Positive Psychotherapie

Positive Psychotherapie wird die Ausgestaltung des psychotherapeutischen Vorgehens von Nossrat Peseschkian und Mitarbeitern genannt, das dieser entwickelt hat. Die Methode gehört zu den humanistischen Psychodynamischen Psychotherapien.

Überblick

Sie gehört zu den humanistischen Tiefenpsychologien (Psychodynamische Psychotherapie). Grundlage ist das ‚positive Menschenbild‘, das einem salutogenetischen, ressourcenorientierten, humanistischen und konzentrierten Vorgehen entspricht.

Die Positive Psychotherapie ist eine Methode im Rahmen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, die von zahlreichen Institutionen anerkannt wird (u. a. Landesärztekammer Hessen, Europäische Gesellschaft für Psychotherapie (EAP),[1] World Council for Psychotherapy (WCP), International Federation of Psychotherapy (IFP)[2] sowie verschiedene nationale Körperschaften).

Sie integriert Elemente und Techniken verschiedener Psychotherapiemethoden und verwendet im Speziellen auch Geschichten und Lebensweisheiten aus verschiedenen Kulturen zur Anregung von Vorstellungsvermögen und Vorstellungsalternativen im Sinne eines ressourcenorientierten Vorgehens.

Die Positive Psychotherapie ist mittlerweile in über 25 Ländern mit etwa 50 selbständigen Zentren vertreten. Seit 1979 werden u. a. im Rahmen einer ärztlichen Weiterbildungsstätte (Wiesbadener Weiterbildungskreis für Psychotherapie und Familientherapie, gegr. 1. November 1979) Ärzte, Psychologen und Pädagogen in der Positiven Psychotherapie weitergebildet. Die Wiesbadener Akademie für Psychotherapie (WIAP)[3] ist heute eines der führenden Institute im Bereich der staatlich anerkannten, postgraduierten Aus- und Weiterbildung für Psychotherapie. Insgesamt wurden seit 1974 Tausende Ärzte, Psychologen und Pädagogen in der Methode der Positiven Psychotherapie geschult und seit den späten 1980er Jahren zudem tausende Kollegen in osteuropäischen und asiatischen Ländern.

Weltweit wird die Positive Psychotherapie durch den „Weltverband für Positive und Transkulturelle Psychotherapie / World Association for Positive and Transcultural Psychotherapy“ (WAPP)[4] vertreten. Der Weltverband hat 2000 Mitglieder in 37 Ländern (Stand: September 2021). Bisherige Weltkongresse für Positive Psychotherapie fanden statt 1997 in St. Petersburg, Russland, 2000 in Wiesbaden, Deutschland, 2003 in Varna, Bulgarien, 2007 in Famagusta, Zypern, 2010 in Istanbul, Türkei, 2014 und 2019 in Kemer/Antalya, Türkei.

Standardisierte Ausbildungsgänge in der Form von Basic- und Masterkursen finden in vielen Ländern der Welt statt, z. B. in Albanien, Äthiopien, Bolivien, Bulgarien, China, Kosovo, Österreich, Rumänien, Russland, Schweiz, Türkei, Ukraine, Zypern usw. Gelegentlich werden u. a. die Ansätze von Seligman, Maslow, Antonovsky, Assagioli, Satir, Laing, Grof, Frankl, Längle, Perls, Rogers, Kim Berg, de Shazer und Berne der Positiven Psychotherapie zugerechnet.

1997 wurde eine Studie zur Qualitätssicherung der Positiven Psychotherapie in Deutschland abgeschlossen. Die Ergebnisse zeigen die hohe Wirksamkeit dieser Form der Kurzzeittherapie. Die Studie wurde mit dem Richard-Merten-Preis[5] ausgezeichnet.

Vorgehen

Ziele

Die Ziele der Positiven Psychotherapie sind

Nach dem Verständnis der Positiven Psychotherapie sind die traditionelle Psychotherapie und Medizin oft durch drei Kriterien beschreibbar:

a) das psychopathologische Vorgehen mit dem Ziel, Krankheiten, Störungen und Konflikte zu beseitigen,
b) eine Vielfalt von Methoden, die nebeneinander bestehen,
c) die passive Haltung des Patienten.

