Neuronale Ceroid-Lipofuszinose

Klassifikation nach ICD-10
E75.4Neuronale Zeroidlipofuszinose
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ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Die neuronalen Ceroid-Lipofuszinosen (NCL), veraltet als Amaurotische Idiotie bezeichnet, sind eine Gruppe seltener, vererbter und bislang noch unheilbarer Stoffwechselkrankheiten, die in unterschiedlichen Formen und Altersstufen auftreten können. Sie gehören zu den lysosomalen Speicherkrankheiten. Umgangssprachlich wird NCL als Kinderdemenz bezeichnet.

Die Bezeichnung Neuronale Ceroid-Lipofuszinose (NCL) leitet sich ab von:

Gemeinsame Kennzeichen sind fortschreitender geistiger Abbau, Epilepsie sowie Degeneration der Netzhaut. Zugrunde liegt eine Ablagerung von Ceroid-Lipofuscin in Gehirn und Retina.[1]

Häufigkeit und Vererbung

Die meisten Formen werden autosomal-rezessiv vererbt, lediglich die adulte Form CLN4 wird autosomal-dominant weitergegeben.

Die Krankheit tritt meist im Alter von 1 bis 8 Jahren mit einer maximalen Neuerkrankungsrate von 1:30000[2] Lebendgeborenen auf.

Krankheitsbild

Histologischer Nachweis der kräftig violett angefärbten Abbauprodukte in den Nervenzellen (PAS)

Die Pathophysiologie der NCL ist noch weitgehend unbekannt. Gesichert ist, dass bei allen Formen die wachsartigen Ceroid-Lipofuszine – aus Fetten und Proteinen bestehende Abfallstoffe des Zellstoffwechsels – intrazellulär im Gewebe gespeichert werden. Dadurch wird das Zellklima toxisch, was zum Absterben der gesunden Zellen führt.

Anfangs äußert sich die Krankheit durch zunehmende Sehschwäche, die schließlich zur vollständigen Erblindung durch Schädigung der Netzhaut (Retinopathie) führt. Damit einhergehend treten bei den Betroffenen Halluzinationen, Epilepsie und Demenz auf. Letztendlich verliert der Patient sämtliche kognitiven und motorischen Fähigkeiten. Früher führte jede NCL-Form unweigerlich zum Tod und es waren lediglich palliative Behandlungsmethoden möglich. Seit Mai 2017 steht eine medikamentöse Therapie zur Verfügung, die zumindest das Fortschreiten der Krankheit in einem hohen Prozentsatz der Fälle aufhalten kann.[3]

Klassifizierung

Früher richtete sich die Klassifizierung der NCL-Typen nach dem Manifestationsalter, entsprechend wurden Bezeichnungen wie infantile, spätinfantile oder juvenile NCL verwendet. Mittlerweile sind 10 NCL-Typen (CLN1-CLN10) bekannt, wobei die Typen CLN1 und CLN4 auch erst im Erwachsenenalter auftreten können.

Die moderne Klassifikation erfolgt auf genetischer Grundlage, die Nummerierung der einzelnen Typen (CLN1, CLN2 usw.) erfolgt dabei nach der historischen Reihenfolge der Entdeckung.

