Rutentheater

Ensemble des Rutentheaters 2006 („Prinzessin Turandot“)
Ensemble des Rutentheaters 2022 („Das Wirtshaus im Spessart“) mit Orchester

Das Rutentheater ist ein Bestandteil des Schüler- und Heimatfests Rutenfest im oberschwäbischen Ravensburg, das jedes Jahr im Sommer zum Ende des Schuljahres stattfindet. Die Vorstellungen des von Schülern dargebotenen Laienspiels finden im Konzerthaus Ravensburg statt.

Geschichte

Theateraufführungen zum Rutenfest sind seit 1697 belegt. In diesem Jahr wurde „Ravensburger Komödianten“ vom Rat der Stadt in einer „Komödiantenordnung“ erlaubt, eine „Komödi“ zur Zeit des Rutenfests aufzuführen. Die Vorstellungen der konfessionellen bürgerlichen Komödiantengesellschaften im Alten Theater (mit etwa 300 Plätzen) konzentrierten sich allgemein um die Fastnachtszeit und die Rutenfestzeit. 1771 warb auch eine Gruppe katholischer Studenten um die Erlaubnis, am Rutenfest Theater spielen zu dürfen.[1]

Das Rutentheater als feste Institution im Festverlauf, von Ravensburger Kindern und Jugendlichen gespielt, geht auf die 1820er Jahre zurück. 1821 wurden drei Kinderschauspiele abwechselnd mit einem „Deklamatorium“ (Vortrag von Gedichten) von Schulkindern gezeigt. 1823 wurde auf Anregung des Rektors der Lateinschule und der Realschule, Johannes Dehlinger, von Schulkindern und Mitgliedern der „Dramatischen Gesellschaft“ u. a. ein Stück „Das Vogelschießen“[2] gespielt, dessen Inhalt vermutlich den Anlass lieferte, im gleichen Jahr auch am Rutenfest ein solches Vogelschießen abzuhalten. Das jährlich stattfindende „Adlerschießen“ der Gymnasiasten zählt seitdem zu den Höhepunkten des Rutenfests. Seit damals fand fast jedes Jahr zum Rutenfest eine Theateraufführung von Jugendstücken oder Märchenbearbeitungen statt,[3] später wurde die Aufführungszahl auf zwei und drei pro Jahr erhöht.[1]

1863 berichtet Johann Philipp Glökler in seinem Buch über „Land und Leute Württembergs“ vom Rutentheater:[4]

Der Dienstag hat sein ganz besonderes Vergnügen. Schon um halb acht Uhr Morgens eilt Klein und Groß ins Schauspielhaus. Da spielen Lyceal-, Real- und Elementarschüler für Kinder berechnete Stücke. Es ist oft zum Verwundern, wie gut sie ihre Rollen geben. Die Pausen zwischen dem ersten und zweiten Schauspiel werden ausgefüllt durch Deklamationen theils ernsthafter, theils komischer Gedichte. Und Zuschauer und Zuhörer – das ziemlich geräumige Theater ist jedesmal schier zum Erdrücken voll – sind Aug und Ohr. Mag auch das Spiel so lange dauern, als es will, kein Mensch klagt über Zeitverlust.

1868 berichtete ein anonymer Autor in der Unterhaltungsbeilage „Der Hausschatz“:[5]

Schon am Sonntag vor der Ruthenwoche wird in dem Stadttheater von den Schülern ein Schauspiel aufgeführt, bei welchem das Theater sich so mit Zuschauern füllt, wie es eigentliche Schauspieler gar gerne sehen. Das gleiche Schauspiel wird am zweiten Festtage (Dienstag) nach 10 Uhr Vormittags noch einmal gegeben und damit declamatorische Vorträge verbunden.

