Schriftwerdung

Die Schriftwerdung ist ein theologischer Begriff. Sie bedeutet einerseits die Überlieferung der göttlichen Offenbarung durch Menschen in schriftliche Texte der Bibel, andererseits das ständige Wachsen der Offenbarung in der Geschichte durch fortwährende Gewinnung von Erkenntnissen aus der Bibel.

Objektiver Schriftwerdung

Sie bedeutet im Christentum, wie die Apostel, Propheten und die Hagiographen das offenbarte Gottes Wort durch Menschenwort in der Bibel schriftlich überliefert haben. Die objektive Phase der Schriftwerdung, wie auch die göttliche Offenbarung an den Menschen, wird im Christentum seit dem Ende des 1. Jahrhunderts als abgeschlossen betrachtet. Die spätere Kanonisierung der Heiligen Schrift gehört nicht zum Begriff der Schriftwerdung.

Postscriptuelle Schriftwerdung

Dies bedeutet das ständige Werden und Wachsen der Offenbarung bzw. des ihr zugeordneten Glaubens in der Geschichte durch fortwährende Gewinnung von Erkenntnissen aus der Bibel nach der objektiver Schriftwerdung. Diese geschichtliche Entfaltung der Bibel wird von Joseph Ratzinger[1] so beschrieben:

„Objektiv ist die Schrift zwar abgeschlossen, aber ihre Bedeutung ist die Geschichte hindurch in einer ständigen Entfaltung begriffen, die noch nicht abgeschlossen ist. Sie enthält, wie auch die physische Welt, »Samenkörner« – Bedeutungssamen nämlich, die mit der wachsenden Zeit in stetem Wachstum begriffen sind. Manches vermögen wir bereits ausdeuten, was die Väter noch nicht zu sagen vermochten, weil es für sie noch im Dunkel der Zukunft lag, während es für uns schon erfassbare Vergangenheit ist. Anderes bleibt auch für uns noch dunkel. Aus der Schrift wachsen also noch immer neue Erkenntnisse hervor, in ihr geschieht gleichsam noch etwas; und dies Geschehen, diese Geschichte, geht fort, solange es überhaupt Geschichte gibt. Das ist für den Theologen, den Ausleger der Schrift, eine wichtige Erkenntnis, beweist sie doch, dass er bei seiner Auslegung nicht absehen kann von der Geschichte, von der vergangenen so wenig wie von der zukünftigen. So wird die Auslegung der Schrift zur Theologie der Geschichte, die Erhellung des Vergangenen zur Prophetie über das Kommende“.

Die Entdeckung dieser geschichtlichen Entwicklung der biblischen Offenbarung stammt aus dem Werk Das Figurenbuch (1204) eines namentlich nicht bekannten Bamberger Mönchs. Joachim von Fiore beschrieb in seiner Concordia veteris et novi testamenti diesen Begriff, der durch den Heiligen Bonaventura als Geschichtstheologie weiter entfaltet wurde.

Anmerkungen

  1. Joseph Ratzinger: Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura, Habilitationsschrift (gedruckte Form), Verlag Schnell und Steiner, München, 1959, S. ?.