TypBezeichnungManifestationsalterUrsacheandere Bezeichnung(en)
CLN1infantile NCLspätes Säuglingsalter, auch ErwachsenenalterMutationen im PPT1/CLN1-Gen an Location 1p32 (für lysosomale Palmitoyl-Protein-Thioesterase)[4]Hagberg-Santavuori-Krankheit
CLN2(klassische) spätinfantile NCLKleinkindalterMutationen im TPP1-Gen an Lokation 11p15.4[5][6]Jansky-Bielschowsky-Krankheit, Bielschowsky’s amaurotic idiocy, Bernheimer-Seitelberger Syndrom, Dollinger-Bielschowsky Syndrom
CLN3(klassische) juvenile NCLSchulalter[7]Mutationen im CLN3-Gen an Lokation 16p11.2[8]Stengelsche Krankheit, Vogt-Spielmeyer-Stock-Krankheit (VSS), Batten disease, Morbus Batten
CLN4adulte NCL (autosomal rezessiv oder dominant)Erwachsenenalter[9]Mutationen in den Genen PPT1/CLN1 an der Lokation 1p32 oder CTSD/CLN10 an der Lokation 11p15.5Kufs-Syndrom, Batten-Kufs-Syndrom
CLN5(finnische) spätinfantile NCLKleinkindalterverschiedene Mutationen[10] Mutationen im CLN5-Gen an der Lokation 13q22.3[11]
CLN6Indisch-iberische NCLKleinkindalterMutationen im CLN6-Gen an der Lokation 15q23[12]
CLN7türkische NCLKleinkindalterMutationen im MFSD8-Gen an der Lokation 4q28.2[13]
CLN8nordische EpilepsieSchulalterMutationen im CLN8-Gen an der Lokation 8p23.3[14]Northern Epilepsy; Epilepsy, Progressive, With Mental Retardation; EPMR
CLN9In Deutschland und Serbien vorkommendSchulalter[15]
CLN10kongenitale CLNNeugeborenen-
Kleinkindesalter[16]
Mutationen im CTSD/CLN10-Gen an Lokation 11p15.5 (lysosomale Protease Cathepsin D)Norman-Wood-Syndrom[17]

Diagnostik

Die Diagnose ergibt sich aus der klinischen einschließlich der augenärztlichen Untersuchung und wird durch genetische Untersuchungen gesichert. Als bildgebendes Verfahren der Wahl gilt heute die Kernspintomographie. Diese dokumentiert eine Atrophie von Groß- und Kleinhirn, T2-Signalanhebungen der weißen Substanz und Ausdünnung der Hirnrinde.[18]

Arzneimitteltherapie

Die biotechnisch hergestellte rekombinante Tripeptidyl-Peptidase-1 Cerliponase alfa[19] kann das bei CLN2 fehlende Enzym ersetzen, indem sie nach jeweils 14 Tagen über einen Katheter in den Liquorraum eingebracht wird (Lösung zur intracerebroventrikulären Infusion).[20] In der Europäischen Union wurde sie am 30. Mai 2017 unter dem Namen Brineura als Arzneimittel zugelassen.[21] Im Rahmen eines Härtefallprogramms hatte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte bereits im Juli 2016 ein Inverkehrbringen zur Behandlung von Patienten mit neuronaler Ceroid-Lipofuszinose Typ 2 (CLN2, Tripeptidyl-Peptidase-1-(TPP 1)-Mangel) gestattet.[22]
In einer internationalen, multizentrischen Studie konnte bei rund zwei Drittel der Patienten im Kindesalter der Krankheitsverlauf vollständig aufgehalten werden.[3] Die Therapiekosten betragen zurzeit (2018) 750.000 € im Jahr.[23] In Großbritannien wird die Übernahme der Kosten abgelehnt mit der Begründung, sie sei im Verhältnis zum Nutzen zu kostenintensiv.[24][25]

Geschichte

Die Krankheit wurde erstmals 1826 von dem norwegischen Landarzt Stengel anhand von vier Geschwistern beschrieben und bis 1903 Stengelsche Krankheit genannt. Später war die Bezeichnung Batten-Krankheit (heute noch im englischen Sprachraum als batten disease geläufig) und Vogt-Spielmeyer-Stock-Krankheit (VSS, heute noch in Deutschland verwendet) üblich. Dass es sich um eine Stoffwechselerkrankung handelt, wurde 1939 nachgewiesen. Für die Fette und Proteine, die sich als Abfallstoffe in den Zellen anlagern, wurde 1963 die Bezeichnung Ceroid Lipofuscin Pigment geprägt. Im Jahr 1995 fand man heraus, dass ein Gendefekt – nämlich der Verlust eines Chromosomenabschnittes – ursächlich für die Erkrankung ist. Dass den Betroffenen ein lysosomales Enzym fehlt, welches für den Abbau von Abfallstoffen in den Zellen benötigt wird, ist seit 1998 bekannt.

