Shanghaier Ghetto

Seward Road im Shanghaier Ghetto um 1943

Als Shanghaier Ghetto oder Schanghaier Ghetto wurde eine Designated Area (engl.: „ausgewiesener Bezirk“) bezeichnet, ein Areal von ungefähr 2,5 km² im Stadtbezirk Hongkou der chinesischen Stadt Shanghai, in dem etwa 20.000 jüdische Flüchtlinge, hauptsächlich aus dem Deutschen Reich beziehungsweise von Nazi-Deutschland besetzten Gebieten, den Holocaust in der von Japan besetzten Stadt überlebten.

Flucht der Juden nach Shanghai

Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933 sahen sich die Juden in Deutschland immer weiter verschärfenden Repressalien ausgesetzt (vgl. Nürnberger Rassengesetze). Mit den Novemberpogromen von 1938 war ein gesichertes und würdiges Leben im Deutschen Reich für Juden unmöglich. Daher beantragten viele Asyl im benachbarten oder ferneren Ausland. Vielfach wurden Juden interniert, um ihnen dann ein Ultimatum zur Ausreise zu stellen. Viele Staaten konnten oder wollten jedoch keine Juden aufnehmen, sodass es sehr schwer war, das deutsche Reichsgebiet zu verlassen. Chaim Weizmann schrieb 1936: „Die Welt scheint zweigeteilt – in die Orte, wo Juden nicht leben können, und jene, in die sie nicht einreisen dürfen“.[1]

Nach dem ergebnislosen Verlauf der Konferenz von Évian im Juli 1938, in der sich Vertreter von 32 Nationen auf Initiative des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt trafen, um die Möglichkeiten der Auswanderung von Juden aus Deutschland und Österreich zu erörtern, flohen ab 1938 etwa 20.000 Juden aus dem Deutschen Reich, aus Polen und anderen von Nazi-Deutschland besetzten europäischen Ländern über verschiedene Routen nach Shanghai, da die Stadt neben den Komoren der einzige Zufluchtsort war, der jüdische Flüchtlinge aufnahm. Shanghai war zu dieser Zeit eine geteilte Stadt unter chinesischer, japanischer, britischer, französischer und US-amerikanischer Besatzung. In Shanghai gab es bereits zwei jüdische Gemeinden: die Baghdadi-Juden sowie eine Gemeinde russischer Juden, die nach der Oktoberrevolution vor den russischen Pogromen aus Russland geflohen waren.

Der niederländische Konsul Jan Zwartendijk, der Konsul des Japanischen Kaiserreiches in Litauen Chiune Sugihara, der chinesische Generalkonsul in Wien, Ho Feng Shan und der Sekretär der Gesandtschaft der Mandschurei in Berlin, Wang Tifu erteilten Visa für insgesamt fast 20.000 jüdische Flüchtlinge, die dadurch nach Shanghai flüchten konnten.[2][3][4]

Leben in Shanghai

Die große Zahl der Einwanderer traf die japanischen Behörden unvorbereitet. Daher trafen die Ankommenden auf desaströse Lebensbedingungen: 10 Menschen lebten in einem Raum, ständiges Hungerleiden, katastrophale hygienische Verhältnisse sowie kaum Gelegenheit, den eigenen Lebensunterhalt mit Arbeit zu bestreiten. Teilweise traf dies auch auf die einheimischen Chinesen zu.

Die schon länger in Shanghai beheimatete Gruppe von Juden, die sogenannten „Baghdadi“, und später das American Jewish Joint Distribution Committee (JDC) versuchten, diese Verhältnisse zu verbessern. Trotz Sprachbarrieren, schlimmer Armut und grassierenden Epidemien waren die Geflüchteten in der Lage, ein eigenes funktionierendes Gemeinwesen aufzubauen: Schulen wurden eingerichtet, Zeitungen verlegt und sogar Theaterspiele, Kabaretts und Sportwettkämpfe veranstaltet.

Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 wurden viele der wohlhabenden Baghdadi, da sie oft britische Staatsbürger waren, interniert und amerikanische Spendenfonds beschlagnahmt. Eine Unterstützung durch die amerikanischen Juden wurde somit unmöglich. Damit verschlechterten sich die Verhältnisse weiter. Außerdem wurde mit dem Angriff eine Flucht nach Shanghai unmöglich.

Ghettoisierung

Mit Fortschreiten des Zweiten Weltkriegs erhöhten die Nationalsozialisten den Druck auf Japan, ihnen die Juden in Shanghai zu übergeben oder selbst für deren Ermordung zu sorgen. Dem kamen die Japaner jedoch nicht nach.

Im Rahmen der späteren juristischen Aufarbeitung in Deutschland berichtete Fritz Wiedemann, Josef Meisinger habe ihm erzählt, dass er von Himmler den Auftrag habe, die Japaner zur Einführung von Maßnahmen gegen die Juden zu bewegen. Dies habe er, nach Einschätzung Wiedemanns, jedoch selbstverständlich „bei dem selbstbewussten Volk der Japaner“ nicht in Form eines Befehls tun können.[5] Da die Japaner bis auf wenige Ausnahmen nicht antisemitisch eingestellt waren, nutzte Meisinger zum Erreichen seines Ziels ihre Spionagefurcht aus. Im Herbst 1942 führte er Gespräche mit dem Chef der Auslandssektion des japanischen Heimatministeriums. Diesem erklärte Meisinger, er habe von Berlin den Auftrag, den japanischen Behörden die Namen aller „Anti-Nazis“ unter den Deutschen zu melden. „Anti-Nazis“ seien in erster Linie deutsche Juden, von denen 20.000 nach Shanghai emigriert seien. Diese „Anti-Nazis“ seien auch immer „Anti-Japaner“.[6] Wie ein Untergebener Meisingers später berichtete, hätten die Japaner nach einigem Überlegen dieser These Glauben geschenkt. Dies habe zu einer regelrechten Jagd auf „Anti-Nazis“ geführt.[7] Als Reaktion verlangten die Japaner von Meisinger die Erstellung einer Liste aller „Anti-Nazis“.[8] Diese hatte Meisinger, wie seine Sekretärin später bestätigte, bereits seit 1941 vorliegen.[9] Nach Rücksprache mit General Müller wurde sie von Meisinger Ende 1942 sowohl an das Heimatministerium als auch an die Kempeitai übergeben.[10] Die Liste enthielt u. a. die Namen aller Juden mit deutschem Pass in Japan.[11] Für die Japaner wurde somit klar, dass insbesondere die ab 1937 in großer Zahl vor den Nationalsozialisten nach Shanghai Geflüchteten das höchste „Gefahrenpotential“ darstellten.

Die Proklamation eines Ghettos war somit nur eine logische Folge von Meisingers Interventionen. So gelang es ihm, trotz des kaum vorhandenen Antisemitismus der Japaner, die Internierung eines Großteils der Juden im japanischen Machtbereich zu erreichen. Für diesen „Erfolg“ wurde er offenbar trotz der Sorge-Affäre am 6. Februar 1943 zum Oberst der Polizei befördert.[12] Die Spionagefurcht der Japaner, „die an Hysterie grenzte“, sei, so vermutete später auch der ehemalige deutsche Botschafter in Tokio Eugen Ott, die Ursache für die Internierung gewesen. Eine deutsche Beteiligung stritt er jedoch vor Gericht ab. Die Emigranten seien zwar „natürlicherweise Gegner des Dritten Reiches und vermutlich Japans“ gewesen. Jedoch hielt er es bei seiner Zeugenaussage für „beinahe ausgeschlossen“, dass Meisinger oder sonst eine deutsche Stelle in Japan mit den Japanern auf „Anti-jüdischem Gebiet“ gesprochen habe.[13]

