Shimura-Varietät

Shimura-Varietäten sind höherdimensionale Analoga von Modulkurven. Sie werden gebildet als Quotient eines symmetrischen hermiteschen Raumes bezüglich einer Kongruenzuntergruppe einer reduktiven algebraischen Gruppe (definiert über den rationalen Zahlen).

Hauptteil

Elliptische Modulfunktionen und -formen wurden im 19. Jahrhundert intensiv untersucht, auch in Verbindung mit zahlentheoretischen Fragen. Hilberts 12. Problem fragte nach speziellen Funktionen, die die gleiche Rolle bei der Beschreibung der Erweiterung algebraischer Zahlkörper spielen wie die Exponentialfunktion beim Satz von Kronecker-Weber. Erste Beispiele untersuchte David Hilbert selbst mit Hilbertschen Modulflächen. Diese sind – neben den erwähnten Modulkurven (z. B. Kleinsche Quartik) – auch Beispiele für Shimura-Varietäten, ebenso wie Siegelsche Modulformen. Die eigentliche Theorie der Shimura-Varietäten begann mit Gorō Shimura (und Yutaka Taniyama), und dessen Theorie abelscher Varietäten mit komplexer Multiplikation. Shimura zeigte, dass Shimura-Varietäten (die Benennung erfolgte 1968 durch Yasutaka Ihara) kanonische Modelle über bestimmten Zahlkörpern hatten. Die Theorie wurde von Pierre Deligne verallgemeinert und axiomatisiert und Shimura-Varietäten spielen eine bedeutende Rolle im Langlands-Programm. Langlands testete damit 1979[1] seine Vermutung, dass alle motivischen L-Funktionen automorphe L-Funktionen sind und sie dienen dort auch als Quelle für Galoisdarstellungen.

Shimura-Varietäten parametrisieren gemischte Hodge-Strukturen speziellen Typs. Ein Spezialfall sind wieder Modulkurven, die elliptische Kurven parametrisieren.

Formale Definition

Notation:

  • bezeichnet die multiplikative Gruppe (eine algebraische Gruppe), d. h. .[2]
  • bezeichnet den Deligne-Torus, das heißt den algebraischen Torus über , den man von über erhält durch die Weil-Restriktion (auch Restriktion der Skalare genannt).[3]
  • bezeichnet die adjungierte Gruppe von , das heißt die Quotienten-Gruppe von und seinem Zentrum.
  • ist der Ring der endlichen Adele von , das heißt das eingeschränkte topologische Produkt
wobei über die endlichen primen Elemente von läuft.[4]
  • bezeichnet die Teilgruppe von .
  • bezeichnet die Zusammenhangskomponente von .

Shimura-Datum

Ein Shimura-Datum ist ein Paar bestehend aus einer reduktiven Gruppe über und einer -Konjugationsklasse von Homomorphismen , welche folgende Punkte erfüllen:

1) Für alle ist die durch definiert Hodge-Struktur auf der Lie-Algebra vom Typ
2) Für alle ist eine Cartan-Involution von .
3) hat keinen -Faktor auf dem die Projektion von trivial ist.[5]

Beispiel

  • und definiert durch
und sei die Menge der -Konjugierten von
Dann ist ein Shimura-Datum.[6]

Shimura-Varietät

Sei ein Shimura-Datum.

Doppelnebenklassen-Raum

Für eine kompakte, offene Teilgruppe , definiere den Doppelnebenklassen-Raum (englisch double coset space)

mit der Operation

Diese Operation bedeutet operiert auf beiden Komponenten und jeweils von links. operiert nur auf der zweiten Komponente und zwar von rechts.

Vereinigung von algebraischen Varietäten

ist eine endliche disjunkte Vereinigung von arithmetischen lokal-symmetrischen Varietäten

(siehe z. B.[7] für die Definition solcher algebraischer Varietäten ).

Inverses System

Wenn wir (genügend klein) variieren, erhalten wir ein inverses System (auch projektives System genannt) von algebraischen Varietäten

operiert auf diesem System durch

und

Dieses inverse System ausgestattet mit der Operation von heißt Shimura-Varietät und wird mit notiert.[8]

