Niedersächsisches Wörterbuch
Das Niedersächsische Wörterbuch ist eines der großlandschaftlichen Wörterbücher des Deutschen und erfasst den Wortschatz der Dialekte der heutigen Bundesländer Niedersachsen und Bremen.
Dialektgeographisch betrifft es im niedersächsischen Dialektraum den nordniedersächsischen sowie die ostfälischen und westfälischen Dialektverbände. Die mitteldeutsche Sprachinsel im Oberharz und das Mitteldeutsche im Süden des Kreises Göttingen bleiben, wie das Ostfriesische des Saterlandes im Nordwesten des Landkreises Cloppenburg, unberücksichtigt.
Charakteristik
Das Niedersächsischen Wörterbuch ist ein alphabetisch geordnetes Bedeutungswörterbuch. Die ursprüngliche Konzeption eines der Volkstumsforschung dienenden Wörterbuchs ist seit der Wiederaufnahme der Arbeiten nach dem Krieg zugunsten einer dialektologisch-lexikologischen Konzeption aufgegeben worden. Demnach geht es jetzt um ein synchron orientiertes Dialektwörterbuch, das den dialektalen Wortschatz des Bearbeitungsgebietes von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart alphabetisch geordnet aufführt, die Bedeutungen nennt, die Verbreitung mit Angaben von allgemein bis selten angibt und grammatische Informationen mitteilt.
Eine systematische Ergänzung des Archivs ist seit Publikationsbeginn kein Wörterbuchziel mehr (wohl aber Aufgabe des aus dem Wörterbucharchiv hervorgehenden Niedersächsischen Dialektarchivs). Auf die lemmatische Berücksichtigung von Namen wird seit dem 3. Band verzichtet, in Bestandteilen von festen Wendungen und Redensarten werden sie aber vermeldet. Nach der Veränderung der Konzeption des in Münster bearbeiteten Westfälischen Wörterbuchs ist das Nds. Wb. das einzige auf Vollständigkeit in der Darstellung des dialektalen Wortschatzes im westniederdeutschen Raum abzielende Wörterbuch.
Erarbeitet wird das Niedersächsische Wörterbuch seit 1935 an der Georg-August-Universität Göttingen, seit 1973 am dortigen Institut für Historische Landesforschung.
Quellen und Materialbasis
Ergebnis von 10 Fragebogenerhebungen in rund 2.600 Orten zwischen 1935 und 1951 ist das sog. Fragebogenarchiv von etwa 1,2 Millionen Belegen. Daneben findet sich das aus gezielten Exzerptionen und freien Sammlungen entstandene sog. Zettelarchiv von etwa 1 Million Nachweisen. Damit werden ca. 150.000 niedersächsische Dialektwörter dokumentiert.
Geschichte
Die Arbeitsstelle Niedersächsisches Wörterbuch wurde am 8. Dezember 1934 gegründet. Ihre Leitung übernahm der Altgermanist und damalige Rektor der Universität, Friedrich Neumann (1890–1978). Wenig später wurde die „Geschäftsstelle“ (so die Bezeichnung der Arbeitsstelle) am Seminar für Deutsche Philologie zur „Abteilung für niedersächsische Mundartenforschung“ umgewandelt.
In den Jahren 1935–38 wurde flächendeckend im gesamten Gebiet des heutigen Niedersachsens sowie der Hansestadt Bremen (in bestimmten Fällen auch in den angrenzenden Gebieten) mit acht von H. Janßen entwickelten Fragebögen umfangreiches sprachliches Daten-Material erhoben; zurückgesandt wurden diese Bögen aus rund 2.600 Gemeinden und Orten.
