Schuhfetischismus

Klassifikation nach ICD-10
F65.0Fetischismus
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Als Schuhfetischismus (veraltet Retifismus) wird in der Regel eine sexuelle Devianz verstanden, bei der Schuhe, im Rahmen eines sexuell fetischistischen Verhaltens, als Stimulus der sexuellen Erregung und Befriedigung dienen.[1] Im Rahmen der sexualmedizinischen Diagnostik oder der Psychoanalyse wird diese Form des Fetischismus, analog zu der des sexuellen Fetischismus, dann als behandlungsbedürftig verstanden, wenn der Fetisch als vollständiger Ersatz für die partnerschaftliche Sexualität dient, die sexuelle Befriedigung ohne Verwendung von Schuhen erschwert ist oder unmöglich erscheint und bei dem Betroffenen dadurch ein entsprechender Leidensdruck entsteht. Schuhfetischismus ist als sexueller Fetisch Teil des Formenkreises der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen als Störung der Sexualpräferenz in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) unter der Schlüsselnummer F65.0 gelistet.[2] Zu den Ursachen dieses Verhaltens gibt es verschiedene Theorien, wobei keine vollumfänglich anerkannt ist.[3] In manchen Fällen kann eine Komorbidität mit anderen Paraphilien auftreten, beispielsweise dem fetischistischen Transvestitismus. Durch Überschneidungen sowohl in der sexuellen Devianz selbst, als auch durch die gemeinsame diagnostische Einordnung des erotischen Sadomasochismus und Fetischismus wird die Szene häufig der sadomasochistischen Subkultur zugeordnet.

Begriffsentstehung und Abgrenzungen

Nicolas-Edme Rétif de la Bretonne, 1785

Etymologie

Die früher in der Sexualforschung benutzte, heute jedoch ungebräuchliche Bezeichnung Retifismus, geht zurück auf Nicolas-Edme Rétif de la Bretonne. Dieser beschrieb seine fetischistische Vorliebe für Frauenschuhe 1769 in seinem Werk Le Pied de Fanchette.[4] Damit ist der Schuhfetischismus die einzige Form des sexuellen Fetischismus, die mit einem Eigennamen bezeichnet wurde.[5] Alle anderen Fachbezeichnungen innerhalb des Formenkreises der Paraphilien werden durch den Anhang von -philie (von altgriechisch φιλοσ – lieb/liebend) gebildet, beispielsweise Agalmatophilie (Liebe zu Statuen) oder Podophilie (Fußfetischismus).

Umgangssprachliche Begriffsverwendung

Mit der Verwendung des Begriffs Schuhfetischismus kann umgangssprachlich auch eine unbedenkliche Vorliebe für Schuhe gemeint sein. Das trifft vor allem dann zu, wenn die Bezeichnung im sozialtypischen Sinne Verwendung findet, wenn es dem Betroffenen um die Anhäufung einer unbestimmt großen Anzahl von Schuhen geht, um diese entweder zu tragen oder – beispielsweise als modisch begehrtes Objekt – lediglich in dessen Besitz zu führen. Klischeehaft wird das insbesondere Frauen auch als Schuhtick zugeschrieben. Eine bloße Sammelleidenschaft oder außerordentliches modisches Interesse an Schuhen sind ohne eine sexuelle Komponente jedoch kein Schuhfetischismus im klinischen Sinne, sondern ein Warenfetisch.

Medizinische Einordnung und Diagnostik

Eine singuläre klinische Betrachtung des Schuhfetischismus findet in der Regel nicht statt und erscheint innerhalb der psychiatrischen und forensischen Diagnostik kaum sinnvoll.[6] Die medizinisch-psychologische Einordnung folgt daher den zugrunde liegenden Diagnosekriterien des sexuellen Fetischismus, dem der Schuhfetischismus zugerechnet wird und die im ICD-10-GM (GM: German Modification) und dem häufig zitierten Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, das diagnostische und statistische Handbuch psychischer Störungen (DSM-IV) das in den Vereinigten Staaten von der American Psychiatric Association (Amerikanische Psychiatrische Vereinigung) festgeschrieben werden.[7]

ICD-10-GM

Nach ICD-10-GM F65.0 wird der „Gebrauch toter Objekte als Stimuli für die sexuelle Erregung und Befriedigung“[8] als sexueller Fetischismus definiert. Die weiteren Diagnosekriterien für den Behandlungsbedarf umfassen unübliche sexuelle Fantasien oder dranghafte Verhaltensweisen, die über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten anhalten, sowie das subjektive Leiden des Betroffenen unter diesen Fantasien und Verhaltensweisen und die Einschränkung in mehreren Funktionsbereichen, beispielsweise in der sozialen Kontaktaufnahme oder der Erwerbstätigkeit. Nimmt eine andere Person dabei Schaden, wird verletzt oder misshandelt, ist bereits dies für die Diagnosestellung ausreichend.

