Soldatensender Calais

Der Soldatensender Calais war ein britischer deutschsprachiger Propagandasender des Political Warfare Executive während des Zweiten Weltkrieges. Nachdem alliierte Truppen Calais erobert beziehungsweise eingenommen hatten, wurde der Name in „Soldatensender West“ geändert.

(c) Bundesarchiv, B 145 Bild-F005102-0003 / Steiner, Egon / CC-BY-SA 3.0

Name

Die Name Soldatensender Calais nahm Bezug auf den seit dem Westfeldzug betriebenen deutschen Europasender Calais („Calais I“) etwa 120 km nordöstlich von Paris[1] auf 515 m (582 kHz) sowie den seit Mitte 1943 „Calais II“ genannten Sender Lopik auf 301,5 m (995 kHz),[2] beide mit englischsprachigen Propagandasendungen gegen Großbritannien.

Konzept

Der Sender pflegte den Eindruck eines offiziellen deutschen Wehrmachtssenders, indem er zu einem Großteil Original-Nachrichten der Wehrmacht sendete und eigene Beiträge nur sehr gezielt, dafür umso wirkungsvoller, einstreute. Für deutsche Wehrmachtsangehörige interessante Meldungen wahrten den Schein der Echtheit und machten sie für eingestreute Propaganda aufnahmebereiter. Unter deutschen Kriegsgefangenen als Redakteure rekrutierte Anti-Nazis steuerten hier besonders mit ihren aktuellen Alltags-Kenntnissen und Umgangssprache das letzte Quäntchen Authentizität bei.[3]

Es wurde viel bei den Deutschen beliebte Musik gespielt und über Sportergebnisse und andere Ereignisse in Deutschland berichtet, gelegentlich aber auch „moralzersetzende Informationen“ eingestreut.[4] Wie schon zuvor beim 1943 eingestellten Sender Gustav Siegfried Eins wurde die Person Hitler oder andere hohe Nazis nie persönlich angegriffen, sondern möglichst nur der parteiliche Mittelbau und lokale Parteigrößen für „Missstände“ verantwortlich gemacht, wovon sich die Macher wiederum mehr Authentizität versprachen.[5]

Geschichte

Die Studios befanden sich in Milton Bryan. Die erste Sendung ging am 24. Oktober 1943 über den Äther, die letzte am 14. April 1945. Der Sendebeginn erfolgte als „laufende“ Sendung, ohne etwa mit „hier ist neu“ oder einer ähnlichen Ansage zu beginnen, um die Gegner zu verwirren. In gleicher Weise endeten die Sendungen ohne Verabschiedung.

Der Sendeleiter war der britische Journalist Denis Sefton Delmer. Delmer war in Berlin geboren und aufgewachsen und sprach fließend deutsch. Sein Stab setzte sich aus internationalen Journalisten, Psychologen, aus deutschen Emigranten und Kriegsgefangenen zusammen – darunter auch aus Deutschland emigrierte Rundfunksprecher, Redakteure und Techniker. Zu den Mitarbeitern gehörten Otto John und Karl Theodor zu Guttenberg.[6]

In seiner Autobiografie „Black Boomerang“ bezeichnete Delmer selbst das Format als „graue Propaganda“.[7] Während bei „weißer Propaganda“ die Quelle des Senders und politische Einstellung der meist aus dem Emigranten-Milieu kommenden Radiosprecher offen zugegeben wurde, und bei „schwarzer Propaganda“ (wie z. B. bei Gustav Siegfried 1) im Gegenteil eine perfekte Tarnung als Angehöriger der Nazi-Zielgruppe angestrebt wurde, blieb der Soldatensender Calais trotz aller oberflächlichen Aufmachung in einer Schwebe zwischen beiden Polen.

