Normatives Tatbestandsmerkmal

Ein normatives Tatbestandsmerkmal ist im Strafrecht ein objektives Tatbestandsmerkmal, welches auslegungsbedürftig (wertausfüllungsbedürftig) ist und eine juristische oder soziale Bewertung erfordert. Ein Beispiel ist die „Fremdheit“ der beweglichen Sache in § 242, § 246 und § 249 StGB. Die inhaltliche Bestimmung dieses Merkmals folgt im vollen Umfang den Regeln des den Begriff ausfüllenden Rechtsgebiets, das sind für die Eigentumsdelikte diejenigen des Bürgerlichen Rechts. „Fremd“ im Sinne der vorgenannten Tatbestände ist daher eine Sache, die zumindest (auch) im Eigentum eines anderen steht. Hierfür ist die zivilrechtliche Lage maßgeblich.[1]

Abgrenzung

Dagegen ist das deskriptive Tatbestandsmerkmal (lat. describere = beschreiben) aus sich heraus verständlich, seine Feststellung kann also durch einfache Wahrnehmung erfolgen, ohne dass es einer rechtlichen Wertung bedarf. Beispiele sind „die Schwangere“ in § 218 StGB oder „Mensch“ in §§ 211, 212 StGB.

Ein Blankett(straf)gesetz wiederum benennt nicht selbst inhaltlich die tatbestandlichen Voraussetzungen des zu bestrafenden Verhaltens, sondern verweist insoweit auf andere Rechtsnormen, auch außerhalb des Strafrechts. Ein Beispiel ist § 315a Abs. 1 Nr. 2 StGB, wonach bestraft wird, wer „als Führer eines Schienenbahn- oder Schwebebahnfahrzeugs, ein Schiffes oder eines Luftfahrzeugs durch grob pflichtwidriges Verhalten gegen Rechtsvorschriften zur Sicherung des Schienenbahn-, Schwebebahn-, Schiffs- oder Luftverkehrs verstößt.“ Die „blankettausfüllenden Normen“ oder „Ausfüllungsgesetze“ sind hier die Rechtsvorschriften zur Sicherung des Schienenbahn-, Schwebebahn-, Schiffs- oder Luftverkehrs.[2] Die Auslegung der den Straftatbestand ausfüllenden Normen des anderen Rechtsgebiets folgt den für das Strafrecht geltenden Regeln, so dass etwa das Analogieverbot beachtlich ist und der (Gesamt-)Blanketttatbestand den verfassungsrechtlichen Anforderungen an Strafgesetze, z. B. dem Bestimmtheitsgebot, genügen muss.[3]

Bedeutung

Die Unterscheidung ist bedeutsam in der Irrtumslehre, da Irrtümer über das Vorliegen eines normativen Tatbestandsmerkmals zu einem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum führen können (§ 16 StGB).[4][5] Irrtümer über deskriptive Tatbestandsmerkmale sind als bloße Subsumtionsirrtümer dagegen für die Strafbarkeit unbeachtlich und werden allenfalls bei der Strafzumessung berücksichtigt.[6]

Der Irrtum über eine ausfüllende Norm wird nach den Regeln über den Verbotsirrtum (§ 17 StGB) behandelt.

Literatur

  • Milan Kuhli: Normative Tatbestandsmerkmale in der strafrichterlichen Rechtsanwendung. Institutionelle, rechtsverweisende und dichte Elemente im Strafrecht. Mohr Siebeck, 2018. ISBN 978-3-16-154263-3. Leseprobe.
  • Konstantina Papathanasiou: Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale: Eine Verortung der subjektiven Zurechnung innerhalb der verfassungsrechtlichen Koordinaten des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Schuldprinzips. Duncker & Humblot, Berlin 2014. ISBN 978-3-428-14201-9. Leseprobe.

Einzelnachweise

  1. Olaf Hohmann: Gedanken zur Akzessorietät des Strafrechts ZIS 2007, S. 38 ff., 40.
  2. Blankettgesetze und normative Tatbestandsmerkmale TU Dresden, ohne Jahr, abgerufen am 14. September 2020.
  3. Guido P. Ernst: Blankettstrafgesetze und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen. Springer-Verlag, Wiesbaden 2018. ISBN 978-3-658-19701-8.
  4. Peter Dyrchs: Der Tatbestandsirrtum 28. Dezember 2019.
  5. Urs Kindhäuser: Tatbestandsirrtum Universität Bonn, ohne Jahr.
  6. Übersicht über die 10 Irrtümer, die §§ 16 & 17 entstammen Freie Universität Berlin, ohne Jahr.