DSM IV

Die American Psychiatric Association hat mit dem Erscheinen des DSM IV im Jahr 1994 weiterreichende Diagnosekriterien für den sexuellen Fetischismus unter der Nummer 302.81 veröffentlicht. Die Diagnose darf demnach hinsichtlich der sexuell motivierten Ausprägung dieser Störung nur noch gestellt werden, wenn der Betroffene anders als durch den Einsatz von Schuhen keine sexuelle Befriedigung erlangen kann, er seine eigene Sexualpräferenz selbst ablehnt und sich in seinen Lebensumständen eingeschränkt fühlt oder anderweitig darunter leidet. Die diagnostischen Kriterien unterscheiden sich darüber hinaus nicht, sind aber nicht hierarchisch zu verstehen.[9]

Ursachen und Entstehung

Die Ursachen sowie der Entstehungsmechanismus sind bis heute ungeklärt und werden in der Regel gemeinsam mit den allgemeinen Ursachen des sexuellen Fetischismus betrachtet. Mögliche Erklärungen sind neben anderen eine frühkindliche Konditionierung oder Prägung auf Schuhe, in anderen Fällen ist die psychoanalytische Zuschreibung zu einem auslösenden Ereignis möglich oder er tritt als Begleiterscheinung im Rahmen einer komplexeren psychischen Störung auf.

Sigmund Freud beurteilte den Schuh- und Fußfetischismus im Rahmen seiner Betrachtungen zu sexuellen Abweichungen als „Ersatz des Sexualobjekts“, der Fuß oder der Schuh steht an Stelle des „schwer vermissten Penis des Weibes“.[3] Der Individualpsychologe Alfred Adler beschrieb den Schuhfetischismus als autoerotische Überschätzung des großen Zehs.[10] Möglicherweise spielt der Geruchssinn eine besondere Rolle im Rahmen des schuhfetischistischen Verhaltens, das heißt, der konkrete und individuelle Geruch des Schuhs muss sich mit der geruchlichen Vorstellung des Einzelnen decken, um das entsprechende sexuelle Verhältnis zwischen dem Fetischisten und dem Objekt auszulösen.[11]

Verbreitung

Es gibt praktisch keine Erkenntnisse über den Verbreitungsgrad von Fetischismus, dies gilt analog auch für die Verbreitung des Schuhfetischismus. Es ist unbekannt welcher Anteil der Bevölkerung fetischistisch veranlagt ist und aus welchen Bevölkerungsgruppen sich die Menge der Fetischisten zusammensetzt. Forscher führen an, Zahlen seien deshalb schwierig zu ermitteln, da sich leichtere fetischistische Ausprägungen, zu denen der Schuhfetischismus in der Regel gehört, problemlos in eine partnerschaftliche Sexualität integrieren lassen[12] und Fetischisten nur selten therapiert würden.[13]

Trotz fehlender genauer Zahlen und der Tatsache, dass die meisten Theorien zum Fetischismus auf männlichem heteronormativen Sexualverhalten beruhen,[14] ist durch mehrere bestätigte Diagnosen, zumindest für den sexuellen Fetischismus im Allgemeinen gesichert, dass dieser nicht nur bei Männern, sondern auch bei Frauen auftritt. Seltene Ausnahmen, wie der Fall eines sechs Jahre alten Mädchens mit einem ausgeprägten Schuh- und Fußfetischismus sind beschrieben worden.[15] Verschiedene Indizien deuten allerdings an, dass sexueller Fetischismus häufiger bei Männern auftritt als bei Frauen; dazu gehören beispielsweise die Geschlechterverteilung in einschlägigen Chatrooms.

Ausprägungen

High Heel

Das fetischistische Verhalten der Betroffenen ähnelt sich zwar, richtet sich jedoch im Einzelnen auf sehr unterschiedliche Schuhtypen. Der Schuhfetischist kann durch Betrachten, Berühren oder Beriechen, das sogenannte sniffing (englisch für „Schnüffeln“) der Schuhe oder der Verwendung von Schuhen, beispielsweise beim Zertreten von Gegenständen (engl. Crushing) erregt werden.[16] Verbreitet ist die Vorliebe für Schuhe mit hohen Absätzen, die sogenannten High-Heels, die auch allgemein oft als Teil der weiblichen Kleidung erotisch empfunden werden. Daneben können aber auch Sportschuhe oder Stiefel als fetischistisches Objekt betrachtet werden. Eine der ersten Beschreibungen von Stiefeln als fetischistischem Objekt findet sich 1868 in Zolas Roman Thérèse Raquin.[17] Die Frauen, die in der sich verbreitenden erotischen oder pornographischen Darstellung schuhfetischistischer Ausprägung zu Beginn und Mitte des 20. Jahrhunderts porträtiert werden, sind häufig als dominant im Sinne eines sadomasochistischen Kontextes dargestellt. Dabei werden die Schuhe der Frau in der literarischen oder bildlichen Darstellung häufig geküsst oder verehrt (engl. Worshipping) oder die Sexualpraktik des Cock and Ball Torture wird von der Frau unter Zuhilfenahme der Schuhe ausgeführt, die dann als Ballcrushing beziehungsweise Ballbusting bezeichnet werden. High Heels können auch zur sexuellen Stimulation eingesetzt werden; dabei werden Schuhspitzen oder Absätze in die Scheide oder Anus eingeführt, seltener wird hierbei auch von Hackenfick gesprochen.[18][19] Eine Überschneidung verschiedener Paraphilien liegt daher nahe.[20]