Die Positive Psychotherapie versucht, das traditionelle Vorgehen zu erweitern:

a) positives Vorgehen als Antwort auf Psychopathologie,
b) das inhaltliche Vorgehen als Mediator für die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen (Balancemodell, Grundfähigkeiten, Aktualfähigkeiten),
c) die fünfstufige Therapie und Selbsthilfe im Sinne der positiven Konfliktbewältigung, zur Aktivierung des Patienten und Förderung der Therapeut-Patient-Beziehung – gemäß dem orientalischen Spruch: „Das Glück kann man nur festhalten, wenn man es weitergibt“.

Hauptprinzipien

Die drei Hauptprinzipien in der Positiven Psychotherapie sind das positive, das inhaltliche und das strategische Vorgehen (Prinzipien der Hoffnung, der Balance und der Beratung):

  1. Das Prinzip der Hoffnung findet sich vor allem darin, dass man nicht sofort versucht, eine Störung zu beseitigen, sondern zunächst erstmal in ihrem weiteren Kontext zu verstehen und ihre positiven Aspekte anzusprechen. Das Wort „positiv“ (von lat. „positum“) bedeutet hier „tatsächlich“, „vorgegeben“, „wirklich“ – die positiven Therapeuten wollen dem Klienten also helfen, die Störung transparent zu machen und ihren Sinn zu sehen (Grundfähigkeiten und Aktualfähigkeiten).
    Dementsprechend wird Krankheit umgedeutet. Beispiele:
    • Schlafstörung ist die Fähigkeit, wachsam zu sein und mit wenig Schlaf auszukommen
    • Depression ist die Fähigkeit, mit tiefster Emotionalität auf Konflikte zu reagieren
    • Schizophrenie ist die Fähigkeit, in zwei Welten zu leben oder sich in eine Phantasiewelt zu begeben
  1. Durch dieses Vorgehen geschieht ein Standortwechsel, nicht nur des Klienten, sondern auch des Umfelds. Erkrankungen haben somit eine symbolische Funktion, die Therapeut und Patient zunächst gemeinsam erkennen müssen. Der Klient erfährt, dass seine Symptome und Beschwerden Signale sind, seine vier Lebensbereiche in eine neue Balance zu bringen.
  2. Das Prinzip der Balance: Konfliktdynamik und Konfliktinhalte. Die vier Qualitäten des Lebens sowie primäre und sekundäre Fähigkeiten.
    Trotz kultureller und sozialer Unterschiede und der Einzigartigkeit jedes Menschen kann man beobachten, dass alle Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme zu typischen Formen der Konfliktverarbeitung greifen. Thomas Kornbichler erklärt:
    Nossrat Peseschkian hat mit dem Balancemodell der Positiven Psychotherapie (einer innovativen zeitgenössischen Variante der Dynamischen Psychotherapie) ein anschauliches Modell der Konfliktverarbeitung in verschiedenen Kulturen formuliert
    1. Körper, Sinne – Psychosomatik,
    2. Leistung, Aktivität – Stressfaktoren,
    3. Kontakt, Mitmenschen – Depression,
    4. Fantasie, Zukunft, Weltanschauung – Ängste und Phobien.
    Wenn wir durch Stressoren oder Mikrotraumatisierung in Bedrängnis geraten, können wir unsere Konfliktsituation in vier typischen Formen der Konfliktverarbeitung zum Ausdruck bringen:
