Performativität
Performativität ist ein Begriff der Sprechakttheorie und bezeichnet einen besonderen Zusammenhang zwischen Sprechen und Handeln. Bestimmte Äußerungen beschreiben somit nicht nur etwas, sondern vollziehen durch ihr Aussprechen selbst eine Handlung (etwa ein Versprechen geben oder jemanden trauen).
Der normale Zusammenhang zwischen Sprechen und Handeln wird als Sprechhandlung bezeichnet; damit wird betont, dass „Sprechen“ eine absichtliche, regelgeleitete Tätigkeit ist. Performativ ist eine Äußerung, wenn sie durch das Sagen selbst eine konventionell anerkannte Handlung vollzieht (z. B. „Ich verspreche …“, „Hiermit erkläre ich …“). Worte können somit unter passenden Umständen „etwas gelten machen“. Ob das gelingt, hängt von Verfahren, Autorität und Situation ab.
Begriffsprägung und Weiterentwicklungen
Der Begriff Performativität wurde von John Langshaw Austin geprägt und erfährt in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedliche Deutungen. Bereits bei Austin bezeichnet „performativ“ nicht bloß ein Begleithandeln, sondern eine Handlung im Medium der Äußerung selbst, deren Gelingen an sogenannte Felicity-Bedingungen (geeigneter Anlass, korrektes Verfahren, zuständige Autorität und Aufnahme/Uptake durch das Gegenüber) gebunden ist; Misslingen zeigt sich als misfire oder abuse.[1] Mit „Uptake“ ist gemeint, dass die Adressierten die Äußerung als das erkennen, was sie sein soll (etwa als Versprechen oder Warnung).
Seit den 1980er/1990er-Jahren wurde Performativität über die Sprachphilosophie hinaus material-, körper- und institutionsbezogen gedacht: Wiederholungen und Zitierketten (Derrida), verkörperte Routinen (Butler), autorisierte Sprecherpositionen (Bourdieu) sowie Geräte, Modelle und Inskriptionen (Latour, Mol, Callon, MacKenzie) prägen die Bedingungen gelingender Akte – und können sie zugleich verfehlen.[2][3][4][5][6][7] Damit rückt ins Zentrum, wie soziale Regeln, Körperpraktiken und materielle Arrangements zusammenwirken, damit eine Äußerung „zählt“.
Sprachphilosophischer Ansatz
Performative Äußerungen sind nach Austin Fälle, in denen mit dem Satz selbst ein illokutionärer Akt vollzogen wird; ausführlich entfaltet in How to Do Things with Words (1962). „Illokutionär“ meint den handlungsbezogenen Aspekt einer Äußerung (z. B. versprechen, befehlen, taufen), im Unterschied zum bloßen Laut-/Wortvollzug (lokutionär) oder zu beabsichtigten Wirkungen wie Überzeugen (perlokutionär).
Beispiele:
- „Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau“ (geäußert von einem Standesbeamten, um zwei Menschen zu verheiraten, 'explizites' Performativum);
- „Ich befehle dir, die Tür zu schließen!“ (geäußert, um etwas zu befehlen, 'explizites' Performativum);
- „Ich warne dich, der Stier kommt!“ (geäußert, um jemanden zu warnen, 'explizites' Performativum);
- „Der Stier kommt!“ (geäußert, um jemanden zu warnen);
- „Hau ab!“ (geäußert, um jemanden aufzufordern, zu gehen).
Die gleichen Wörter können je nach Situation performativ sein oder nicht: „Der Stier kommt!“ ist eine Warnung, wenn es um rechtzeitiges Weglaufen geht, hingegen eine Feststellung, wenn bloß berichtet wird.
Austin unterscheidet zunächst „konstative“ und „performative“ Äußerungen; im Verlauf der Vorlesungen verwirft er diesen strengen Gegensatz und betont, dass jeweils „der gesamte Sprechakt in der gesamten Redesituation“ zu betrachten ist (Vorlesung 12). Die frühe Gegenüberstellung weicht einer allgemeinen Theorie lokutionärer und illokutionärer Akte; Feststellungen sind nur eine Klasse unter vielen (neben Warnen, Urteilen, Beschreiben u. a.).