Am 15. November 1942 wurde beschlossen, die Juden zu ghettoisieren. Ab 1941 übernahm während des Zweiten Weltkrieges Japan vollständig die Kontrolle über Shanghai und deportierte die Juden in eine etwa 2,5 Quadratkilometer große Designated Area im Stadtteil Hongkou. Am 18. Februar 1943 erklärten die Japaner, dass bis zum 15. Mai alle Juden, die nach 1937 eingetroffen waren, fortan ihre Wohnungen und Geschäfte in den „ausgewiesenen Bezirk“ zu verlegen hatten. Das Ghetto war zwar nicht hermetisch abgeriegelt, aber zum Verlassen des Ghettos war ein Passierschein notwendig. Obwohl die Japaner vereinzelt das Arbeiten außerhalb des Ghettos erlaubten, verschlechterten sich die Lebensbedingungen weiter.

Zwar gab es keine Mauern und keinen Stacheldraht, aber es gab Identitätskarten mit gelben Streifen, Kennzeichen und eine spezielle Wache mit ihren Willkürmaßnahmen. Hier lebte auch eine chinesische Mehrheit, aber nur die staatenlosen Flüchtlinge waren verpflichtend an die Ausgangssperren und Zwangsübersiedlungen in Substandardwohnungen gebunden.

Der Begriff „Ghetto“ wird in der Forschung meist als Synonym zu „designated area“ gebraucht. lm Kontext des Zweiten Weltkrieges hat der Begriff „Ghetto“ auch die Vorstufe zur Judenvernichtung bedeutet, was für Shanghai jedoch nicht zutraf. Die Zone wurde dennoch von allen Bewohnern als Shanghaier Ghetto bezeichnet.[14]

Die Japaner errichteten im Ghetto einen kriegswichtigen Radiosender und Munitionsdepots. Bei einem amerikanischen Luftangriff auf die Radiostation am 17. Juli 1945 kamen rund 4.000 Menschen ums Leben.[15] Rund 40 der über 20.000 jüdischen Flüchtlinge verloren ihr Leben, über 500 wurden verwundet und viele weitere obdachlos. Den größten Teil der Opfer verursachten die Angriffe in der chinesischen Bevölkerung im Stadtteil Hongkou.[16]

Befreiung

Das Ghetto wurde offiziell am 3. September 1945 befreit – nach einiger Verzögerung, da man der Armee Chiang Kai-sheks bei der Einnahme den Vortritt lassen wollte. Mit der Gründung des Staates Israel 1948 und dem Ende Chiang Kai-sheks 1949 verließen beinahe alle Juden Shanghai. 1957 verblieben nur noch einige hundert Juden.

Gedenken

Im Herbst 1997 trafen sich ehemalige Shanghailänder zu einem Symposium des gemeinsamen Erinnerns in der Berliner Wannsee-Villa, an jenem Ort, wo am 20. Januar 1942 auf der sogenannten Wannsee-Konferenz die Ausrottung auch ihrer Familien beschlossen wurde. Unter den Teilnehmern waren Fred Freud, Günter Nobel, Egon Kornblum und Sonja Mühlberger.[17]

Im Mai 2013 besuchte Israels Premierminister Benjamin Netanyahu Shanghai und nannte Shanghai einen „Hafen“ für Juden, die in den 1930er und 1940ern aus Europa flohen.[18]

Personen

Einige der Personen, die im Shanghaier Ghetto interniert waren:

