Objektivismus

Objektivismus bezeichnet weltanschaulich oder ideologisch bestimmte Positionen der vermeintlichen Gewinnung von Erkenntnis in der Philosophie wie auch in Fächern wie z. B. Psychologie oder Psychiatrie, die teilweise geistes- oder sozialwissenschaftlich bestimmt sind, vgl. → -ismus. Diese Positionen unerlaubter Vergegenständlichung trennen Wahrheits- und Geltungsbedingungen hinsichtlich der Eigenschaften ausgewählter Objekte von den Zuständen des urteilenden Subjekts ab. Indem von solchen subjektiven Bezügen abstrahiert wird, können vermeintlich objektive Annahmen ideologisch verbrämt werden.[1](a) Wenn man von der These Schopenhauers ausgeht, dass Subjekt und Objekt eine untrennbare Einheit bilden und somit nicht von Positionen einer grundsätzlichen Subjekt-Objekt-Spaltung bestimmt sein sollen, so stellt Objektivismus den Gegenbegriff zum Subjektivismus dar.[1](b) Die fehlende Einheit wird damit zum Gegenstand der Ideologiekritik und unberechtigter Hypostasierung.

Transzendentalphilosophie

Die funktionelle Einheit von Subjekt und Objekt im Sinne des Gewinnens von Erkenntnis wurde insbesondere von Immanuel Kant (1724–1804) betont. In seinem System der Vernunft (KrV B 766) und der Lehre vom Ding an sich[2](a) wird diese Einheit immer wieder hervorgehoben, vgl. a. → Kopernikanische Wende[2](b), Grundrelation[2](c) und Kritizismus[2](d).

Das durch den Kantschen Kritizismus bestimmte Verfahren des Erkenntnisgewinns geht vom Einnehmen einer mittleren Stellung zwischen Rationalismus und Sensualismus aus. Das Einhalten dieser mittleren Stellung ist nach Schischkoff hinsichtlich der Abgrenzung zwischen einem subjektivistischen und einem objektivistischen Rationalismus von Bedeutung. Die Ansätze zu einem objektivistischen Rationalismus seien im Altertum zu suchen, während sich der subjektivistische Rationalismus in den Denkern des 17. Und 18. Jahrhunderts Ausdruck verschaffte wie etwa Descartes, Spinoza und Leibniz.[2](e).

Existenzphilosophie

Jean-Paul Sartre (1905–1980) beschreibt die Faktizität als eingespannt in die körperlich-seelische Korrelation. Er bezieht sich auf Descartes: „Die Seele ist der Erkenntnis eher zugeneigt als der Körper.“ (L’âme est plus aisée à connaître que le corps.)[3](a) Die körperlich-seelische Beziehung ist die Erfahrung eines „In-der Welt-Seins“ bzw. einer Eigenwelt. Reine Objektivität gibt es demnach nicht. Sie ist als absolute Objektivität[3](b) auch durch die modernen Naturwissenschaften in Frage gestellt worden. Das von Werner Heisenberg (1901–1976) entwickelte Unschärfeprinzip bestätigt weder den subjektiven noch den objektiven Determinismus noch schließt es beide aus. Es stellt aber eine Beziehung zwischen dem subjektiven Beobachter und den Dingen mit ihrem Ort in der Welt her.[3](c)

Welle-Teilchen-Dualismus

In der klassischen Physik können zwei verschiedene Eigenschaften eines Körpers wie Impuls und Ort veranschaulicht werden. In der Mikrophysik sind sie messtechnisch grundsätzlich nicht genügend deutlich voneinander abgegrenzbar. Das hat Auswirkungen auf die Modelle in der subjektiven Vorstellung eines jeden Menschen, der gewohnt ist, in herkömmlich unterschiedlichen Anschauungen von Raum und Zeit (nach Kant) zu denken oder in entsprechenden Kategorien (nach Aristoteles). Der neue subjektive Vorstellungscharakter nach Heisenbergs Forschungen beruht auf den wie gewohnt unterschiedlichen Anschauungen von Welle (immaterielle Fortpflanzung von Energie wie Licht im leeren Raum) und Materie oder Teilchen (Energieausbreitung ähnlich dem Wasserstrahl durch Materieteilchen). Beide Anschauungen verschwimmen allerdings ineinander, wenn man bestimmte Eigenschaften von Lichtstrahlen betrachtet, wie etwa die Beugung am Gitter, die sich anhand des Wellencharakters des Lichts verstehen lassen oder des Photoeffekts, der die Teilchentheorie des Lichts hervorbrachte, angestoßen durch die Arbeiten von Philipp Lenard (1862–1947), Max Planck (1858–1947) und Albert Einstein (1879–1955).[4](a) Der Begriff der Materiewellen zeigt jedoch, dass beide Theorien miteinander zu kombinieren bzw. in Relation zu bringen sind.[4](b)