    • körperorientierte Modi
    • leistungsorientierte Modi
    • beziehungsorientierte Modi
    • fantasieorientierte Modi
    Diese vier Bereiche sind in allen Menschen angelegt; in der westlichen Hemisphäre liegen die Schwerpunkte oft mehr auf den Bereichen Körper/Sinne und Beruf/Leistung; im Orient dagegen in den Bereichen Kontakt, Fantasie und Zukunft (transkultureller Aspekt der Positiven Psychotherapie).
    Kontaktarmut und Fantasielosigkeit sind Gründe für viele psychosomatischen Krankheiten. Jeder Mensch entwickelt seine eigenen Präferenzen, wie er auftretende Konflikte verarbeitet. Durch die einseitige Ausbildung einer Form der Konfliktverarbeitung geraten die anderen in den Hintergrund.
    Diese Einseitigkeiten in den vier Qualitäten des Lebens führen zu acht typischen Modi der Konfliktverarbeitung, je nachdem, ob es sich um eine aktive oder passive Variante handelt:
    • Überkompensation im Körperkult (narzisstische Überwertigkeit des Körpers)
    • Dekompensation in die somatische Krankheit (Somatisierung, stoffgebundene Süchte, Risikofaktoren: Übergewicht etc.)
    • Überkompensation in Aktivität und Leistung
    • Dekompensation in Leistungs- und Konzentrationsstörungen
    • Überkompensation in die Geselligkeit
    • Dekompensation in die Einsamkeit
    • Überkompensation in Größenfantasien, Wahnstörungen usw.
    • Dekompensation in Sinnlosigkeitserlebnisse, Existenzängste usw.
    Der Konfliktinhalt (z. B. Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordnung, Höflichkeit, Vertrauen, Zeit, Geduld) wird durch primäre und sekundäre Fähigkeiten beschrieben, die auf den Grundfähigkeiten Liebesfähigkeit und Erkenntnisfähigkeit basieren. Dies kann auch als inhaltliche Differenzierung von Freuds klassischem Instanzenmodell verstanden werden.
  3. Das Prinzip der Beratung: Die fünf Stufen der Therapie und Selbsthilfe.
    Die fünf Stufen stellen ein Konzept der Positiven Psychotherapie dar, innerhalb dessen Therapie und Selbsthilfe eng aufeinander bezogen sind. Der Patient und seine Angehörigen werden gemeinsam über seine Krankheit und individuelle Auswege informiert:
    1. Stufe: Beobachtung, Distanzierung (Wahrnehmungsfähigkeit: die Fähigkeit, Wünsche und Probleme zum Ausdruck zu bringen)
    2. Stufe: Inventarisierung (kognitive Fähigkeiten: Ereignisse in den letzten 5–10 Jahren)
    3. Stufe: Situative Ermutigung (Selbsthilfe und Ressourcenaktivierung des Patienten: die Fähigkeit, von gesunden Anteilen und Erfolgen bei bisheriger Konfliktverarbeitung Gebrauch zu machen)
    4. Stufe: Verbalisierung (kommunikative Fähigkeiten: die Fähigkeit, noch offene Konflikte und Probleme in den vier Qualitäten des Lebens zum Ausdruck zu bringen)
    5. Stufe: Zielerweiterung (ethische und moralische Fähigkeiten des Patienten für die Zukunft: die Frage: „Was machen, wenn Sie keine Beschwerden und Probleme mehr haben, – welche Ziele haben Sie in den nächsten 3–5 Jahren?“)