Austins Theorie wurde von John Searle weitergeführt. Searle bietet eine Taxonomie illokutionärer Akte (Assertiva, Direktiva, Kommissiva, Expressiva, Deklarativa) und unterscheidet regulative von konstitutiven Regeln: Letztere stiften die Praxis (z. B. Schach, Ehe) und bestimmen damit die Bedingungen von Performativität.[8]
Derrida verschiebt den Fokus von Felicity auf Iterabilität: Äußerungen wirken, weil sie zitierbar und kontextverschieblich sind; eben diese Wiederholbarkeit untergräbt den Anspruch, Kontext und Absicht eindeutig festzuschreiben.[9] Damit erklärt sich, warum performative Formeln („Hiermit …“) funktionieren, obwohl sie in immer neuen Situationen wiederholt werden.
Rae Langton zeigt, dass Performativität auch negativ betroffen sein kann: Machtverhältnisse erzeugen „illokutionäre Disablement“ – manche Sprecher:innen können eine Weigerung nicht zur Geltung bringen, obwohl sie die „richtigen Worte“ sagen; die Uptake wird strukturell verweigert.[10]
Literaturwissenschaftlicher Ansatz
In der Literaturtheorie erscheint Performativität häufig als Gegenbegriff zur écriture (Schrift): Performative Akte sind an Körper und Ereignisse gebunden, während écriture als entkörperlichte Schriftpraxis gefasst wird. Dies verknüpft sich mit Debatten um die „Durchstreichung des Subjekts“ und den Tod des Autors bei Roland Barthes. Texte „tun“ somit ebenfalls etwas – sie schaffen Gattungen, Adressverhältnisse und Rollen; solche Handlungen der Texte lassen sich als performativ beschreiben.
Aus performativitätstheoretischer Sicht interessiert, wie Texte Handlungen vollziehen (z. B. Gattungszuweisungen) und wie Zitierpraktiken Bedeutungen stabilisieren oder verschieben – eine Perspektive, die Derridas Iterabilitätsargument mit kulturwissenschaftlichen Performanzbegriffen verbindet.[11]
Kultur- und geschichtswissenschaftlicher Ansatz
Jan Assmann sieht zwischen narrativer und historischer Wahrheit eine dritte Kategorie der performativen Wahrheit. So sind seiner Auffassung nach z. B. die Figur Moses und das Ereignis des Exodus in der Tora nach heutigem wissenschaftlichen Konsens fiktiv. Trotzdem stellten sie insofern Wirklichkeit her, indem sie den Israeliten halfen, ihre kulturelle Identität zu begründen und mythomotorisch zu erhalten.[12] „Mythomotorisch“ meint hier: Mythen stiften Orientierung und stoßen Handlungen an, die soziale Wirklichkeit stabilisieren.
Bourdieu verbindet Sprachakte mit symbolischer Macht: Damit ein performativer Akt zählt, braucht es nicht nur die „richtigen Worte“, sondern auch eine legitime Sprecherposition und ein anerkennendes Publikum im jeweiligen sozialen Feld („autorisiertes Sprechen“). Institutionen verteilen diese Berechtigungen – und damit die Chancen gelingender Performativität – ungleich.[13]
Geschlechtertheorie und Identitätsbildung
Judith Butler versteht Geschlecht als Ergebnis regulierter Wiederholungen: Durch Zeichen, Gesten und Sprechakte wird Identität als „weiblich“ oder „männlich“ hervorgebracht. Der Ausruf der Hebamme „Ein Mädchen!“ ist nicht nur eine Feststellung, sondern auch ein direktiver Sprechakt („Werde ein Mädchen!“), der Praktiken und Erwartungen in Gang setzt.[14] Entscheidend ist die Wiederholbarkeit: Gerade weil die Muster eingeübt und zitiert werden, können abweichende Wiederholungen Normen irritieren und verändern.
