) erhoben.

Auch andere wissenschaftliche Untersuchungen erheben soziodemographische Daten. In der Marktforschung werden soziodemographische Daten z. B. erhoben, um Produkte besser auf die spezifischen Zielgruppen abzustimmen oder zu evaluieren, in welcher Bevölkerungsgruppe ein Produkt am meisten konsumiert wird, um so Rückschlüsse auf die Gestaltung der Marketingstrategie zu ziehen.

Dynamische Merkmale der Sozialstruktur und ihrer Entwicklung

Friedrich von Hayek unterscheidet bei der Entwicklung der Sozialstruktur die spontane Sozialordnung, „… eine polyzentrische Ordnung, ungerichtet und ungeplant, die durch die Wechselwirkung vieler Individuen und vorgegebener Randbedingungen entsteht,“[3] von der sozialen Organisationen, die das Ergebnis eines bewussten gesellschaftlichen Entwurfs ist. Beide Prozesse fasst er unter der Begriff Erweiterte Ordnung zusammen.[4] Die Gesellschaftsformen und ihre Regeln unterliegen nach Hayek einer kulturellen Evolution, bei der die emergente Selbstorganisation und die Wettbewerbsfähigkeit der Gesellschaftsform eine große Rolle spielen.

Diese Prozesse und die Entwicklung der Strukturen in der menschlichen Gesellschaft sind zum großen Teil selbstorganisiert und finden unter den Bedingungen von Komplexität statt. Der Grund dafür sind die sozialen Rückkopplungen innerhalb der Gesellschaft und die als Begrenzte Rationalität gekennzeichnete Fähigkeit der nichtlinearen Bausteine der Gesellschaft, der Menschen und ihrer Institutionen. Die Komplexität wird dabei durch die nichtlineare Dynamik der Prozesse in der Gesellschaft erzeugt.[5]

Strukturell kann man in der Gesellschaft nach Klaus Mainzer die Mikroebene und die Makroebene unterscheiden;[6] diese beeinflussen sich im Rahmen der sozialen Prozesse gegenseitig und sind dadurch rückgekoppelt. Die dadurch bedingte gesellschaftliche Struktur nennt Mainzer Soziokonfiguration und ihre Prozesse Soziodynamik.

Sozialstruktur einzelner Länder

Siehe auch

Literatur

  • Dieter Holtmann: Die Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich. Universitätsverlag, Potsdam 2007, ISBN 978-3-939469-62-9.
  • Nicole Burzan: Soziale Ungleichheit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005.
  • Jörg Gutberger: Volk, Raum und Sozialstruktur. Sozialstruktur- und Sozialraumforschung im „Dritten Reich“. LIT, Münster 1999, ISBN 3-8258-2852-2.
  • Stefan Hradil: Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich. 2. Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, ISBN 978-3-531-14939-4.
  • George P. Murdock: Social Structure. New York/ London 1966.
  • Bernhard Schäfers: Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland. 2005.
  • Georg Simmel: Exkurs über den Adel. In: Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin 1908.
  • Rainer Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands. Die gesellschaftliche Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung. 6. Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Springer Fachmedien, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-17611-6.
  • Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Enke, Stuttgart 1932.
  • Michael Vester, Peter von Oertzen, Heiko Geiling, Thomas Hermann, Dagmar Müller: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001.

Weblinks

Wiktionary: Sozialstruktur – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. ZUMA-Standarddemographie. ZUMA Nachrichten, 1(1): 1977, 4-7 (Aufsatz)
  2. Kai Kugler: Bevölkerungsstruktur: Bevölkerungsgliederung und -zusammensetzungnach verschiedenen Aspekten, Universität Trier, 2005 (PDF; 225 kB)
  3. Friedrich von Hayek: Die Theorie komplexer Phänomene. In: Die Anmaßung von Wissen. Mohr 1996 (Manuskript von 1961).
  4. Friedrich von Hayek: Die verhängnisvolle Anmaßung. Mohr Siebeck 2011.
  5. Gottfried Jetschke: Mathematik der Selbstorganisation. 2. Auflage. Verlag Harri Deutsch 2009.
  6. Klaus Mainzer: Komplexität. Fink UTB 2008.