Hilfe zum Standortwechsel: Ein Weg, die Ressourcen des Klienten zu mobilisieren statt beharrlich alte, bekannte Probleme zu wälzen sind Geschichten und Spruchweisheiten. Geschichten, Parabeln, Gleichnisse, Weisheiten erleichtern in der Positiven Psychotherapie den gedanklichen und emotionalen Standortwechsel – „Man kann auf seinem Standort stehen, aber man sollte nicht darauf sitzen bleiben.“ Vorurteile und Ressentiments lassen sich durch transkulturelle Beispiele und Geschichten abbauen. Diese können ein wertvoller Ansatz sein zu einer Veränderung des Bewusstseins. Diese ihrerseits ist Voraussetzung für Veränderungen in Medizin, Politik, Wirtschaft und im Umweltverhalten.

Menschenbild

Die Positive Psychotherapie stellt die individuelle Entwicklung des Menschen in den Kontext der Globalisierung: Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist eine globale, vernetzte Gesellschaft im Entstehen, deren Hauptmerkmal ihre kulturelle Vielfalt ist.

Der Prozess der Globalisierung – nicht nur auf der politischen, sondern vor allem auf der mentalen Ebene – geht nicht ohne Herausforderungen vonstatten. Dies wird als Herausforderung interpretiert, das methodische Vorgehen entsprechend der heutigen Situation auszugestalten. Dies erfordert ein Umdenken – von einer monokulturellen und monoätiologischen Betrachtungsweise hin zu einer multikulturellen und multiätiologischen. Diese Erfahrungen und Überlegungen führten Peseschkian dazu, den Menschen – besonders in der Psychotherapie – nicht nur als isoliertes Einzelwesen zu begreifen, sondern auch seine zwischenmenschlichen Beziehungen und – wie es seiner eigenen Entwicklung entspricht – seine „transkulturelle“ Situation zu berücksichtigen, die ihn erst zu dem machen, was er ist:

„Eigene Erfahrungen sind teuer, fremde Erfahrungen sind kostbar.“

Das Menschenbild der Positiven Psychotherapie kann mit dem der humanistischen Psychologie verglichen werden. Im Gegensatz zum Triebdeterminismus in der klassischen Psychoanalyse oder dem Bild einer „menschlichen Maschine“ in der klassischen Verhaltenstherapie gilt der Mensch in der Positiven Psychotherapie als grundsätzlich gut und gesund.

Er hat eine Fülle von Fähigkeiten, die wie Samenkörner angelegt sind, die durch die Erziehung und Selbsterziehung entwickelt werden können und müssen.

Literatur des Begründers

  • 1974 Positive Psychotherapie des Alltagslebens. Fischer, Frankfurt (2008, 12. Auflage)
  • 1977 Positive Psychotherapie. Fischer, Frankfurt (2008, 8. Auflage)
  • 1979 Der Kaufmann und der Papagei. Orientalische Geschichten in der Psychotherapie, Fischer, Frankfurt (2009, 30. Auflage)
  • 1980 Positive Familientherapie. Fischer, Frankfurt (2007, 11. Auflage)
  • 1993 Psychosomatik und Positive Psychotherapie. Fischer, Frankfurt (2008, 7. Auflage)
  • 1998 Angst und Depression im Alltag. Eine Anleitung zu Selbsthilfe und positiver Psychotherapie. Mit Dr. med. Udo Boessmann. Fischer Verlag, Frankfurt am Main (2007, 6. Auflage)
  • 2003 Morgenland-Abendland: Positive Psychotherapie im Dialog der Kulturen. Fischer, Frankfurt
  • 2005 Wenn du willst, was du noch nie gehabt hast, dann tu, was du noch nie getan hast. Herder, Freiburg (2008, 14. Auflage)
  • 2006 Positive Psychotherapy.[6] In: A. Pritz (Hrsg.): Globalized Psychotherapy Facultas Universitätsverlag, 2002, ISBN 978-3-85076-605-0.
  • Nossrat Peseschkian & Raymond Battegay: Die Treppe zum Glück: 50 Antworten auf die großen Fragen des Lebens . Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main 2006, ISBN 978-3-596-17112-5.

Insgesamt liegen 26 Bücher des Begründers vor, die z. T. in 23 Sprachen übersetzt sind (z. B. Chinesisch, Russisch, Spanisch und Englisch). Weiterhin existiert eine umfangreiche Sekundärliteratur in Form von Monographien, Dissertationen und wissenschaftlichen Artikeln in verschiedenen Kulturen. Hervorzuheben ist ein internationales Werk mit zahlreichen Positiven Psychotherapeuten: Messias E., Peseschkian H., Cagande C. (eds) (2020): Positive Psychiatry, Psychotherapy and Psychology. Springer, Cham.[7]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. PsyOnline - www.psyonline.at: EAP - European Association for Psychotherapy. Europsyche.org. Abgerufen am 21. Mai 2010.
  2. IFP. Ifp.name. Abgerufen am 21. Mai 2010.
  3. WIAP-Wiesbadener Akademie für Psychotherapie -Startseite. Wiap.de. Abgerufen am 21. Mai 2010.
  4. Positive Psychotherapy: The World of Positive Psychotherapy. Positum.org. Abgerufen am 21. Mai 2010.
  5. Kuratorium RICHARD-MERTEN-PREIS. Richard-merten-preis.de. Abgerufen am 21. Mai 2010.
  6. Positive-Psychotherapy-Globalized-Psychotherapy. Peseschkian-stiftung.de. Archiviert vom Original am 25. August 2007.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.peseschkian-stiftung.de Abgerufen am 21. Mai 2010.
  7. Positive Psychiatry: An Introduction, auf doi.org