Die Zersetzung war weniger zweideutig verpackt als bei schwarzer Propaganda, aber glitt nie in offene anti-nationalsozialistische Aufrufe über wie bei weißer Propaganda. Obwohl ein durchschnittlicher Zuhörer bald ahnen musste oder von Behörden darauf hingewiesen wurde, dass es sich um einen Feindsender handelte, wuchs die Hörerschaft kontinuierlich weiter, weil die Empfangsqualität stärker und das Unterhaltungs- und Informationsangebot beliebter waren als bei der „weißen“ BBC oder bei deutschen Sendern. Hinzu kam, dass der Konsum grauer Sender aufgrund ihres lockeren Unterhaltungscharakters mit weniger Risiken verbunden war als das Einschalten von BBC, womit man sich direkt als Dissident identifizierte.[8] Delmer beschrieb die Mischung des Inhalts als „cover, cover, dirt, cover, dirt“.[9]

Die BBC hatte zunächst Bedenken, dass der Sender zu offensichtlich britisch wäre und die Glaubwürdigkeit der gesamten britischen Medien in Mitleidenschaft ziehen würde, doch die Argumente des PWE für die Beibehaltung des Senders überwogen, auch im Hinblick auf den Nutzen für die anstehende Operation Overlord.[10]

Technik

Das Programm wurde, gemeinsam mit dem des Deutschen Kurzwellensenders Atlantik, von der Sendeanlage Aspedistra in der Nähe vom Crowborough (South East England) abgestrahlt. Der Sender war mit 600 kW Ausgangsleistung damals der stärkste Mittelwellensender in Europa und war nur zu dem Zweck eingerichtet worden, um mit gezielt gestreuten Nachrichten Einfluss auf die Meinungsbildung der deutschen Zuhörer zu bekommen. Er sendete auf den Wellenlängen 360, 420 und 490 Meter (833, 714 und 612 kHz).

Trivia

Literatur

  • Sefton Delmer: Die Deutschen und ich, autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Gerda von Uslar. Nannen, Hamburg 1962. Im Englischen als Trail Sinister (Band 1) und Black Boomerang (Band 2), Secker and Warburg, London 1961/1962.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Horst J. P. Bergmeier, Rainer E. Lotz: Hitler's airwaves (1997), S. 85
  2. Gabriele Hoffmann: NS-Propaganda in den Niederlanden (1972), S. 237; Michael Crone: Hilversum unter dem Hakenkreuz (1983), S. 304
  3. Sefton Delmer: Black Boomerang, Secker & Warburg, London 1962, S. 86–89
  4. Sefton Delmer: Black Boomerang, Secker & Warburg, London 1962, S. 99
  5. Sefton Delmer: Black Boomerang, Secker & Warburg, London 1962, S. 56
  6. Johanna Lutteroth: "Deckung, Deckung, Schmutz." spiegel.de, 24. Oktober 2013, abgerufen am 24. Oktober 2013
  7. Sefton Delmer: Black Boomerang, Secker & Warburg, London 1962, S. 118
  8. Sefton Delmer: Black Boomerang, Secker & Warburg, London 1962, S. 113–115
  9. Sefton Delmer: Black Boomerang, Secker & Warburg, London 1962, S. 91
  10. PWE Memorandum vom 19. November 1943, The National Archives Dokument FO 898/45, transkribiert von PsyWar.org The controversy between the BBC and PWE over Soldatensender Calais, psywar.org/delmer/8430/1001 archiviert auf https://archive.today/20131112201230/www.psywar.org/delmer/8430/1001

Koordinaten: 51° 2′ 33,7″ N, 0° 6′ 15,1″ O

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Es folgt die historische Originalbeschreibung, die das Bundesarchiv aus dokumentarischen Gründen übernommen hat. Diese kann allerdings fehlerhaft, tendenziös, überholt oder politisch extrem sein. Info non-talk.svg
Lager Friedland

Ankunft der Wissenschaftler aus Sochumi

brit. Journalist Sefton DELMER im Gespräch mit den Wissenschaftlern und deren Angehörigen, 12. Februar - 16. Februar 1958