Ensemble des Rutentheaters, um 1895–1900

Nach der Schließung des Alten Theaters 1881 fanden die Vorstellungen in der Kuppelnauturnhalle statt; ab 1898 im neu errichteten Konzerthaus.[1]

1934 wurde im Rutentheater ein politisches Tendenzstück gespielt („Das Volk an der Grenze“ von Rudolf Fitzek), ab 1935 folgten jedoch wieder Märchenstoffe, so beim letzten Rutenfest vor dem Zweiten Weltkrieg 1939 „Peterchens Mondfahrt“. Beim ersten Nachkriegsfest 1947 wurde William Shakespeares Was ihr wollt gegeben.[6]

Je eine Schule war nun für die Gestaltung des Theaters in einem Jahr zuständig; die Zuständigkeit wechselte reihum. In den 1960er Jahren befand sich das Rutentheater im Niedergang: 1966 war das über 500 Zuschauer fassende Konzerthaus zur Premiere mit gerade einmal 70 Besuchern besetzt. 1973 wurde daher die Organisationsstruktur bislang zum letzten Mal grundlegend geändert: alle Ravensburger Schüler wurden zur Teilnahme aufgerufen, konnten daher über mehrere Jahre Bühnenerfahrung gewinnen und wurden von nun an auch professionell angeleitet (anfangs von einem Dramaturgen des Landestheaters Tübingen). Das Rutentheater erholte sich schnell, so dass schon 1976 Besucherrekorde verzeichnet werden konnten, und 1980 waren alle zwölf Vorstellungen ausverkauft.[7]

Rutentheater heute

Ensemble des Rutentheaters 2011 („Peter Pan“)

Das Ensemble des Rutentheaters besteht aus etwa 100 Schülern und Schülerinnen der Ravensburger Schulen aller Schularten, die jedes Jahr im Januar in einem Casting ausgewählt werden.[8] Die musikalische Begleitung übernimmt ein Orchester der Musikschule Ravensburg (etwa 70 Musiker und Musikerinnen), lokale Ballettschulen steuern Tanzeinlagen bei (etwa 70 Tänzer und Tänzerinnen). Hinter der Bühne sind weitere 30 Personen tätig. Für die Organisation ist die Rutenfestkommission Ravensburg verantwortlich.

Gespielt werden meist Märchen oder Stoffe aus der Kinder- und Jugendliteratur in eigens für das Rutentheater erstellter freier Bearbeitung.[9] Kleine Anspielungen auf die lokale Politik und Seitenhiebe auf die Nachbarstadt Weingarten gehören dabei zur Tradition. Zum Schlussapplaus versammeln sich alle Mitwirkenden auf der Bühne und stimmen zusammen mit dem Publikum das Ravensburger Heimatlied „Mein Ravensburg im Schwabenland“ an.

2012 wurden von den Schülern in zwei Besetzungen 17 Aufführungen innerhalb von 9 Tagen dargeboten.[10] Vormittagsvorstellungen werden von Schulklassen besucht, Nachmittags- bzw. Abendvorstellungen gehen in den freien Verkauf. Die Vorstellungen sind meist ausverkauft; zum Vorverkaufsbeginn bilden sich jedes Jahr lange Schlangen vor der Kartenverkaufsstelle. 2017 kamen neben 2500 Schülerkarten noch 6060 Eintrittskarten in den freien Verkauf, davon waren 3000 schon am ersten Tag verkauft.[11] Die Zuschauerzahlen in diesem Jahr entsprachen damit etwa 17 % der Ravensburger Einwohnerzahl.

Die Mitwirkenden des Rutentheaters nehmen in ihren Theaterkostümen auch am Historischen Festzug durch die Ravensburger Altstadt am „Rutenmontag“ teil.

Aufgeführte Stücke

„Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ (2010) beim Rutenfestzug

(seit 1995)

Siehe auch

  • Eine vergleichbare Institution in Oberschwaben ist das seit 1819 belegte „Schützentheater“ beim Biberacher Schützenfest.

