Schierlingsbecher

Schierling (Conium maculatum)
Jacques-Louis David: Der Tod des Sokrates (1787)
Strukturformel von Coniin

Schierlingsbecher (griechisch κώνειον kṓneion als Bezeichnung für die Pflanze und den aus ihr bereiteten Trank) wird der Becher (griechisch kylix[1]) genannt, in dem sich in der Antike ein Getränk aus dem sehr stark giftigen Gefleckten Schierling befand, das im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. in Athen bei Hinrichtungen verwendet wurde. Man enthülste die Frucht, zerstampfte sie und streute eine dünne Schicht dieses Pulvers auf Wasser. Der Verurteilte leerte den Becher und führte damit selbst seinen Tod herbei. Mit dem Begriff „Schierlingsbecher“ wird hauptsächlich die Hinrichtung des Sokrates 399 v. Chr. verbunden. Auch bei freiwilligen Selbsttötungen kam der Schierling zur Anwendung.

Wirkungsweise

Die tödliche Coniin-Dosis beträgt 6 bis 7 mg pro kg Körpermasse, also etwa 0,5 g für einen Erwachsenen. Da die Pflanze 1,5 bis 2 % des Stoffes enthält, benötigte man etwa 30 g der Droge, allerdings soll die Konzentration in den Samen besonders hoch sein.[2]

Das Coniin bewirkt eine von den Füßen her aufsteigende Lähmung des Rückenmarks, welche schließlich zum Tod durch Atemlähmung führen kann. Der Vergiftete erstickt bei vollem Bewusstsein.

Coniin blockiert reversibel nikotinerge Acetylcholinrezeptoren und verhindert die Signalweiterleitung zwischen Zellen. Es wirkt sehr ähnlich wie Curare[3] und andere Toxine, die mit Acetylcholinrezeptoren wechselwirken, wie Anatoxin A[4] einiger Cyanobakterien, Nicotin[5], Arecolin[6] der Betelnüsse, Cytisin[7] des Goldregens und Epibatidin[8] der Baumsteigerfrösche.

Anwendung in der Antike

Im ausgehenden 5. und im 4. Jahrhundert v. Chr. war die Hinrichtung durch den Schierlingsbecher in Athen üblich. Insbesondere unter der Herrschaft der Dreißig (404–403 v. Chr.) wurden viele Hinrichtungen so vollzogen.[9] Namentlich bekannte Personen, die auf diese Art hingerichtet wurden, sind neben Sokrates der Politiker Theramenes,[10] Polemarchos, der Bruder des Redners Lysias,[11] der Staatsmann Phokion und sein Freund Nikokles sowie die Politiker Thudippos, Hegemon und Pythokles, die zusammen mit Phokion und Nikokles 318 v. Chr. den Schierlingsbecher tranken.[12]

Platons ausführliche Schilderung der Hinrichtung des Sokrates in seinem Dialog Phaidon ist literarisch gestaltet. Nach der traditionell in der Forschung dominierenden Auffassung ist sie stark geschönt. Die Beschreibung der Wirkungen des Pflanzengifts ist zwar in den Grundzügen korrekt, doch werden abstoßende Aspekte verschwiegen. Der Sterbevorgang ist von Krämpfen und Atemnot begleitet, schließlich tritt der Tod durch Ersticken ein. Diese unästhetischen Begleiterscheinungen sind im Phaidon nur sehr vorsichtig angedeutet. So berichtet Phaidon, Sokrates habe sein Gesicht verhüllt. Wenn dies zutrifft, dann wollte der Philosoph damit den Freunden den Anblick der krampfartigen Verzerrung der Gesichtszüge ersparen. Die beiläufige Erwähnung eines Zuckens des Körpers ist wohl ein dezenter Hinweis auf die Krämpfe. Die Schilderung der langsam im Körper von unten aufsteigenden Lähmung, deren Begleiterscheinung Empfindungslosigkeit ist, ist ein wesentlicher Aspekt der geschönten Darstellung; sie soll das ruhige Entweichen der Seele aus dem Körper veranschaulichen.[13] Allerdings widerspricht Enid Bloch in einer 2002 veröffentlichten eingehenden Untersuchung der verbreiteten Annahme, der Ablauf könne sich nicht auf die von Platon beschriebene Weise vollzogen haben. Sie hält Platons Schilderung für einen glaubwürdigen Bericht, der die Einzelheiten der Vergiftung korrekt wiedergebe.[14] Die Frage, ob Sokrates an einer Vergiftung durch Schierling starb, bejaht der Historiker und Pathologe Ober, doch Platons Beschreibung bestätige dies weniger als vielmehr Kenntnisse der Praktiken im Alten Griechenland und der damaligen Strafgesetze.[15]

Wenn der Verurteilte schmerzlos getötet werden sollte, wurde dem Schierlingsbecher betäubender Mohnextrakt beigegeben. Die erste bekannte Mischung dieser Art wird von Thrasyas aus Mantinea um 370 v. Chr. beschrieben.