Daneben erließ H. Janßen einen „Aufruf zur Mitarbeit am Niedersächsischen Wörterbuch“, mit dem Dialektwort-Material sammelnde Laien aufgefordert wurden, ihre Sammlungen der Arbeitsstelle zu geben. Geworben wurde mit Handzetteln und mit Zeitungsaufrufen, Ziel der Übernahme solcher freien Sammlungen in das Datenkorpus des Nds. Wb. war natürlich die Erhöhung der Menge der belegten Dialektwörter, mehr aber noch die Vermehrung der Kontext- oder Satzbelege sowie insbesondere der Ausgleich bestimmter Verzerrungen im Datenmaterial, die bei Erhebungen durch Fragebögen zu erwarten sind (es sind beispielsweise kaum ‘kleine Wörter’, aber auch wenig Verben im Fragebogenmaterial). Tatsächlich gingen in Göttingen zwischen 1935 und 1939 etwa 95.000 Zettel aus freien Sammlungen ein.
Zeitgleich betrieb Janßen auch die Einbindung zweier weiterer Quellengruppen in das Datenmaterial für das Niedersächsische Wörterbuch: bereits gedruckte Orts- und Regionalwörterbücher sowie jene „Bücher, Zeitschriften und Zeitungen“, die der zur Mitarbeit bereite Laie zu Hause habe oder an die er ohne Schwierigkeiten herankomme. – Die sich daraus ergebenden Probleme eines nicht klar abgegrenzten Quellenkanons liegen auf der Hand. Die trotz Anweisung für die Exzerption durchweg schlechten Ergebnisse führten schließlich dazu, dass diese Zettel später aussortiert werden mussten.
Im Dezember 1945 wurde die Leitung der Arbeitsstelle Wolfgang Jungandreas (1894–1991) übertragen. Unter Abkehr von der ursprünglichen Konzeption eines volkskundlich ausgerichteten Wörterbuches begann W. Jungandreas mit den Manuskriptarbeiten, obwohl die wichtigste Voraussetzung dafür – die systematische Ordnung des Quellenmaterials – noch nicht erfolgt war. In der verbliebenen Zeit bis zum Ausbruch des Krieges hatte H. Janßen die eingehenden Fragebögen nurmehr in eine geografische Ordnung bringen und durch Einheften in Aktenordner archivieren können. Ein systematischer Zugriff auf das in den Fragebögen enthaltene Wortmaterial war bei der bestehenden Archiv-Struktur nicht möglich; die Einarbeitung solchen Materiales erfolgte daher eher zufällig und unsystematisch.
Nach Sichtung des vorhandenen Materials wurden von W. Jungandreas zwei weitere Fragebögen entworfen. Mit weit geringerer Resonanz als in den 1930er Jahren wurde 1947 Fragebogen 9 versandt, 1949 erfolgte eine weitere, stichprobenartig durchgeführte Fragebogenerhebung (Fragebogen 10 wurde gezielt 15 ausgewählten Gewährspersonen vorgelegt).
1951 veröffentlichte W. Jungandreas die erste Lieferung des Niedersächsischen Wörterbuches, die zwei Jahre später mit einem veränderten Vorwort erneut erschien. Von 1951 bis 1954 war Hans Neumann (1903–1990) Leiter der Arbeitsstelle.
Auf den 1954 am Deutschen Seminar der Universität Göttingen geschaffenen Lehrstuhl für Niederdeutsche Sprache und Literatur wurde Heinrich Wesche (1904–1978) berufen, der zugleich auch die Leitung der Arbeitsstelle Niedersächsisches Wörterbuch übernahm.
Nach der Emeritierung H. Wesches im Jahre 1972 wurde eine organisatorische Umstrukturierung vorgenommen. Die Arbeitsstelle Niedersächsisches Wörterbuch gehört seit diesem Jahr nicht mehr zur Abteilung für Niederdeutsche Sprache und Literatur des Deutschen Seminars der Universität, sondern zum Institut für Historische Landesforschung. Nach dem Eintreten H. Wesches in den Ruhestand stand bis 1982 ein Wissenschaftlicher Beirat unter dem Vorsitz Jan Goossens (Münster) der Arbeitsstelle vor, der die fachwissenschaftliche Verantwortung trug.
1982 übernahm Dieter Stellmacher, der 1976 auf den Lehrstuhl für Niederdeutsche Sprache und Literatur berufen worden war (und seit dieser Zeit auch in unmittelbarer wissenschaftlicher Verantwortlichkeit dem Beirat angehörte), die Leitung der Arbeitsstelle Niedersächsisches Wörterbuch.