Theaterwissenschaftlicher Ansatz
Im theaterwissenschaftlichen Performativitätsdiskurs, wie ihn Erika Fischer-Lichte geprägt hat, wird die Besonderheit von Aufführungen auf die gleichzeitige körperliche Anwesenheit von Darstellenden und Zuschauenden zurückgeführt, in der die Aufführung in wechselseitiger Beeinflussung entsteht. Die Wirkung der Aufführung ergibt sich damit nicht allein aus einem Text, sondern aus einem Ereignis, das nur im Vollzug existiert.
Praxeologische und material-semiotische Erweiterungen
In der Wissenschafts- und Technikforschung (STS) wird Performativität als Wirkmacht von Inskriptionen, Artefakten und Arrangements gefasst. Bei Latour „zeichnen“ Laborgeräte, Tabellen, Pläne und Akten Dinge zusammen: Durch Visualisierung und Verschriftlichung entstehen „immutable mobiles“, die Befunde stabilisieren, transportieren und sammelbar machen – eine Bedingung dafür, dass Aussagen wirksam werden.[15] Kurzum: Diagramme und Tabellen machen Sachverhalte handhabbar und entscheidungsfähig – so „wirken“ sie mit.
Mol spricht von „ontologischer Politik“: Praktiken machen (enacten) die Dinge, auf die sie sich beziehen, und bringen mehrfache Realitäten hervor (z. B. Anämie als klinischer Befund, als Laborwert, als Pathophysiologie). Performativität heißt hier: Wirklichkeit wird in Verfahren und Geräten hergestellt, umkämpft und koordiniert.[16]
Callon formuliert für die Ökonomie, dass Theorien Märkte mit-hervorbringen: Modelle „framen“ Handlungsräume, definieren Relevanzen und formen Geräte, Verträge, Metriken und Rollen – bis hin zu Überläufen (overflowings), wenn Praktiken den gesetzten Rahmen sprengen.[17] Wirtschaftstheorien sind daher nicht nur Beschreibungen, sie verändern auch das, was sie beschreiben.
MacKenzie und Millo zeigen am Beispiel der Chicago Board Options Exchange, wie die Black-Scholes-Formel performativ wurde: Erst durch Institutionen (Listing, Clearing), Geräte (Sheets, Terminals) und Kompetenzen (Arbitrage, Hedging) wurde sie zur Handlungsanleitung. Zugleich gibt es Gegen-Performativität (counterperformativity), wenn Modellnutzung Dynamiken erzeugt, die die Modellpassung untergraben.[18] Wenn viele nach einem Modell handeln, kann genau das die Wirklichkeit so verändern, dass das Modell schlechter anwendbar ist.
Siehe auch
- Performanz (Sprechakttheorie)
- performativer Widerspruch
Literatur
- Austin, John L. (1962): How to Do Things with Words (dt. Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972).
- Bachmann-Medick, Doris (2009): Performative Turn, in: D.B.-M.: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 3. neu bearb. Aufl. Reinbek: Rowohlt, S. 104–143.
- Butler, Judith (1997): Excitable Speech: A Politics of the Performative (dt. Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998).
- Derrida, Jacques (1988): Signatur Ereignis Kontext, in: Engelmann, Peter (Hrsg.): Randgänge der Philosophie, Wien 1988.
- Dörge, Friedrich Christoph (2013): Performative Utterances, in: Sbisà, Marina, Ken Turner (Hrsg.): Pragmatics of Speech Actions, Berlin: de Gruyter Mouton, S. 203–256.
- Fischer-Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hrsg., 2001): Theorien des Performativen (Paragrana Bd. 10/1).
- Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
- Fischer-Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hrsg., 2004): Praktiken des Performativen (Paragrana Bd. 13/1).
- Fischer-Lichte, Erika (2012): Performativität. Eine Einführung, Bielefeld: transcript. ISBN 978-3-8376-1178-6.
- Hempfer, Klaus/Volbers, Jörg (Hrsg., 2011): Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme. Bielefeld: transcript.
