Salutonormativität

Salutonormativität bezeichnet einen Blick auf die Wirklichkeit, der auf die körperliche und psychische Gesundheit als Normalität fokussiert ist. Diese Perspektive misst alles am gesunden Menschen und sieht Krankheit, Unwohlbefinden oder Behinderung als unwillkommene Abweichung oder defizitären Zustand. Gesundheit ist demnach eine Norm, die alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen, literarischen, religiösen Dimensionen leitend strukturiert.[1]

Begriffsgenese

Der Begriff wurde ursprünglich von dem deutsch-amerikanischen Dichter Paul-Henri Campbell in Anlehnung an Judith Butlers Vorstellung von Heteronormativität geprägt.[2][3] Der Begriff setzt sich aus lateinisch salus (= Wohl, Wohlbefinden, Heil, Sicherheit, Gesundheit) und altgriechisch νόμος (nomos = Gesetz, Brauch, Gewohnheit, Richtschnur, Maßstab) zusammen.[4] Die erste theoretische Annäherung zum Phänomen der Salutonormativität entwickelte Campbell im Nachwort zu seinem Gedichtband nach den narkosen (2017).[5]

Dort heißt es: „Salutonormativität – alles ist von und für gesunde Menschen gedacht, die Institutionen, die Metaphern, die Vorstellungen des gelingenden Lebens, unsere religiösen Kategorien. Kranke stehen naturgemäß quer zu diesen gesunden Paradigmen. Die gesunde Sprache, die wir verwenden, die wir erlernen, ist dominiert von einer unverschämten Vitalität, ungebrochen und höchstens hie und da von etwas Melancholie betrübt. Die Sprache, die ich meine, kommt aus der Insuffizienz.“[6]

Entfaltung und Rezeption

Campbell selbst versteht Salutonormativität als einen hermeneutischen Schlüssel, der sowohl kulturelle und sprachliche Zusammenhänge im Hinblick auf ihre Perspektive auf Gesundheit und Krankheit als auch auf wirtschaftliche und politische Auswirkungen zu diagnostizieren hilft.[7] Die Journalistin Alina Bach rezipierte den Begriff im Hinblick auf intersubjektive Psychologie und Wohlbefinden in Partnerschaften.[8] Auch die Schriftstellerin Sudabeh Mohafez greift in der Einleitung zu ihren Erzählungen auf eine salutonormative Sicht zurück.[9] In Folge berufen sich zahlreiche Verbände und Organisationen auf diesen Begriff, um die wahrnehmungspsychologische Dimension von Exklusion und Inklusion im Bereich Gesundheit zu beschreiben.[10]

Einzelnachweise

  1. Antje Weber: Gesund ist das nicht. sueddeutsche.de, 13. August 2017, abgerufen am 29. August 2018.
  2. Paul-Henri Campbell: Überlegungen zum Dichten nach den Narkosen. In: Sprache im technischen Zeitalter. Nr. 217. Böhlau Verlag, Köln 2016, S. 113–115.
  3. Beate Tröger: Sprachkunst - Große Lyrik mit Herzfehler. Der Freitag, 19. April 2017, abgerufen am 29. August 2018.
  4. Badische Zeitung: Gesang vom beschädigten Leben – Literatur & Vorträge - Badische Zeitung. 6. Mai 2017 (badische-zeitung.de [abgerufen am 29. August 2018]).
  5. Gedichte von Paul-Henri Campbell: Versehrte Körper, warme Atolle. (tagesspiegel.de [abgerufen am 13. November 2022]).
  6. Paul-Henri Campbell: nach den narkosen. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2017, ISBN 978-3-88423-556-0, S. 81.
  7. Gregor Dotzauer: Auf der Seele, auf der Zunge. In: Der Tagesspiegel Online. 27. März 2018, ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 29. August 2018]).
  8. Alina Bach: Die Liebe in dunklen Zeiten. DuMont Buchverlag, Köln 2017, ISBN 978-3-8321-9862-6, S. 52–54.
  9. Sudabeh Mohafez: Behalte den Flug im Gedächtnis. edition AZUR, Dresden 2017, ISBN 978-3-942375-31-3, S. 4.
  10. Filmverband Sachsen. Abgerufen am 13. November 2022.