Literatur

  • Valerie Steele: Fetish: Fashion, Sex and Power. Oxford University Press, 1996, ISBN 0-19-511579-1.
  • Tilmann Habermas: Geliebte Objekte: Symbole und Instrumente der Identitätsbildung. Walter de Gruyter, 1996, ISBN 3-11-015172-3.
  • Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis. Neuauflage. Matthes & Seitz, Berlin 1997, ISBN 3-88221-351-5.

Einzelnachweise

  1. Wolfgang Frank: Psychiatrie. Elsevier GmbH, 2007, ISBN 978-3-437-42601-8, S. 185.
  2. Originaltext des ICD-10-GM 2007 F65.0 (Memento des Originals vom 31. August 2017 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.dimdi.de
  3. a b Tilmann Habermas: Geliebte Objekte: Symbole und Instrumente der Identitätsbildung. Walter de Gruyter, 1996, ISBN 3-11-015172-3, S. 306 ff.
  4. Nicolas-Edme Rétif: Le pied de Fanchette ou l’orpheline française. Eslinger/Humblot, 1769.
  5. D. Lingenhöhl: Worunter leidet jemand mit Retifismus? Juni 2006. Abgerufen am 12. Februar 2006.
  6. Norbert Nedopil: Forensische Psychiatrie: Klinik, Begutachtung und Behandlung zwischen Psychiatrie und Recht. Georg Thieme Verlag, 2007, ISBN 978-3-13-103453-3, S. 200.
  7. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. DSM-IV. American Psychiatric Association, Washington DC 1994, ISBN 0-89042-061-0.
  8. ICD-10-GM, F65.0
  9. Diagnostic criteria for 302.81 Fetishism. (Memento des Originals vom 21. Februar 2009 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.behavenet.com DSM-Diagnosekriterien (englisch) BehaveNet; abgerufen am 26. Juli 2008.
  10. Almuth Bruder-Bezzel (Hrsg.): Alfred Adler: Persönlichkeit und neurotische Entwicklung frühe Schriften (1904–1912). Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, ISBN 978-3-525-46051-1, S. 112–113.
  11. Ingelore Ebberfeld: Botenstoffe der Liebe: Über das innige Verhältnis von Geruch und Sexualität. LIT Verlag, Berlin / Hamburg / Münster 2005, ISBN 3-8258-8489-9, S. 113–114.
  12. Stephan Grunst, Ralf Flüggen: Neurologie und Psychiatrie. Elsevier GmbH, 2005, ISBN 3-437-48120-7, S. 218.
  13. S. J. Hucker: Fetishism. (Memento des Originals vom 13. August 2006 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.forensicpsychiatry.ca
  14. Elke Gaugele: Fetischismus und Gender in Elisabeth Hackspiel-Mikosch, Stefan Haas: Die zivile Uniform als symbolische Kommunikation. Franz Steiner Verlag, 2006, ISBN 3-515-08858-X, S. 279.
  15. Trevor Lubbe: The Borderline Psychotic Child: A Selective Integration. Routledge, 2000, ISBN 0-415-22220-6, S. 80–83.
  16. Stephanie Pedersen: Shoes: What Every Woman Should Know. David & Charles, 2005, ISBN 0-7153-2234-6, S. 12.
  17. Edward Shorter: Written in the Flesh: A History of Desire. University of Toronto Press, 2005, ISBN 0-8020-3843-3, S. 222–223.
  18. Stefano Re: Femdom: preludio all'estinzione del maschio. Castelvecchi, 2003, ISBN 88-7394-095-1, S. 219.
  19. Der Papiertiger: Hackenfick. In: Datenschlag. Abgerufen am 30. Januar 2018.
  20. Edward Shorter: Written in the Flesh: A History of Desire. University of Toronto Press, 2005, ISBN 0-8020-3843-3, S. 223–224.

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