Galerie


Siehe auch

Literatur

  • Franziska Tausig: Shanghai Passage. Flucht und Exil einer Wienerin. Verlag für Gesellschaftskritik: Wien 1987. XII, 154 S., ISBN 3-900351-65-1 (Biografische Texte zur Kultur- und Zeitgeschichte, 5).
  • Georg Armbrüster, Michael Kohlstruck, Sonja Mühlberger (Hrsg.): Exil Shanghai 1938–1947. Jüdisches Leben in der Emigration. Hentrich & Hentrich, Teetz 2000, ISBN 978-3-933471-19-2.
  • Clemens Jochem: Der Fall Foerster: Die deutsch-japanische Maschinenfabrik in Tokio und das Jüdische Hilfskomitee Hentrich und Hentrich, Berlin 2017, ISBN 978-3-95565-225-8.
  • James R. Ross: Juden in Shanghai. Eine jüdische Gemeinde in China. Kitab-Verlag: Klagenfurt 2009. Aus dem Englischen von Hanna Halper. 190 S. ISBN 978-3-902585-34-9.
  • Astrid Freyeisen: Shanghai und die Politik des Dritten Reiches. Königshausen & Neumann, Würzburg 2000, ISBN 3-8260-1690-4.
  • Heinz Eberhard Maul: Japan und die Juden – Studie über die Judenpolitik des Kaiserreiches Japan während der Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945. Dissertation Bonn 2000. Digitalisat. Abgerufen am 18. Mai 2017.
  • Siegfried Englert, Folker Reichert: Shanghai. Stadt über dem Meer. ISBN 3-920431-35-9.
  • Wei Zhuang: Die Erinnerungskulturen des jüdischen Exils in Shanghai (1933–1950): Plurimedialität und Transkulturalität. Lit Verlag Dr. W. Hopf, Münster 2015, ISBN 978-3-643-12910-9 Eingeschränkte Vorschau bei Google Books.
  • Sophie Fetthauer: Musiker und Musikerinnen im Shanghaier Exil 1938–1949 Bockel Verlag 2021, 816 S., ISBN 978-3-95675-033-5.

Weblinks

Quellen

  1. Manchester Guardian, 23. Mai 1936, in: A.J. Sherman: Island Refuge, Britain and the Refugees from the Third Reich, 1933–1939. Elek Books: London 1973. S. 112. Ebenso in The Evian Conference – Hitler's Green Light for Genocide (Memento desOriginals vom 27. August 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/christianactionforisrael.org von Annette Shaw.
  2. Jan Zwartendijk
  3. Wen Wei Po, 歷史與空間:中國的「舒特拉」, 23. November 2005
  4. Abe, Yoshio, 戦前の日本における対ユダヤ人政策の転回点 (Memento desOriginals vom 16. Januar 2014 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/catalog.lib.kyushu-u.ac.jp, Universität Kyūshū, Studies in Languages and Cultures, Nr. 16, 2002.
  5. Clemens Jochem: Der Fall Foerster: Die deutsch-japanische Maschinenfabrik in Tokio und das Jüdische Hilfskomitee Hentrich und Hentrich, Berlin 2017, S. 88, ISBN 978-3-95565-225-8.
  6. Jochem: Der Fall Foerster, Berlin 2017, S. 85 f.
  7. Jochem: Der Fall Foerster, Berlin 2017, S. 86.
  8. Jochem: Der Fall Foerster, Berlin 2017, S. 86 f.
  9. Jochem: Der Fall Foerster, Berlin 2017, S. 232–233, Anmerkung Nr. 164.
  10. Jochem: Der Fall Foerster, Berlin 2017, S. 86 f. und S. 232–233, Anmerkung Nr. 164.
  11. Jochem: Der Fall Foerster, Berlin 2017, S. 87.
  12. Jochem: Der Fall Foerster, Berlin 2017, S. 88.
  13. Jochem: Der Fall Foerster, Berlin 2017, S. 89.
  14. Elisabeth Buxbaum, Armin Berg Gesellschaft: Transit Shanghai: ein Leben im Exil. Edition Steinbauer, 2008, ISBN 978-3-902494-33-7 (google.com)., S. 31.
  15. Astrid Freyeisen: Shanghai und die Politik des Dritten Reiches, S. 412, Königshausen & Neumann, Würzburg 2000, ISBN 3-8260-1690-4
  16. Wiebke Lohfeld, Steve Hochstadt, Die Emigration jüdischer Deutscher und Österreicher nach Shanghai als Verfolgte im Nationalsozialismus. Digitalisat, S. 10. Abgerufen am 4. Oktober 2017.
  17. Wiedersehen der „Shanghailänder“ In: Berliner Zeitung, 23. August 1997
  18. Shanghai's Forgooten Jewish Past in The Atlantic am 21. November 2013

Koordinaten: 31° 15′ 54″ N, 121° 30′ 18″ O

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