Weitere Mitarbeiter des Niedersächsischen Wörterbuchs waren und sind Hans Janßen (1935–1945), Peter Seidensticker (1955–1957), Gisbert Keseling (1957–1969), Wolfgang Kramer (1963–1998), Ulrich Scheuermann (1969–2002), Peter Wagener (1986–1990), Maik Lehmberg (ab 1999), Martin Schröder (ab 2003) und Eckhard Eggers (ab 2007).
Publikationsstand
- Publikationsbeginn 1953
- Band 1 (A – bersen) 1965
- Band 2 (Bertsche – Buzpott) 1985
- Band 3 (C – E) 1993
- Band 4 (F) 1994
- Band 5 (G – Haubön) 1997
- Band 6 (Haubön – J) 2003
- Band 7 (Ka – küzen), 2011
- Band 8 (Lab – Myrtenkranz), 2011
- Band 9 (na – quutschig), 2017
- Band 10 (r – skrofulos), 2021
- Band 11 (Slabāke – ), 2015 ff.
- Band 12 (ta – ), 2018 ff.
Literatur
- G. Appenzeller, U. Launert: Von „Snippels“, Sammel- und Sortierarbeiten. Bekanntes und Unbekanntes aus der Geschichte des Niedersächsischen Wörterbuches. In: Das Niedersächsische Wörterbuch im Oldenburger Münsterland. Berichte und Mitteilungen aus der Arbeitsstelle. Hrsg. v. D. Stellmacher. Göttingen 2006, S. 37–60.
- U. Scheuermann: Linguistische Datenverarbeitung und Dialektwörterbuch, dargestellt am Beispiel des Niedersächsischen Wörterbuchs. Wiesbaden 1974 (ZDL-Beiheft 11).
- D. Stellmacher: Vom Archiv des Niedersächsischen Wörterbuchs zum Niedersächsischen Dialektarchiv. In: Niedersächsisches Wörterbuch. Berichte und Mitteilungen aus der Arbeitsstelle. Göttingen 1994, S. 56–63.
- D. Stellmacher: Das Niedersächsische Wörterbuch. Ein Rückblick und ein Ausblick. In: Georgia Augusta 59 (1993), S. 23–26.
- U. Scheuermann: Niedersächsisches Wörterbuch. In: Dialektlexikographie. Hrsg. v. H. Friebertshäuser. Wiesbaden 1976 (ZDL-Beihefte 17), S. 194–210.
- M. Lehmberg: Das Niedersächsische Wörterbuch auf dem Wege zu seiner Fertigstellung. In: Germanistische Dialektlexikographie zu Beginn des 21. Jahrhunderts (= ZDL-Beihefte. Band 181). Hrsg. von Alexandra N. Lenz und Philipp Stöckle. Steiner, Stuttgart 2021, ISBN 978-3-515-12911-4, S. 251–273 (DOI:10.25162/9783515129206).
- U. Scheuermann: Von Z bis A oder: Wie unser Wörterbuch entsteht. In: ZDL 55 (1988), S. 26–48.
- U. Scheuermann: Zettel oder EDV? Probleme bei der Materialaufbereitung zu einem Dialektwörterbuch. In: Lexikographie der Dialekte. Hrsg. v. H. Friebertshäuser, Tübingen 1986, S. 103–114.
- U. Scheuermann: Zur Geschichte des Niedersächsischen Wörterbuches. In: Niedersächsisches Wörterbuch. Berichte und Mitteilungen aus der Arbeitsstelle. Göttingen 1990, S. 7–32.
- U. Scheuermann: Das Niedersächsische Wörterbuch. In: Rotenburger Schriften 53 (1980), S. 33–65.
- G. Appenzeller: Das Niedersächsische Wörterbuch. Ein Kapitel aus der Geschichte der Großlandschaftslexikografie. Stuttgart 2011 (ZDL-Beiheft 142).
- D. Stellmacher: Niedersächsisches Wörterbuch. Geschichte und Probleme. In: Heimatland 4 (1992), S. 102–106.