Literatur

Weblinks

Wiktionary: Schierlingsbecher – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Vgl. William B. Ober: Did Socrates Die of Hemlock Poisoning? In: William B. Ober: Boswell’s Clap and Other Essays. Medical Analyses of Literary Men’s Afflications. Southern Illinois University Press, 1979; Taschenbuchausgabe: Allison & Busby, London 1988, Neuauflage ebenda 1990, ISBN 0-7490-0011-2, S. 262–270, hier: S. 262 und 267.
  2. Hilligardt: Schierling - der gefleckte Tod, Mitteilung der Stadt Pforzheim vom Mai 2010, abgerufen am 4. Dezember 2021
  3. A. Trautmann: Curare can open and block ionic channels associated with cholinergic receptors. In: Nature. Band 298, Nummer 5871, Juli 1982, S. 272–275, PMID 6283380.
  4. R. Aráoz, J. Molgó, N. Tandeau de Marsac: Neurotoxic cyanobacterial toxins. In: Toxicon. Band 56, Nummer 5, Oktober 2010, S. 813–828, doi:10.1016/j.toxicon.2009.07.036, PMID 19660486 (Review).
  5. I. Yamamoto, J. E. Casida: Nicotinoid Insecticides and the Nicotinic Acetylcholine Receptor. Springer Science & Business Media, 1999, ISBN 978-4-431-70213-9 (google.de).
  6. K. C. Raffaele, A. Berardi, P. P. Morris, S. Asthana, J. V. Haxby, M. B. Schapiro, S. I. Rapoport, T. T. Soncrant: Effects of acute infusion of the muscarinic cholinergic agonist arecoline on verbal memory and visuo-spatial function in dementia of the Alzheimer type. In: Progress in neuro-psychopharmacology & biological psychiatry. Band 15, Nummer 5, 1991, S. 643–648, PMID 1956992.
  7. R. L. Papke, F. Ono, C. Stokes, J. M. Urban, R. T. Boyd: The nicotinic acetylcholine receptors of zebrafish and an evaluation of pharmacological tools used for their study. In: Biochemical pharmacology. Band 84, Nummer 3, August 2012, S. 352–365, doi:10.1016/j.bcp.2012.04.022, PMID 22580045, PMC 3372685 (freier Volltext).
  8. V. Gerzanich, X. Peng, F. Wang, G. Wells, R. Anand, S. Fletcher, J. Lindstrom: Comparative pharmacology of epibatidine: a potent agonist for neuronal nicotinic acetylcholine receptors. In: Molecular pharmacology. Band 48, Nummer 4, Oktober 1995, S. 774–782, PMID 7476906.
  9. Lysias 18,24 f.; Andokides 3,10.
  10. Xenophon, Hellenika 2,3,56.
  11. Lysias 12,17.
  12. Plutarch, Phokion 35 f.
  13. Theodor Ebert: Platon: Phaidon. Übersetzung und Kommentar, Göttingen 2004, S. 461; Renate Wittern: Das Gift der frommen Denkungsart – Zur Pharmakologie des Schierlings in der Antike. In: Erika Hickel, Gerald Schröder (Hrsg.): Neue Beiträge zur Arzneimittelgeschichte, Stuttgart 1982, S. 15–28, hier: 16 f.; Christopher Gill: The Death of Socrates. In: The Classical Quarterly 23, 1973, S. 25–28.
  14. Enid Bloch: Hemlock Poisoning and the Death of Socrates: Did Plato Tell the Truth? In: Thomas C. Brickhouse, Nicholas D. Smith (Hrsg.): The Trial and Execution of Socrates: Sources and Controversies, Oxford 2002, S. 255–278.
  15. William B. Ober: Did Socrates Die of Hemlock Poisoning? In: William B. Ober: Boswell’s Clap and Other Essays. Medical Analyses of Literary Men’s Afflications. Southern Illinois University Press, 1979; Taschenbuchausgabe: Allison & Busby, London 1988, Neuauflage ebenda 1990, ISBN 0-7490-0011-2, S. 262–270.

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