STEREO-Experiment

Das STEREO-Experiment (Search for Sterile Reactor Neutrino Oscillations) untersucht die mögliche Oszillation von Reaktorneutrinos in sterile Neutrinos. Es befindet sich am Institut Laue Langevin (ILL) in Grenoble, Frankreich. Die Datenaufnahme begann im November 2016.

Messprinzip

Teilchenidentifikation

Abbildung 2: Vergleich der gemessenen Neutrinospektren in 10 m und 12,2 m Entfernung vom Reaktor.

Der STEREO-Detektor befindet sich in etwa 10 m Abstand von einem Forschungsreaktor (58 MW thermische Leistung) am ILL. Um die vom Reaktor ausgesendeten Neutrinos – genauer: Elektron-Antineutrinos – detektieren zu können, ist der Detektor mit 1800 Litern eines organischen Flüssigszintillators gefüllt. Dort werden Neutrinos durch inversen Beta-Zerfall detektiert:

Die gleiche Reaktion wurde auch schon zum allerersten experimentellen Nachweis von Neutrinos im Cowan-Reines-Neutrinoexperiment genutzt. Die interessierenden Reaktionsereignisse werden dabei durch eine charakteristische Folge zweier Impulse identifiziert:

  • das erzeugte Positron erzeugt im Szintillator durch Annihilation mit einem Elektron Gammaquanten mit der Gesamtenergie 1022 keV, deren Szintillationslicht durch die 48 im oberen Teil der Detektorzellen angebrachten Photomultiplier-Röhren (PMTs) aufgezeichnet wird,
  • das erzeugte Neutron wird im Szintillator zunächst durch Stöße moderiert und dann von einem Atomkern mit großem Wirkungsquerschnitt für Neutroneneinfang absorbiert, was – durch den Moderationsvorgang um einige Mikrosekunden verzögert – ebenfalls zur Emission von Gammastrahlung mit einer charakteristischen Energie führt. Im Cowan-Reines-Experiment enthielt die Szintillatorflüssigkeit als Neutronenabsorber Cadmium; im STEREO-Detektor übernimmt Gadolinium mit seinem noch viel größeren Neutroneneinfangsquerschnitt diese Aufgabe.

Der erwartete Abstand zwischen dem Oszillationsminimum und -maximum steriler Reaktorneutrinos ist etwa 2m. Daher ist der 2,2 m lange Detektor in 6 separate Abschnitte unterteilt, welche das Energiespektrum der Neutrinos jeweils getrennt voneinander messen. Durch Vergleich der gemessenen Spektren kann eine mögliche Oszillation entdeckt werden (siehe Abbildung 2).

Das STEREO-Experiment registriert etwa 400 Neutrinos pro Tag.

Detektor-Abschirmung

Da Neutrinos nur äußerst schwach wechselwirken, müssen Detektoren für Neutrinos grundsätzlich sehr sensibel sein und benötigen daher eine gute Abschirmung gegen ungewollte Signale.

Die sechs inneren Detektorzellen sind von gadoliniumfreien Flüssigszintillator umgeben, der als „Gamma-Catcher“ wirkt, indem er ein- und austretende Gammaquanten detektiert. Dadurch wird sowohl die Detektionseffizienz angehoben als auch die Energieauflösung verbessert. Oberhalb des Detektors befindet sich ein mit Wasser gefüllter Tscherenkow-Antikoinzidenz-Detektor, in dem Myonen aus der sekundären kosmischen Strahlung detektiert werden, die sonst einen störenden Hintergrund bilden würden. Gegen Neutronen und Gammastrahlen aus den umgebenden Experimenten ist der Detektor von mehreren Abschirmungen aus Blei, Polyethylen, Stahl und Borcarbid (insgesamt 65 t) umgeben.

Motivation

Abbildung 3: Die Reaktor-Antineutrino-Anomalie

Zwar ist die Neutrinooszillation inzwischen ein gut verstandenes Phänomen, aber es gibt einige experimentelle Beobachtungen, die die Vollständigkeit dieses Verständnisses in Frage stellen. Die dahingehend wohl prominenteste Beobachtung ist die sogenannte Reaktor-Antineutrino-Anomalie (RAA). Viele reaktornahe Neutrinoexperimente haben einen im Vergleich zur Theorie signifikant () niedrigere Flussrate an Elektron-Antineutrinos () gemessen[1]. Weitere experimentelle Anomalien sind das unerwartete Auftreten von in einem -Strahl auf kurzen Abständen in der LSND Anomaly[2] sowie die Gallium-Neutrino-Anomalie, die das Verschwinden von auf kurzen Distanzen während der Kalibrationsphasen der Experimente GALLEX[3] und SAGE[4] beschreibt.

Diese Anomalien könnten darauf schließen lassen, dass unser bisheriges Verständnis der Neutrinooszillation unvollständig ist und Neutrinos in eine weitere bisher unbekannte Neutrinosorte oszillieren können. Messungen der Zerfallsbreite des Z-Bosons am Large Electron-Positron Collider (LEP) schließen die Existenz weiterer leichter „aktiver“, d. h. der schwachen Wechselwirkung unterliegender Neutrinos aus[5]. Daher wird die Oszillation in zusätzliche leichte „sterile“, d. h. nicht von der schwachen Wechselwirkung betroffene Neutrinos als mögliche Erklärung untersucht. Aus theoretischer Schicht treten sterile Neutrinos in einigen prominenten Erweiterungen des Standardmodells der Teilchenphysik wie z. B. dem Seesaw-Typ-1-Mechanismus auf.

