Online Disinhibition Effect

Der Online Disinhibition Effect (deutsch ‚Online-Enthemmungseffekt‘) bezeichnet in der Psychologie einen Verlust an Selbstbeherrschung in der schriftlichen Kommunikation im Internet.[1] Die Online-Kommunikation ist ungehemmt.[1]

Eigenschaften

Während manche Menschen in der schriftlichen Kommunikation im Internet zu verstärkter Empathie neigen (benigne Disinhibition), treten im Gegensatz dazu bei manchen anderen Menschen vermehrt Sarkasmus, grobe Ausdrucksweise, unverhohlene Kritik, Hasskommentare, Respektlosigkeit, Mangel an Empathie und Cyber-Mobbing auf (toxische Disinhibition).[2] Oftmals sind diese Reaktionen unprovoziert und unberechtigt.[2]

Ursachen

Die Online-Disinhibition beruht auf verschiedenen Faktoren:

  • Die Anonymität im Internet ermöglicht die Verwendung einer alternativen Identität, wie zum Beispiel eines Pseudonyms. Diese Form der dissoziativen Anonymität ermöglicht eine Loslösung von den Moralvorstellungen ihrer Identität im Alltag.[2] Es kann zudem im Internet zur Schaffung eines Avatars kommen, der noch weiter von der sonstigen Persönlichkeit losgelöst ist (dissoziative Imagination).[1] Ebenso wird der angeschriebene Diskussionsteilnehmer weniger als Person, sondern mehr als Avatar wahrgenommen, was die Empathie senken kann.[2]
  • Die Kommunikation erfolgt asynchron.[2] Eine Antwort muss nicht umgehend erfolgen und auch die Auswirkungen von Online-Sanktionierungen können teilweise durch Abwesenheit vermieden werden.[2]
  • Die physische Unsichtbarkeit der Person führt zum Fehlen der nonverbalen Kommunikation, wie Mimik, Gestik und Intonation sowie zum Fehlen einer sichtbaren Reaktion des Gegenübers.[2] Dies kann die Empathie verringern.[3] Zudem wird in der eigenen Vorstellung ein Bild und eine Stimme des Gegenübers erzeugt, die von einem selbst stammt (solipsistische Introjektion).[1]
  • Die zunehmende Verwendung von Technologie und Medien im Alltag kann die Empathie verringern.[2]
  • Im Internet besteht eine Minimierung von Status und Autorität, denn beide sind zunächst nicht erkennbar, woraus eine Enthemmung in der Kommunikation folgen kann.[1]

Die Persönlichkeit der Kommunizierenden hat einen Einfluss auf die Online-Kommunikation.[1] Während extravertierte und theatralische (histrionische) Menschen tendenziell offen und emotional sind, unterliegen zwanghafte Personen tendenziell einer stärkeren Zurückhaltung.[1] Ebenso haben der kulturelle und soziale Hintergrund, der Bildungsgrad, das Alter und das Geschlecht einen Einfluss auf die Online-Disinhibition.[4]

Benigne und toxische Online-Disinhibition

Benigne Online-Disinhibition beschreibt Situationen, in denen Menschen von der fehlenden Zurückhaltung im Internet profitieren.[1] Mit Hilfe der Internet-Anonymität könnten Menschen persönliche Gefühle teilen oder sich so offenbaren, wie sie es im realen Leben nicht tun wollen.[5][6] So fühlen sich junge Menschen erleichtert, wenn sie in Online-Chats unausgesprochene Geheimnisse oder persönlich peinliche Details preisgeben.[7] Solche Selbstenthüllungen ermöglichen es Menschen, schneller[8] und stärker eine intime zwischenmenschliche Beziehung aufzubauen, als sie dies in der realen Welt von Angesicht zu Angesicht tun würden.[9] Die Vertrautheit mit dem verwendeten Medium (PC und Website) senkt zudem die Hemmschwelle zu Äußerungen Fremden gegenüber.[10] Weitere positive Effekte der benignen Online-Disinhibition umfassen das Beraten von Unbekannten, Freiwilligenarbeit, das Mitteilen von Emotionen, philanthropisches Verhalten und emotionale Unterstützung.[11] Der Online-Disinhibitionseffekt bietet auch Menschen, die nicht bereit sind, in der realen Welt zu kommunizieren, wie z. B. Menschen, die introvertiert, schüchtern, sozialphobisch und Menschen mit Stottern oder Hörschäden sind, die Möglichkeit, sich auszudrücken.

Eine andere Art der Online-Disinhibition wird als toxische Disinhibition bezeichnet, die oft feindselige Sprache, Fluchen und sogar Bedrohungen,[1] sowie verstärktes Ausleben von Ärger, Diffamierung, emotionale Erpressung, Online-Flaming, Störung der Kommunikation, Ausgeben als eine andere Person, Flutung mit Kommentaren und Sabotage enthält.[11] Die toxische Online-Disinhibition beschreibt die negative Auswirkung des Hemmungsverlusts im Internet. Die dadurch verursachten antisozialen Verhaltensweisen treten nicht nur auf verschiedenen Online-Plattformen wie Blogs, Hassseiten und Kommentarsektionen auf, sondern existieren auch in verschiedenen Formen, die zum Beispiel Cyber-Mobbing und soziales Faulenzen beinhalten.[5] Eine Häufung von toxischer Online-Disinhibition wurde im Gaming-Bereich beschrieben,[4] wo diejenigen, die toxische Online-Disinhibition ausleben, als Hater (englisch für Hasser) bezeichnet werden.[12] Die Online-Disinhibition ist eine der Ursachen für die Entstehung von Trollen im Internet.[13][14]

