SO36
Das SO36 (kurz: das SO [Musik-Club in der Oranienstraße 190, nahe dem Rio-Reiser-Platz im Berliner Ortsteil Kreuzberg. Der Club hat seinen Namen vom gleichnamigen historischen Postzustellbezirk Berlin SO 36.
]) ist einGeschichte
Die traditionsreiche Halle in der Oranienstraße wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts als „Restaurationsladen“ des dortigen Biergartenlokals erbaut. Pläne zur Einrichtung eines Lichtspieltheaters sind bereits auf das Jahr 1912 datiert. Zunächst wurde das Kino unter dem Namen Kinora betrieben, ab ca. 1930 als Kino am Heinrichplatz. Aufgrund von Kriegsschäden geschlossen, wurde es 1951 wiedereröffnet, nach dem Mauerbau aber endgültig geschlossen.[1] Von Ende der 1960er bis in die 1970er Jahre hinein diente es als Atelier, zwischendurch als Supermarkt.
Punk und New Wave
Als Veranstaltungsort nahm das SO36 am 11./12. August 1978 mit dem zweitägigen „Mauerbaufestival“[2] (zum ironischen Gedenken an den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961) unter der Leitung von Achim Schächtele, Klaus-Dieter Brennecke und Andreas Rohè seinen Betrieb auf.[3] Es gastierten unter anderem The Wall, Dub-Liners, Mittagspause, Male, S.Y.P.H., DIN A Testbild, Ffurs, Stukka Pilots und PVC.[4] Bereits nach fünf Monaten drohte es allerdings in Konkurs zu gehen, Schächtele erkrankte und Brennecke verkaufte seine Anteile an Martin Kippenberger. Schächtele, Kippenberger und Rohè versuchten einen Brückenschlag zwischen Punk, New Wave und Kunst, ähnlich wie es in Düsseldorf dem Ratinger Hof gelungen war. Sie luden neben konventionellen Punkbands auch avantgardistische Bands wie The Red Crayola, Suicide, Lydia Lunch und Throbbing Gristle ein.
Dieses Geschäftsmodell scheiterte an der mangelnden Akzeptanz seitens der Kreuzberger Anarcho-Punk-Szene, die das Konzept als „Konsumscheiße“[5] bzw. „Schickeria-Kunst“[6] ebenso kritisierten wie die als zu hoch empfundenen Eintrittspreise und Hausverbote gegen einzelne Besucher. Die Kritik eskalierte in einem Überfall durch ein „Kommando gegen Konsumterror“ am 11. November 1978 während eines Konzertes der englischen Band Wire, bei dem die Eintrittskasse mit 2500 bis 4500 Mark geraubt wurde. Möglicherweise ist dieses Geld in die spätere Gründung eines Kreuzberger Punk-Zentrums eingeflossen.[7] Im Juni 1979 beendeten Schächtele, Rohé und Kippenberger ihre Phase mit der „Letzten Nacht im SO36“ und verkauften die GmbH an den türkischen Sozialarbeiter Hilal Kurutan.
Unter seiner Regie blieb das SO36 bis 1983 ein Zentrum der Punk- und New-Wave-Szene in Deutschland, außerdem veranstaltete Kurutan Hochzeiten, türkische Disco-Abende sowie zahlreiche Theatervorstellungen. Ursprünglich in „Merhaba“ umbenannt, kehrte er auf Anraten von Berliner Konzertveranstaltern zu dem Namen ‚SO36‘ zurück. In Kooperation mit unterschiedlichen Veranstaltern wie Karl Walterbach, Burkhard Zeiler und später auch in Eigenregie wurde die Geschichte des SO36 als Zentrum des Punk weitergeschrieben. Es traten Bands wie Slime, Die Ärzte, Die Toten Hosen, Einstürzende Neubauten, Die Tödliche Doris oder die Dead Kennedys auf. 1982 fand das erste Berlin Atonal im SO36 statt. Auch der „wahre Heino“ veranstaltete hier seine legendären „Tanz-in-den-Mai“-Partys, unter anderem mit dem Abschiedskonzert von Soilent Grün und einem der ersten Toten-Hosen-Konzerte am 1. Mai 1982. Und auf dem Hinterhof des SO36 befand sich 1983/1984 der Proberaum der Berliner Punkband Vorkriegsjugend (VKJ).
