Philip Selznick

Philip Selznick (* 8. Januar 1919 in Newark, New Jersey; † 12. Juni 2010 in Berkeley, Kalifornien[1]) war ein US-amerikanischer Jurist und Soziologe, emeritierter Professor der Universität Berkeley und Mitbegründer des Research Committee on Sociology of Law.

Allgemeines Wirken

Seinen Ph.D. erhielt Selznick 1947 an der Columbia University, wo er Schüler Robert K. Mertons war.[2] Er engagierte sich in der frühen Organisationssoziologie. Beeinflussungen von Robert Michels (bürokratisierte Oligarchie mit Macht- und Wissensmonopol) lassen einen pessimistischen Wissenschaftler erkennen: „Selznick geht von der Annahme aus, dass die aus der Tyrannei der Mittel resultierende allmähliche Entfernung von den ursprünglichen Zielen (der Organisation, Anm.) eine universale Tendenz ist und nur teilweise abgewendet werden kann.“[3] Alvin W. Gouldner warf ihm daher 1955 „metaphysischen Pathos“ vor, da er an Michels ehernem Gesetz der Oligarchie festhielt.[4]

Der Bürokratie-Begriff sollte den Organisationsforscher beeinflussen: „The theme of bureaucracy was, of course, very central to us these days (...).“[5] Als eine dysfunktionale Wirkung von Bürokratie erkennt er in An Approach to a Theory of Bureaucracy an, dass „Abteilungen sich eigene Ziele setzen, die den Zielen der Bürokratie zuwiderlaufen können.“[6] Während der Kriegsjahre 1942 und 1943 forschte er an der Regierungsorganisation Tennessee Valley Authority (TVA), wo er den bürokratischen Verwaltungsapparat analysiert; danach „scheint Selznick von seinem Pessimismus ein wenig abzulassen (...) und (dieser) wird durch das Bild einer kreativen Leadership kontrastiert.“[3] 1961 wurde Selznick in die American Academy of Arts and Sciences gewählt.

Auch einige seiner Schüler verfassten empirische Studien von Organisationen des dritten Sektors:[7] Charles Perrow untersuchte ein von Freiwilligen geführtes Hospital[8], Mayer N. Zald und Patricia Denton die YMCA[9], Burton R. Clark ein Community College[10] und Joseph R. Gusfield die Woman’s Christian Temperance Union[11].

Theorie der Kooptation

In seiner Studie der TVA definiert Selznick Kooptation wie folgt: „the process of absorbing new elements into the leadership or policy-determining structure of an organization as a means of averting threats to its stability or existence.“[12] Er unterscheidet formale von informaler Kooptation. Erstere ergibt sich „aufgrund eines Mangels an Zustimmung der Basis“; Ziel ist somit, den Konsens für anstehende Entscheidungen zu vergrößern. Beispielhaft hierfür nennt er die „Kolonialgeschichte, wo es vorkam, dass die koloniale Führung Vertreter der indigenen Bevölkerung in die lokale Administration aufnahm.“

Informale Kooptation hat zum Ziel, Gefahren durch externe Kräfte abzuwenden. Hierfür werden Forderungen externer Kräfte auf Kosten der ursprünglichen Zielsetzungen berücksichtigt. In der TVA erfolgte informelle Kooptation „vor allem unter dem Druck der Lobby der großen Landbesitzer“.[13]

In Foundations of the Theory of Organization, gleichzeitig ein Kapitel in TVA and the Grass Roots, präzisiert er die theoretischen Aussagen seiner Feldstudie: Er postuliert, dass Organisationen selbst Grundbedürfnisse haben, deren Befriedigung das Überleben der Organisation sichern.[14] Der Kern seiner strukturfunktionalistischen Analyse besteht darin, die unerwarteten Folgen, die sich aus organisationalem Handeln ergeben, zu untersuchen.[15]

Leadership

Selznick betrachtet Leadership als „kreative Tätigkeit“ die im Wesentlichen durch vier Funktionen gekennzeichnet ist:[16]

  • Die Festlegung der institutionellen Aufgabe und Rolle
  • Die institutionelle Inkorporierung des Ziels
  • Die Wahrung der institutionellen Integrität
  • Die Beilegung interner Konflikte

Mit dieser Betrachtung von Führung werden Organisationen von Selznick nicht mehr nur als „Objekte von Zwängen und äußerem Druck betrachtet“, sondern auch als aktiv Handelnde, die in der Lage sind, Ziele zu formulieren, zu verfolgen und Werte geltend zu machen.[3] Später sieht er in Leadership in Administration den vermutlich wichtigsten Aspekt von Institutionalisierung in „the infusion with value beyond the technical requirements of the task at hand.[17]