Gegenposition

Hans-Georg Gadamer (1900–2002) stellt dem physikalischen Dualismus die gesellschaftliche Prägung als eine weitere Realität gegenüber,

„Es trifft zwar zu, daß in der heutigen Wissenschaft – zum Beispiel in der Quantenmechanik – das messende Subjekt eine andere Rolle spielt als die des reinen objektivierenden Beobachters. Doch dort ist das etwas völlig anderes, als im Strom der Tradition zu stehen, bedingt zu sein und aus der eigenen Bedingtheit heraus den anderen und seine Ansichten als solche zu kennen. Diese Dialektik betrifft nicht nur die kulturelle Überlieferung, d. h. die Philosophie, sondern auch moralische Fragen. Auch hier haben wir es in der Tat nicht mit dem Experten zu tun, der von außen die Normen »objektiv« erforscht, sondern mit einem schon von diesen Normen geprägten Menschen: einem Menschen, der sich bereits im Rahmen seiner Gesellschaft, seiner Epoche, seines Vorurteilszusammenhangs, seiner Welterfahrung befindet.“

Hans-Georg Gadamer: Der Anfang der Philosophie, Ph. Reclam jun., Stuttgart, 1996, ISBN 3-15-009495-X; S. 36

Psychiatrie

Das Krankheitskonzept der Funktionspsychosen berücksichtigt eher als das der endogenen Psychosen die individuellen Gegebenheiten eines Menschen und unterscheidet sich daher von dem ausschließlich auf körperlicher Begründbarkeit von Krankheiten beruhenden Krankheitskonzept, wie es Kurt Schneider (1887–1967) gefordert hat. Hierbei spielen Faktoren der Feldtheorie und damit der Eigenwelt eines Patienten eine Rolle, wie sie u. a. von Kurt Lewin (1890–1947) beschrieben wurden.[5][3](d)

Geht man etwa vom Begriff der Funktionspsychose aus, so können auch ganz andere psychiatrische Krankheitskonzepte als ähnliche Modellvorstellungen betrachtet werden, so wie vorstehende physikalische Anschauungen in → Kap. Welle-Teilchen-Dualismus. Es stellt sich damit die Frage nach interdisziplinären Betrachtungsweisen, wie sie von der Systemtheorie gefordert wird. Sie geht davon aus, dass dem System ein inneres Ordnungsprinzip auferlegt wird, das ggf. von geistesgeschichtlich wechselhaften Strömungen oder uneingestandenen subjektiven Annahmen bestimmt sein kann. Als solches Ordnungsprinzip weist es häufig selbstreferentielle Züge auf. Damit kann es auch zu objektivistischen und deterministischen Herangehensweisen kommen, indem Noumena („Wirklichkeiten 2. Ordnung“)[6](a) als Phänomena gewertet werden und diese Phänomene ggf. sodann mit ihrer Erklärung und Interpretation gleichgesetzt werden. Dies führe häufig zu objektivistischer Betrachtung.[6](b) Bereits Martin Heidegger (1889–1976) hat vor solchen Missverständnissen gewarnt, indem er von „Krankheitserscheinungen“ sprach. Diese dürfen nicht unbedingt als Phänomene im Sinne der sich offenbarenden Wirklichkeit missverstanden werden, „sondern das Sichmelden von etwas, das sich nicht zeigt“.[7]

Auch Fritz B. Simon (* 1948) hat anhand des bezeichnenden Buchtitels „Meine Psychose, mein Fahrrad und ich“ etwas Ähnliches gemeint. Bereits der Sprachgebrauch, dass jemand eine Krankheit „habe“, lasse darauf schließen, dass diese verbreitete Krankheitsvorstellung sich eines Besitzdenkens bediene. Man könne also als Helfer eine Krankheit auch wegnehmen wie ein Fahrrad.[8]

Dualismus in der Medizin

Vorstehendes Beispiel vom Fahrrad verdeutlicht die Schwierigkeiten einer Zuordnung eigener körperlicher und seelischer Zustände.[3](e) Das Erheben körperlicher Befunde ist an bestimmte Techniken gebunden, insofern sie sich als „Gegenstände“ der Außenwelt charakterisieren lassen und nicht etwa als eigenes Körperschema. Über technische Operationalisierungen gelingt es, immer „objektivere“, aber auch immer ausschnitthaftere Informationen zu gewinnen.[9](a) So wurden etwa über sogenannte Handschriftstests Informationen über die Indikation einer pharmakologisch bestimmten Somatotherapie gewonnen, vgl. → neuroleptische Schwelle. Diese Techniken tragen nach außen hin jedoch nicht Rechnung gegenüber den eigenen unangenehmen Zustandsgefühlen und Skrupeln der Therapeuten wegen evtl. unangemessener Überdosierung von Medikamenten, sondern verbleiben innerhalb der von ihnen angenommenen nomothetischen Rechtfertigung.[6](c) Über genau so ein „mulmiges Gefühl“ bei der Abwägung des Für-und-Wider bei der Rechtfertigung körperlicher Einwirkungen durch psychotrope Medikamente berichtet Manfred Lütz (* 1954).[10] Man kann die nomothetischen Rechtfertigungen auch als Informationen innerhalb des Maschinenparadigmas und der seelenlosen Apparatemedizin ansehen. Diese Tatsachen sind Gegenstand der Arzt-Patient-Beziehung, des Leib-Seele-Problems sowie eines medizingeschichtlich seit der Antike und Galenos (ca. 129–200 n. Chr.) entstandenen Strukturalismus in der zunehmend organmedizinisch ausgerichteten Heilkunde. Erst vorzugsweise seit der romantischen Medizin waren ganzheitliche funktionelle Zusammenhänge Gegenstand der Forschung.[11][9](b)