Ende März 1983 wurde das SO36 von der Bauaufsicht geschlossen; Kurutan konnte sich die notwendige Sanierung nicht leisten und gab den Betrieb auf.
Die Zeit von 1980 bis 1984 ist Gegenstand des Dokumentarfilms So war das S.O. 36 aus dem Jahr 1984 von Manfred Jelinski und Jörg Buttgereit,[8] die 1997 auch als Video erschien.[9]
Im Jahr 1984 zog kurzfristig eine Ausstellung der Internationalen Bauausstellung (IBA 1984) ein. Nachdem in der Anhalter Straße das besetzte Kunst- und Kulturcentrum Kreuzberg (KuKuck) geräumt worden war, stürmten deren Sympathisanten die IBA-Ausstellung, warfen sie hinaus und besetzten das SO36. In den Folgejahren wurden sie von der S.T.E.R.N. (Gesellschaft der behutsamen Stadterneuerung mbH) geduldet, die den Mietvertrag innehatte. Das SO36 entwickelte sich zu einem örtlichen Zentrum der Kreuzberger Szene. Im Jahr 1986 nahm das Theater Hundertfleck viel Raum und Zeit ein und das SO36 fungierte hauptsächlich als Probenraum und Bühne des Theaters. Ende 1986 übernahmen wieder Gruppen aus dem umgebenden Kiez den Betrieb und die Programmgestaltung des SO36 und der Schwerpunkt verlagerte sich wieder auf Konzerte, aber auch Volksküchen und Vollversammlungen fanden statt. Beispielsweise veranstaltete die „Blockshock“-Betreiberin Sibylle Schmidt hier einige Abende.
Im Jahr 1987 kam es zu Konflikten mit der Polizei, da sich die Konzerte mehrmals zu Straßenschlachten auf der Oranienstraße entwickelt hatten. Sie gipfelten in einem großen Angriff der Polizei auf das SO36 in der Silvesternacht 1987/1988, nachdem Punks auf dem benachbarten Heinrichplatz (heute: Rio-Reiser-Platz) mit Böllern auf Polizeiwagen geworfen hatten. In der Szene wurde der polizeiliche Übergriff als „Rache für den 1. Mai“ gedeutet.
Anfang Februar wurde das SO36 wiederum von der Bauaufsicht geschlossen und der Mietvertrag gekündigt, nachdem eine Theatergruppe für eine Aufführung Teile des Bodens entfernt hatte und ein Feuer ausgebrochen war. Ehemalige Nutzer des SO36 schlossen sich Ende 1988 zum gemeinnützigen Verein „Sub Opus 36 e. V.“ zusammen, um einen neuen Mietvertrag und Fördergelder für eine Wiedereröffnung zu erkämpfen.
Gegenwart
Im Jahr 1990 wurde das SO36 renoviert und unter neuer Trägerschaft des „Sub Opus 36 e. V.“ wieder als Veranstaltungssaal in Betrieb genommen. Bis Ende der 1990er Jahre wurde der Veranstaltungsbetrieb zunehmend professionalisiert. Neben Konzerten etablierten sich in dieser Zeit vor allem Veranstaltungen für und von Lesben und Schwule, die mit den Queer-Partys Mitte der 1990er Jahre den Begriff ‚queer‘ erstmals im deutschsprachigen Raum populär machten. „Gayhane“ war die weltweit erste schwul-lesbische Partyreihe, die sich ausdrücklich an Menschen mit muslimischen Wurzeln richtete und die einzige, die seit 1997 regelmäßig jeden Monat stattfindet.
Das SO36 sah sich 2009 durch einen Nachbarschaftskonflikt in seiner Existenz bedroht. Um die daraus resultierende Auflage zur Lärmreduzierung erfüllen zu können, sollte eine Schallschutzmauer errichtet werden.[10] Zur Einbringung der dafür notwendigen finanziellen Mittel fanden sowohl Benefizkonzerte (so am 2. September 2009 mit den Toten Hosen) als auch Verhandlungen mit dem Bezirk zur Kostenübernahme statt.
Darüber hinaus ist das SO36 auch politisch aktiv. So nahm der Club 2009 beispielsweise an Protesten gegen das Investorenprojekt Mediaspree teil und unterstützt das Demonstrationsbündnis „Freiheit statt Angst“.[11] Auch als Akteur gegen die Gentrifizierung Kreuzbergs engagierte sich das SO36 mit mehreren Veranstaltungen und wandte sich schließlich vom Kreuzberger Myfest ab.