Literatur

  • Helmut Binder, Alfred Lutz, Markus Glonnegger: Das Ravensburger Rutenfest in Geschichte und Gegenwart. Biberacher Verlagsdruckerei, Biberach 1997, ISBN 3-924489-87-4
  • Eva Lamprecht: Die pädagogische Relevanz von Märchenstücken. Traditionelles Kindertheater beim Ravensburger Rutenfest. Zulassungsarbeit. PH Weingarten, Weingarten 1980 (SWB-Katalog)

Weblinks

Commons: Rutentheater – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Anmerkungen und Einzelnachweise

  1. a b c Helmut Binder: Das Rutenfest von den Anfängen bis in die Zeit um 1900, in: Helmut Binder, Alfred Lutz, Markus Glonnegger: Das Ravensburger Rutenfest in Geschichte und Gegenwart. Biberacher Verlagsdruckerei, Biberach 1997, ISBN 3-924489-87-4, insbesondere S. 33–35
  2. eventuell das gleichnamige Stück des damaligen Erfolgsautors Heinrich Clauren (zur Buchausgabe von 1822 siehe Bayerische Staatsbibliothek bzw. Google Books) oder das 1819 beim ersten Biberacher Schützentheater gespielte Stück Die Freunde, oder: Das Vogelschießen aus der Zeitschrift Der Kinderfreund (20. Jg. 1781) von Christian Felix Weiße (siehe Digitalisat)
  3. Für die Jahre 1824 und 1827–1829 fehlen Hinweise; außerdem fiel das Rutenfest und damit das Rutentheater 1915–1920, 1938 und 1940–1946 aus; 1968 gab es wegen der Konzerthaus-Renovierung kein Rutentheater
  4. Ravensburg, in: Johann Philipp Glökler: Land und Leute Württembergs. Band 3. Cammerer, Stuttgart 1863, S. 403 (Kapitel „Ravensburg“ bei Wikisource)
  5. Das Ruthenfest in Ravensburg, in: Der Hausschatz. Unterhaltungsbeilage zum Fränkischen Volksblatt. 1. Jg., Würzburg 1868, S. 195–200, hier S. 200 (Digitalisat)
  6. Alfred Lutz: Zwischen Tradition und Wandel. Das Rutenfest von 1900 bis 1950, in: Helmut Binder, Alfred Lutz, Markus Glonnegger: Das Ravensburger Rutenfest in Geschichte und Gegenwart. Biberacher Verlagsdruckerei, Biberach 1997, ISBN 3-924489-87-4, S. 39–100
  7. Markus Glonnegger: Das Rutenfest und seine Entwicklung von 1951 bis 1996, in: Helmut Binder, Alfred Lutz, Markus Glonnegger: Das Ravensburger Rutenfest in Geschichte und Gegenwart. Biberacher Verlagsdruckerei, Biberach 1997, ISBN 3-924489-87-4, S. 101–223
  8. Archivierte Kopie (Memento desOriginals vom 12. Februar 2013 im Webarchiv archive.today)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.schwaebische.de
  9. http://www.schwaebische.de/freizeit/freizeit-uebersicht/heimatfeste-in-der-region/rutenfest-old_artikel,-Wir-benutzen-die-Vorlagen-als-Spielmaterial-_arid,5282083.html
  10. das-rutenfest.de (Memento desOriginals vom 25. Juli 2012 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.das-rutenfest.de, abgerufen am 11. Juli 2012
  11. Das sind die wahren Rutentheater-Fans, Schwäbische Zeitung, 4. Juli 2017

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Rutentheater beim Rutenfest Ravensburg (Juli 2022), Konzerthaus Ravensburg
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Rutenfest Ravensburg 2011, Schlussapplaus beim Rutentheater 2011 "Peter Pan" (Besetzung „rot“) – traditionell mit dem Singen des Ravensburger Heimatlieds
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Rutentheater Ravensburg, um 1895–1900
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Nach dem Schluss der Aufführung "Prinzessin Turandot" wird die Ravensburger „Hymne“ „Mein Ravensburg im Schwabenland“ gesungen. Rutentheater am Rutenfest Ravensburg (Juli 2006), im Konzerthaus Ravensburg.
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Rutenfest 2010, Festzug am Rutenmontag,

Titelfigur des Rutentheaters 2010 „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“