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. a b Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie. [1953] 25. Auflage, R. Piper, München 1986, Neuausgabe 1971, ISBN 3-492-10013-9:
    (a) S. 24 f. zu Stw. „Problembeschreibung der Grundfrage nach dem Sein und der verschiedenen ›–ismen‹ als unterschiedlicher Antworten auf diese Frage“;
    (b) S. 25 zu Stw. „Einheit von Subjekt und Objekt nach Schopenhauer“.
  2. a b c d e Heinrich Schmidt: Philosophisches Wörterbuch (= Kröners Taschenausgabe. 13). 21. Auflage, neu bearbeitet von Georgi Schischkoff. Alfred Kröner, Stuttgart 1982, ISBN 3-520-01321-5:
    (a) S. 131 zu Lemma „Ding an sich“;
    (b) S. 373 zu Lemma „Kopernikanische Wende“;
    (c) S. 250 zu Lemma „Grundrelation“;
    (d) S. 381 zu Lemma „Kritizismus“;
    (e) S. 569 zu Lemma „Rationalismus“.
  3. a b c d e Jean-Paul Sartre: L’Être et le Néant. Essai d’ontologie phénonménologique. [1943] tel Gallimard, 2007, ISBN 978-2-07-029388-9:
    (a) S. 345 ff. zu Stw. „Faktizität“;
    (b) S. 346 zu Stw. „Objektivismus (objectivité absolue, objectivité pure)“;
    (c) S. 346 f. zu Stw. „Unschärfeprinzip“;
    (d) S. 347 zu Stw. „Kurt Lewin“;
    (e) S. 342 ff. zu Stw. „Schwierigkeiten einer Zuordnung eigener körperlicher Zustände“.
  4. a b Wilhelm H. Westphal: [1948] Kleines Lehrbuch der Physik. 2. Auflage, Springer Heidelberg 1953:
    (a) S. 183 (§ 189), 204 (§ 213), 224 (§ 234), 228 (§ 238) zu Stw. „Dualistische Lichtmodelle: ›Welle-Teilchen‹“;
    (b) S. 223 ff. (§ 232–237) zu Stw. „Materiewellen“.
  5. Kurt Schneider: Klinische Psychopathologie. 11. Auflage, Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1976, ISBN 3-13-398211-7; S. 2, 7 f. zu Stw. „Postulat der körperlichen Begründbarkeit endogener Psychosen“.
  6. a b c Otto Bach: Über die Subjektabhängigkeit des Bildes von der Wirklichkeit im psychiatrischen Diagnostizieren und Therapieren. [1994] In: Psychiatrie heute, Aspekte und Perspektiven. Festschrift für Rainer Tölle. Urban & Schwarzenberg, München 1994, ISBN 3-541-17181-2:
    (a) S. 4 zu Stw. „Wirklichkeiten 2. Ordnung“
    (b) S. 2–4 zu Stw. „Objektivismus“;
    (c) S. 5 zu Stw. „Nomothetisches“.
  7. Martin Heidegger: Sein und Zeit. [1926] – 15. Auflage, Max Niemeyer-Verlag, Tübingen 1979, ISBN 3-484-70122-6; S. 29 ff. zu Stw. „Krankheitserscheinungen“.
  8. Fritz B. Simon: Meine Psychose, mein Fahrrad und ich. Zur Selbstorganisation der Verrücktheit. [1990] 10. Auflage. Auer, Heidelberg, 2004.
  9. a b Thure von Uexküll (Hrsg. u. a.): Psychosomatische Medizin. 3. Auflage. Urban & Schwarzenberg, München 1986, ISBN 3-541-08843-5:
    (a) S. 4 zu Stw. „Technik und Apparatemedizin“;
    (b) S. 3 zu Stw. „Dualismus in der Medizin“.
  10. Manfred Lütz: Irre! Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen. 3. Auflage, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2009; ISBN 978-3-579-06879-4; S. 75 f. zu Stw. „mulmiges Gefühl bei der Abwägung der Alternativen zur psychotropen Pharmakotherapie (Pharmakotherapie / Psychotherapie)“.
  11. Herbert Weiner: Psychosomatic Medicine and the Mind-Body-Problem in Psychiatry. 1984.