Für das Jahr 2009 gewann das SO36 den Live Entertainment Award als bester Club. Nominiert waren neben dem SO36 der Jazzclub Domicil in Dortmund und die Zeche Bochum.[12]
Im November 2017 wurde in der Presse über eine Auseinandersetzung berichtet, die 2016 zwischen Teilen der Belegschaft und der Geschäftsführung ausgebrochen war.[13][14] Dabei wurde der Geschäftsführung vorgeworfen, Mitarbeiter loswerden zu wollen, die sich in einer Betriebsgruppe zusammengeschlossen und bei einer Vollversammlung geheime Wahlen und eine Diskussion über die Kündigungspraxis gefordert hatten. Der durch die Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union begleitete Prozess[15] landete mehrfach vor dem Berliner Arbeitsgericht.[16][17]
Einige Filmszenen des offiziellen Videoclips zu dem Song Freight Train der amerikanischen Hardcore-Band Madball aus dem Jahre 2018, gedreht von dem Filmemacher Daniel Prieß, wurden im und vor dem Berliner Musikclub SO36 aufgezeichnet. Enthalten ist dieser Song auf dem Madball-Album For The Cause.
Veranstaltungen
Heute finden regelmäßig Partys und Konzerte statt. Der montägliche Electric Ballroom zählte zu den langjährigen Techno-Veranstaltungen Berlins.
Die von Fatma Souad (Hakan Tandoğan) organisierte orientalische und schwul-lesbische Party Gayhane mit dem Resident-DJ Ipek hat der schwul-lesbischen türkischen Szene in Deutschland einen entscheidenden Impuls gegeben.[18] Sie findet einmal im Monat an einem Samstag statt und ist musikalisch geprägt von türkischer und arabischer, sowie griechischer und hebräischer Popmusik. Fester Bestandteil des Programms ist eine halbstündige Show mit Bauchtänzen und anderen orientalischen Einflüssen. Die Veranstalter führen eine engere Zusammenarbeit mit politischen und sozialen oder schwul-lesbischen Organisationen, die meist in den Bereichen Ausländerintegration und Flüchtlingshilfe aktiv sind.
Zu den traditionellen Veranstaltungen gehört auch das seit 1995 sonntags stattfindende „Café Fatal“. Die Veranstaltung beginnt mit einem einstündigen Standard-Tanzkurs für Anfänger und Fortgeschrittene. Im Anschluss spielen wechselnde DJs zunächst Standard- und lateinamerikanische Tanzmusik sowie im Laufe des späteren Abends Rock, Pop und Schlager.
Seit 1998 findet einmal monatlich das sogenannte „Super sexy Kiezbingo“ statt. Die Preise werden von den lokalen Gewerben gesponsert und der Erlös an eine zuvor ausgewählte politische oder wohltätige Einrichtung gespendet.[19]
Die Partyreihe „My ugly x“ spricht vor allem jüngere Gäste an und findet einmal monatlich an einem Freitag statt. Die Veranstaltung steht unter dem Motto „Bad Taste“ und zeichnet sich durch Kleidungs- und Musikstile aus, insbesondere Dance- und Popmusik der 1990er Jahre, die als besonders geschmacklos und trash-lastig gelten sollen.
Einmal monatlich wird die Halle für einen nächtlichen Flohmarkt mit einer kostenlosen Sozialberatung zum Thema Hartz IV genutzt.
Jeden zweiten und vierten Montag im Monat findet die Lesebühne Lesedüne im SO36 statt.[20]
Filme und Reportagen
- Manfred Jelinski: So war das S.O.36, Deutschland, 1985[21]
- Ines De Nil: Im Herzen der O-Straße (Dokumentarfilm), 1999[22]
- Beate Becker: SO36 – Der Club als Freiraum und Gesamtkunstwerk, Deutschlandradio Kultur, 2014[23]
Literatur
- Mythos „Esso“. In: Drucksache – Drucksache. Magazin der Erneuerungskommission Kottbusser Tor. Nr. 6, 31. August 1987, deutsche-digitale-bibliothek.de. (PDF)
- George Lindt, Ingolf Rech (Hrsg.): Wir werden immer weitergehen. Buch einschl. Dokumentarfilm auf DVD. Lieblingsbuch Verlag, Berlin 2012, ISBN 978-3-943967-01-2.