Rechtssoziologie

Als Rechtssoziologe gründete er an der Universität Berkeley 1961 das 'Center for the Study of Law & Society'.[18]

Schriften

  • An Approach to a Theory of Bureaucracy. In: American Sociological Review 1943, Vol. 8 No. 1, S. 47–54.
  • Foundations of the Theory of Organization. In: American Sociological Review 1948, Vol. 13 No. 1, S. 25–35.
  • TVA and the Grass Roots: A Study in the Sociology of Formal Organization. University of California Press, 1949 (Harper & Row 1966).
  • The Organizational Weapon: A Study of Bolshevik Strategy and Tactics. McGraw-Hill 1952.
  • Sociology. A Text with adapted Reading. mit Leonard Broom, Evanston 1955.
  • Leadership in Administration. A Sociological Interpretation. Harper & Row 1957.
  • Law, Society and Industrial Justice. Russell Sage Publications Berkeley 1969.
  • The Moral Commonwealth: Social Theory and the Promise of Community. University of California Press, 1992.
  • Institutionalism "Old" and "New". In: ASQ 1996, Vol. 41 No. 2, S. 270–277.

Literatur

  • Alvin W. Gouldner: Metaphysical Pathos and the Theory of Bureaucracy, In: American Political Science Review 1955, Vol. 49, S. 496–507.
  • Roger Cotterell: Selznick Interviewed: Philip Selznick in Conversation with Roger Cotterell, In: Journal of Law and Society Vol. 31, No. 3 2004, S. 291–317.
  • Giuseppe Bonazzi: Geschichte des organisatorischen Denkens, hg. Veronika Tacke, VS Verlag 2008, S. 205–219.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Philip Selznick, leading scholar in sociology and law, dies at 91.
  2. Richard Scott: Institutions and Organizations, 2nd ed., Sage 2001: S. 17.
  3. a b c Giuseppe Bonazzi: Geschichte des organisatorischen Denkens, hg. Veronika Tacke, VS Verlag 2008: S. 206.
  4. Alvin W. Gouldner: Metaphysical Pathos and the Theory of Bureaucracy, In: American Political Science Review 1955, Vol. 49, S. 496–507.
  5. Roger Cotterell: Selznick Interviewed: Philip Selznick in Conversation with Roger Cotterell, In: Journal of Law and Society Vol. 31, No. 3 2004: S. 292.
  6. Alfred Kieser, Mark Ebers: Organisationstheorien, Kohlhammer 2006: 6. Auflage, S. 90.
  7. Richard Scott: Institutions and Organizations, 2nd ed., Sage 2001: S. 19.
  8. Charles Perrow: The Analysis of Goals in Complex Organizations, In: American Sociological Review Vol. 26, No. 6 1961: S. 854–66.
  9. Mayer N. Zald, Patricia Denton: From Evangelism to General Service: The Transformation of the YMCA, In: Administrative Science Quarterly Vol. 8, No. 2 1963: S. 214–34.
  10. Burton R. Clark: The Open Door College: A Case Study, McGraw-Hill 1960.
  11. Joseph R. Gusfield: Social Structure and Moral Reform: A Study of the Woman's Christian Temperance Union, In: American Journal of Sociology Vol. 61, No. 3 1955: S. 221–32.
  12. Philip Selznick: TVA and the Grass Roots: A Study in the Sociology of Formal Organization. Harper & Row 1966: S. 13.
  13. Giuseppe Bonazzi: Geschichte des organisatorischen Denkens, hg. Veronika Tacke, VS Verlag 2008: S. 209 f.
  14. Philip Selznick: Foundations of the Theory of Organization. In: American Sociological Review 1948, Vol. 13 No. 1, S. 29.
  15. Giuseppe Bonazzi: Geschichte des organisatorischen Denkens, hg. Veronika Tacke, VS Verlag 2008: S. 213.
  16. Giuseppe Bonazzi: Geschichte des organisatorischen Denkens, hg. Veronika Tacke, VS Verlag 2008: S. 216 f.
  17. Philip Selznick: Institutionalism "Old" and "New". In: ASQ 41, S. 271.
  18. Center for the Study of Law & Society (Memento des Originals vom 14. August 2009 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.law.berkeley.edu, abgerufen am 22. Juli 2009.