Allerdings ist die Unterscheidung zwischen benigner und toxischer Online-Disinhibition nicht immer klar. Zum Beispiel kann ein feindseliges Wort im Online-Chat das Selbstbild des Anderen schädigen, andererseits kann es aber auch ein therapeutischer Durchbruch für den äußernden Menschen sein. In Anbetracht der verschiedenen Subkulturen von Online-Gemeinschaften können Menschen unterschiedliche Toleranz gegenüber einem bestimmten Sozialverhalten haben.[1] Insbesondere unter Studierenden wurde eine Korrelation von Online-Disinhibition und Internetabhängigkeit beschrieben.[15][16] Zudem besteht eine Korrelation zwischen der Beobachtung von Online-Disinhibition und dem späteren Ausüben von Online-Hass, weshalb eine frühzeitige Intervention empfohlen wird.[17][18]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c d e f g h i j J. Suler: The online disinhibition effect. In: Cyberpsychology & behavior : the impact of the Internet, multimedia and virtual reality on behavior and society. Band 7, Nummer 3, Juni 2004, S. 321–326, doi:10.1089/1094931041291295, PMID 15257832.
  2. a b c d e f g h C. Terry, J. Cain: The Emerging Issue of Digital Empathy. In: American Journal of Pharmaceutical Education. Band 80, Nummer 4, Mai 2016, S. 58, doi:10.5688/ajpe80458, PMID 27293225, PMC 4891856 (freier Volltext).
  3. Nafsika Antoniadou, Constantinos M. Kokkinos, Angelos Markos: Possible common correlates between bullying and cyber-bullying among adolescents. In: Psicologia Educativa. 22, 2016, S. 27, doi:10.1016/j.pse.2016.01.003.
  4. a b B. J. Voggeser, R. K. Singh, A. S. Göritz: Self-control in Online Discussions: Disinhibited Online Behavior as a Failure to Recognize Social Cues. In: Frontiers in psychology. Band 8, 2017, S. 2372, doi:10.3389/fpsyg.2017.02372, PMID 29375457, PMC 5768638 (freier Volltext).
  5. a b Noam Lapidot-Lefler, Azy Barak: Effects of anonymity, invisibility, and lack of eye-contact on toxic online disinhibition. In: Computers in Human Behavior, Band 28, Heft 2, März 2012, S. 434–443.
  6. Yair Amichai-Hamburger: The Social Net. ISBN 978-0-199-63954-0. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  7. K. Magsamen-Conrad, C. Billotte-Verhoff, K. Greene: Technology addiction's contribution to mental wellbeing: The positive effect of online social capital. In: Computers in human behavior. Band 40, November 2014, S. 23–30, doi:10.1016/j.chb.2014.07.014, PMID 25568591, PMC 4283587 (freier Volltext).
  8. K. Davis: Friendship 2.0: adolescents' experiences of belonging and self-disclosure online. In: Journal of adolescence. Band 35, Nummer 6, Dezember 2012, S. 1527–1536, doi:10.1016/j.adolescence.2012.02.013, PMID 22475444.
  9. Noam Lapidot-Lefler, Azy Barak: The benign online disinhibition effect: Could situational factors induce self-disclosure and prosocial behaviors?. In: Cyberpsychology: Journal of Psychosocial Research on Cyberspace. 9, Nr. 2, 1. Juli 2015, ISSN 1802-7962. doi:10.5817/cp2015-2-3.
  10. Jane Evans: Online Counselling and Guidance Skills. ISBN 978-1-446-24424-1, S. 71 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  11. a b Azy Barak: Psychological Aspects of Cyberspace. ISBN 0521873010, S. 135 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  12. Lisa Dawley: The Tools for Successful Online Teaching. ISBN 1591409578 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  13. Carrie Goldberg: Nobody's Victim. ISBN 978-0-349-01051-9, S. 260 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  14. Irene Connolly, Marion Palmer, Hannah Barton, Gráinne Kirwan: An Introduction to Cyberpsychology. ISBN 978-1-317-58452-0, S. 59 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  15. J. Morahan-Martin, P. Schumacher: Incidence and correlates of pathological Internet use among college students. In: Computers in Human Behavior. 16, Nr. 1, 31. Januar 2000, ISSN 0747-5632, S. 13–29. doi:10.1016/S0747-5632(99)00049-7.
  16. Katie Niemz, Mark Griffiths, Phil Banyard: Prevalence of Pathological Internet Use among University Students and Correlations with Self-Esteem, the General Health Questionnaire (GHQ), and Disinhibition. In: CyberPsychology & Behavior. 8, Nr. 6, 1. Dezember 2005, ISSN 1094-9313, S. 562–570. doi:10.1089/cpb.2005.8.562. PMID 16332167.
  17. S. Wachs, M. F. Wright: Associations between Bystanders and Perpetrators of Online Hate: The Moderating Role of Toxic Online Disinhibition. In: International Journal of Environmental Research and Public Health. Band 15, Nummer 9, 09 2018, S. , doi:10.3390/ijerph15092030, PMID 30227666, PMC 6163978 (freier Volltext).
  18. S. Wachs, M. F. Wright, A. T. Vazsonyi: Understanding the overlap between cyberbullying and cyberhate perpetration: Moderating effects of toxic online disinhibition. In: Criminal behaviour and mental health : CBMH. Band 29, Nummer 3, Juni 2019, S. 179–188, doi:10.1002/cbm.2116, PMID 31274229.