- Rolf, Eckard: Der andere Austin: Zur Rekonstruktion/Dekonstruktion performativer Äußerungen – von Searle über Derrida zu Cavell und darüber hinaus (Broschiert), Bielefeld: transcript, 2009, ISBN 3-8376-1163-9.
- Schulze, Detlef Georgia / Sabine Berghahn / Frieder Otto Wolf (Hrsg.) (2006), Politisierung und Ent-Politisierung als performative Praxis (StaR P. Neue Analysen zu Staat, Recht und Politik. Serie A. Bd. 1), Westfälisches Dampfboot: Münster.
- Volbers, Jörg (2014): Performative Kultur. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS.
- Wirth, Uwe (Hg., 2002): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002.
Weblinks
- http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php?sp=4 – Performativität
- Glossar Geschlechterforschung ( vom 29. Mai 2009 im Internet Archive)
- Homepage des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ ( vom 15. Juli 2006 im Internet Archive)
Einzelnachweise
- ↑ Austin, J. L. (1956): „Performative Utterances“, Proceedings of the Aristotelian Society.
- ↑ Derrida, J. (1977): „Signature Event Context“.
- ↑ Butler, J. (1988): „Performative Acts and Gender Constitution“, Theatre Journal.
- ↑ Bourdieu, P. (1991): „Authorized Language“, in: Language and Symbolic Power.
- ↑ Latour, B. (1986): „Visualisation and Cognition: Drawing Things Together“.
- ↑ Mol, A. (1999): „Ontological Politics“; Callon, M. (2007): „What Does It Mean to Say that Economics Is Performative?“.
- ↑ MacKenzie, D./Millo, Y. (2003): „Constructing a Market, Performing Theory“.
- ↑ Searle, J. R. (1975): „A Taxonomy of Illocutionary Acts“, in: Language, Mind, and Knowledge.
- ↑ Derrida, J. (1977): „Signature Event Context“.
- ↑ Langton, R. (1993): „Speech Acts and Unspeakable Acts“, Philosophy & Public Affairs.
- ↑ Derrida, J. (1977): „Signature Event Context“.
- ↑ Jan Assmann: Exodus: Die Revolution der Alten Welt. 1. Auflage. C.H.Beck, 2015, ISBN 978-3-406-67430-3, S. 389 f.
- ↑ Bourdieu, P. (1991): „Authorized Language“, in: Language and Symbolic Power.
- ↑ Butler, J. (1988): „Performative Acts and Gender Constitution“, Theatre Journal.
- ↑ Latour, B. (1986): „Visualisation and Cognition: Drawing Things Together“.
- ↑ Mol, A. (1999): „Ontological Politics. A Word and Some Questions“, The Sociological Review.
- ↑ Callon, M. (2007): „What Does It Mean to Say that Economics Is Performative?“, Do Economists Make Markets? (CSI Working Paper 005).
- ↑ MacKenzie, D./Millo, Y. (2003): „Constructing a Market, Performing Theory“, American Journal of Sociology 109(1).
Auf dieser Seite verwendete Medien
(c) Bundesarchiv, Bild 183-31492-0004 / CC-BY-SA 3.0

Zentralbild/Weiß 2.7.1955 Feierliche Eröffnung der Berliner Tierparks Am 2. Juli 1955 wurde in Anwesenheit des Präsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, Wilhelm Pieck, und des Oberbürgermeisters von Groß-Berlin, Friedrich Ebert, der erste Teilabschnitt des neuen Tierparks in Berlin-Friedrichsfelde mit einer Fläche von 60 ha eröffnet. Viele Berliner hatten sich eingefunden um dem festlichen Ereignis beizuwohnen. UBz.: Präsident Wilhelm Pieck bei der symbolischen Eröffnung des Tierparks. (Rechts) Oberbürgermeister Friedrich Ebert und (im Hintergrund, Mitte) Dr. Dathe, der Direktor des Tierparks.
Abgebildete Personen:
- Pieck, Wilhelm: Präsident, Politbüro der SED, Vorsitzender der KPD, DDR (GND 118594273)
- Ebert, Friedrich: Oberbürgermeister von Berlin, DDR (GND 118687573)