André-Oort-Vermutung

Die von Yves André (1989) und Frans Oort (1995, in verallgemeinerter Form) aufgestellte Vermutung betrifft die Verteilung sogenannter spezieller Punkte (auch CM-Punkte genannt, da sie Varietäten mit komplexer Multiplikation parametrisieren) auf Untervarietäten von Shimura-Varietäten. Diese Untervarietäten müssen nicht selbst Shimua-Varietäten sein. Die Vermutung von André und Oort besagt, dass sie Shimura-Varietäten (bzw. Vereinigungen von Shimura-Varietäten) sind, falls sie besonders viele spezielle Punkte enthalten (technisch: sie beinhalten eine Zariski-dichte Menge von speziellen Punkten). Umgekehrt enthalten Untervarietäten, die keine Shimura-Varietäten sind, nur eine beschränkte Anzahl spezieller Punkte. Nach verschiedenen Spezialfällen konnte 2014 die Vermutung selbst unter Voraussetzung der verallgemeinerten Riemannvermutung (Bruno Klingler, Andrei Yafaev, Emmanuel Ullmo) – einer recht starken Einschränkung – gezeigt werden. Im Jahr 2021 bewiesen Jonathan Pila, Ananth N. Shankar, Jacob Tsimerman, Hélène Esnault und Michael Groechenig die André-Oort-Vermutung in voller Allgemeinheit.[9][10] Pila gelang ein Fortschritt bei der Aufzählung spezieller Punkte auf Shimura-Varietäten über die Einführung von neuartigen Höhen als Maße für die Punkte. Die Vervollständigung des Beweises gelang Pila, Shankar und Tsimerman nach Vorarbeiten von Gal Biniyamini, Harry Schmidt und Andrei Yafaev (2019/20) und einem Beitrag von Hélène Esnault und Michael Groechenig (2021, Appendix zur Arbeit von Pila, Shankar, Tsimerman).

Literatur

  • James Milne: Introduction to Shimura Varieties. In: Clay Math. Proc. Band 4, 2005, American Mathematical Society, S. 265–378, jmilne.org (PDF überarbeitete Fassung).
  • J. S. Milne: What is a Shimura variety ? Notices AMS, 2012, Nr. 12 ams.org (PDF; 0,1 MB).
  • Goro Shimura: Introduction to Arithmetic Theory of Automorphic Functions. Princeton UP 1971.
  • Goro Shimura: Automorphic functions and number theory. Springer 1968.
  • Pierre Deligne: Travaux de Shimura. Séminaire Bourbaki, Nr. 389, 1970/71 (Lecture Notes in Mathematics Nr. 244, 1971).
  • Pierre Deligne: Variétés de Shimura: interprétation modulaire, et techniques de construction de modèles canoniques. In: Automorphic forms, representations and L-functions, Proc. Sympos. Pure Math. 33, Band 2, American Mathematical Society 1979.
  • Pierre Deligne, James S. Milne, Arthur Ogus, Kuang-yen Shi: Hodge cycles, motives, and Shimura varieties. In: Lecture Notes in Mathematics. 900, Springer 1982.

Einzelnachweise

  1. Langlands: Automorphic Representations, Shimura Varieties, and Motives. Ein Märchen. In: Armand Borel, William Casselman (Hrsg.): Automorphic Forms, Representations, and L-Functions: Symposium in Pure Mathematics. Band 33, Teil 1, Chelsea Publ. 1979, S. 205–246.
  2. Victor Roger: Introduction to Shimura Varieties. Hrsg.: Centre de Recerca Matemàtica. 2005, S. 20 (upc.edu [PDF]).
  3. James Milne: Introduction to Shimura Varieties. In: American Mathematical Society (Hrsg.): Clay Math. Proc. Band 4, 2005, S. 26 (jmilne.org [PDF]).
  4. James Milne: Introduction to Shimura Varieties. In: American Mathematical Society (Hrsg.): Clay Math. Proc. Band 4, 2005, S. 42 (jmilne.org [PDF]).
  5. James Milne: Introduction to Shimura Varieties. In: American Mathematical Society (Hrsg.): Clay Math. Proc. Band 4, 2005, S. 54–55 (jmilne.org [PDF]).
  6. James Milne: Introduction to Shimura Varieties. In: American Mathematical Society (Hrsg.): Clay Math. Proc. Band 4, 2005, S. 55 (jmilne.org [PDF]).
  7. James Milne: Introduction to Shimura Varieties. In: American Mathematical Society (Hrsg.): Clay Math. Proc. Band 4, 2005, S. 38–39 (jmilne.org [PDF]).
  8. James Milne: Introduction to Shimura Varieties. In: American Mathematical Society (Hrsg.): Clay Math. Proc. Band 4, 2005, S. 57–58 (jmilne.org [PDF]).
  9. Jonathan Pila, Ananth N. Shankar, Jacob Tsimerman, Hélène Esnault, Michael Groechenig: Canonical Heights on Shimura Varieties and the André-Oort Conjecture. 2021, arxiv:2109.08788.
  10. Leila Sloman: Mathematicians prove 30 year old André-Oort conjecture. In: Quanta Magazine. 3. Februar 2022.