- Klaus-Dieter Brennecke (Hrsg.): Süd Ost 36. 1978–79. Ausstellungskatalog. Galerie Brennecke, Berlin 2013.
- Sub Opus 36 e. V. (Hrsg.): SO36 – 1978 bis heute. Ventil Verlag, 2016, ISBN 978-3-95575-054-1.
- Nicolaus Schmidt, KOSMOS GAYHANE, Hrsg. Kunststiftung K52, Art In Flow, Verlag für Zeitgenössische Kunst, Berlin, ISBN 978-3-938457-50-4.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Kino am Heinrichplatz. In: allekinos.com. Abgerufen am 2. August 2017.
- ↑ 11. + 12. August 1978 Zwei schräge deutsche Nächte in Süd-Ost – Rockinberlin. In: rockinberlin.de. 12. August 1978, abgerufen am 2. August 2017.
- ↑ Frank Apunkt Schneider: Als die Welt noch unterging – Von Punk zu NDW. 2007, ISBN 3-931555-88-7, S. 73 f.
- ↑ Frank Apunkt Schneider: Als die Welt noch unterging – Von Punk zu NDW. 2007, ISBN 3-931555-88-7, S. 334.
- ↑ Anonymes Flugblatt Destroy SO36. Zitiert nach einer Reproduktion von Frank Apunkt Schneider: Als die Welt noch unterging – Von Punk zu NDW. 2007, ISBN 3-931555-88-7, S. 185.
- ↑ Frank Apunkt Schneider: Als die Welt noch unterging – Von Punk zu NDW. 2007, ISBN 3-931555-88-7, S. 185.
- ↑ Frank Apunkt Schneider: Als die Welt noch unterging – Von Punk zu NDW. 2007, ISBN 3-931555-88-7, S. 75.
- ↑ Im Jahr 2012 erschien Wir werden immer weitergehen, ein Buch und Dokumentarfilm, in dem auch das SO36 mit dem Kapitel No Futere, Now ausführlich beschrieben wird.
- ↑ die-beste-band-der-welt.de (Ärzte-Fanpage)
- ↑ Im SO36 schlägt das wilde Herz des alten Kreuzberg. In: Berliner Morgenpost, 29. März 2009
- ↑ Freiheit statt Angst 2009 – bundesweite Demonstration am 12. September 2009
- ↑ SO36 ist Club des Jahres. In: Der Tagesspiegel, 16. April 2010
- ↑ Felix Langhammer, Axel Gebauer; WARENFORM: Linker Anspruch und Wirklichkeit (neues deutschland). (nd-aktuell.de [abgerufen am 18. November 2018]).
- ↑ Peter Nowak: Arbeitskonflikt in linkem Club. In: Die Tageszeitung. 11. November 2017, ISSN 0931-9085, S. 52 (taz.de [abgerufen am 18. November 2018]).
- ↑ Konfliktchronik, berlin.fau.org
- ↑ Linker Anspruch und Wirklichkeit. In: Neues Deutschland, 2. November 2017
- ↑ (Update) Arbeitskonflikt eines Kollegen mit der Geschäftsleitung im SO36. 18. August 2019, abgerufen am 30. November 2019.
- ↑ Kira Kosnick: Beyond the Community – Queer Migrant Club Cultures in Metropolitan Spaces. (PDF; 116 kB) Institute for Cultural Anthropology and European Ethnology, Sussex UK, 2005
- ↑ Super, Sexy, Bingo ( vom 13. Dezember 2009 im Internet Archive) In: Berliner Zeitung, 28. April 2007
- ↑ Die Lesedüne: Termine. In: Die Lesedüne. Abgerufen am 24. Januar 2022.
- ↑ So war das S.O.36. bei IMDb
- ↑ Bundesplatz Kino Berlin
- ↑ SO36 – Der Club als Freiraum und Gesamtkunstwerk. Deutschlandradio Kultur
Koordinaten: 52° 30′ 1″ N, 13° 25′ 20″ O
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Oranienstraße 190, Berlin-Kreuzberg, Deutschland – der Eingang des SO36, bei ungewohntem Tageslicht
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SO 36 in der Oranienstraße Berlin
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Foto von Overkill in Berlin, SO36, 12.02.2010