Ergebnisse (Stand Dezember 2019)

Abbildung 4: Ergebnisse des STEREO Experiments zur Untersuchung der möglichen Existenz leichter steriler Neutrinos als Erklärung der RAA. Der blaue Bereich zeigt die erwartete Parametersensitivität, die unter der Erwartung, dass keine zusätzliche Neutrinoart existiert, erreicht werden sollte. Der rote Bereich zeigt den aufgrund der realen Messung ausgeschlossenen Parameterbereich. Er fluktuiert aufgrund statistischer Schwankungen um den blauen Erwartungsbereich. Die schwarzen Linien zeigen den von der RAA favorisierten Parameterbereich, der bereits zu einem großen Teil ausgeschlossen ist.

Erste Ergebnisse aus 66 Tagen mit eingeschaltetem Reaktor wurden 2018 vorgestellt.[6] Der größte Teil des zur Erklärung der RAA favorisierten Parameterbereichs steriler Neutrinos konnte mit einer Sicherheit von 90% ausgeschlossen werden. Neue Ergebnisse vom Dezember 2019 umfassen etwa 65500 gemessene Neutrinos (kombinierte Phasen 1 und 2; 179 Tage mit laufendem Reaktor). Mit dem aktuellen Datensatz kann die Ausschlussregion weiter ausgedehnt werden (siehe Abbildung 4).[7]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. G. Mention et al.: "Reactor antineutrino anomaly", Phys. Rev. D 83, 073006 – Published 29 April 2011, DOI:10.1103/PhysRevD.83.073006
  2. A. Aguilar et al. (LSND Collaboration): "Evidence for neutrino oscillations from the observation of appearance in a beam", Phys. Rev. D 64, 112007 – Published 13 November 2001, DOI:10.1103/PhysRevD.64.112007
  3. Carlo Giunti und Marco Laveder: "Statistical significance of the gallium anomaly", Phys. Rev. C 83, 065504 – Published 27 June 2011, DOI:10.1103/PhysRevC.83.065504
  4. J. N. Abdurashitov et al.: "Measurement of the response of a Ga solar neutrino experiment to neutrinos from a 37Ar source", Phys. Rev. C 73, 045805 – Published 20 April 2006, DOI:10.1103/PhysRevC.73.045805
  5. The ALEPH CollaborationThe DELPHI CollaborationThe L3 CollaborationThe OPAL CollaborationThe SLD CollaborationThe LEP Electroweak Working GroupThe SLD Electroweak and Heavy Flavour Groups: "Precision electroweak measurements on the Z resonance", Physics Reports 427, DOI:10.1016/j.physrep.2005.12.006
  6. H. Almazán et al.: "Sterile neutrino constraints from the STEREO experiment with 66 days of reactor-on data", Phys. Rev. Lett. 121, 161801 – Published 17 October 2018, DOI:10.1103/PhysRevLett.121.161801
  7. H. Almazán et al.: "Improved sterile neutrino constraints from the STEREO experiment with 179 days of reactor-on data", arXiv:1912.06852 – Published 16 December 2019

Auf dieser Seite verwendete Medien

Stereo-exclusion2019.png
Autor/Urheber: M. Vialat, ILL, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Ergebnisse des STEREO Experiments (Stand Mai 2019) zur Untersuchung der möglichen Existenz leichter steriler Neutrinos als Erklärung der RAA. Der blaue Bereich zeigt die erwartete Parametersensitivität, die unter der Erwartung, dass keine zusätzliche Neutrinoart existiert, erreicht werden sollte. Der rote Bereich zeigt den aufgrund der realen Messung ausgeschlossenen Parameterbereich. Er fluktuiert aufgrund statistischer Schwankungen um den blauen Erwartungsbereich. Die schwarzen Linien zeigen den von der RAA favorisierten Parameterbereich, der bereits zu einem großen Teil ausgeschlossen ist.
Raa.png
Autor/Urheber: Thierry Lasserre, CEA, Lizenz: CC BY-SA 4.0
In verschiedenen Experimenten gemessene Überlebenswahrscheinlichkeit von Reaktor-Antielektron-Neutrinos plus die erwarteten Kurven im gängigen 3-Neutrino Oszillationsschema (gestrichelt) und unter der Annahme eines 4. sterilen Neutrinos (durchgezogene Linie)
Stereo-oscillation.png
Autor/Urheber: D. Lhuillier, CEA, Lizenz: CC BY-SA 4.0
Erwartete Neutrinospektren in STEREO in der dem Reaktor am nächsten gelegenen Zelle (blau) und der am weitesten entfernten Zelle (rot) unter der Annahme von Oszillationen in sterile Neutrinos. Zusätzlich ist der Fall keiner Oszillation in schwarz gezeigt.