Siehe auch

Literatur

  • Kurt Kallenbach (Hrsg.): Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Ausgewählte Krankheitsbilder und Behinderungsformen (ISBN 3-89166-208-4)
  • Alfried Kohlschütter, Hans-Hilmar Goebel, Angela Schulz, Zoltan Lukacs: Die neuronalen Ceroid-Lipofuszinosen. Demenzerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. In: Deutsches Ärzteblatt, Heft 5, Februar 2005
  • M. N. Preising, B. Lorenz: Genetik der neuronalen Zeroidlipofuszinosen. In: Der Ophthalmologe: Zeitschrift der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft. Band 107, Nr. 7, Juli 2010, S. 612–615, doi:10.1007/s00347-009-2107-x, PMID 20532525 (Review).

Einzelnachweise

  1. Eintrag zu Ceroid-Lipofuszinose, neuronale. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  2. Die Neuronalen Ceroid-Lipofuszinosen
  3. a b Angela Schulz et al.: Study of Intraventricular Cerliponase Alfa for CLN2 Disease. In: New England Journal of Medicine, 2018; abgerufen am 25. April 2018. doi:10.1056/NEJMoa1712649
  4. Eintrag zu OBSOLET: Ceroid-Lipofuszinose, neuronale, infantile. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  5. CLN2. In: Online Mendelian Inheritance in Man. (englisch)
  6. NCBI: TPP1 tripeptidyl peptidase I. Abgerufen am 13. Dezember 2016.
  7. Eintrag zu OBSOLET: Ceroid-Lipofuszinose, neuronale, juvenile. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  8. CLN3. In: Online Mendelian Inheritance in Man. (englisch)
  9. Eintrag zu OBSOLET: Ceroid-Lipofuszinose, neuronale, adulte. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  10. Eintrag zu OBSOLET: Ceroid-Lipofuszinose, neuronale, spät-infantile. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  11. CLN5. In: Online Mendelian Inheritance in Man. (englisch)
  12. CLN6. In: Online Mendelian Inheritance in Man. (englisch)
  13. CLN7. In: Online Mendelian Inheritance in Man. (englisch)
  14. CLN8. In: Online Mendelian Inheritance in Man. (englisch)
  15. CLN9. In: Online Mendelian Inheritance in Man. (englisch)
  16. Eintrag zu OBSOLET: Ceroid-Lipofuszinose, neuronale, kongenitale. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  17. R. M. Norman, N. Wood: A Congenital Form of Amaurotic Family Idiocy. In: Journal of neurology and psychiatry. Band 4, Nummer 3–4, Juli 1941, S. 175–190, PMID 21611390, PMC 1089784 (freier Volltext).
  18. L. D’Incerti: MRI in neuronal ceroid lipofuscinosis. In: Neurological sciences: official journal of the Italian Neurological Society and of the Italian Society of Clinical Neurophysiology. Bd. 21, Nr. 3 Suppl, 2000, S. S71–S73, PMID 11073231 (Review).
  19. pharmazeutische-zeitung.de: Cerliponase alfa, abgerufen am 8. Januar 2023.
  20. Gentherapie des Morbus Batten erzielt erste Erfolge bei Hunden. In: aerzteblatt.de. 12. November 2015, abgerufen am 17. November 2019.
  21. Find medicine. European Medicines Agency, abgerufen am 4. Juli 2017 (englisch).
  22. Härtefallprogramme/ Compassionate Use. (Memento desOriginals vom 8. November 2017 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.bfarm.de Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Abgerufen am 13. Dezember 2016.
  23. Rainer Woratschka: Bis zu 750 000 Euro pro Patient. Preisschub bei Arznei alarmiert Krankenkassen. In: www.tagesspiegel.de. DER TAGESSPIEGEL, abgerufen am 30. Oktober 2018.
  24. Evaluation consultation document: Cerliponase alfa for treating neuronal ceroid lipofuscinosis type 2. NICE, abgerufen am 9. August 2018.
  25. Selina McKee: NICE deems Batten disease therapy too costly for NHS use In: Pharma Times, 13. Februar 2018. Abgerufen am 9. August 2018 

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Neuronal ceroid lipofuscinosis PAS.jpg
Autor/Urheber: Jensflorian, Lizenz: CC BY 3.0
Histopathological specimen from the brain in neuronal ceroid lipofuscinosis (PAS stain, x100 magnification). The insoluble material is stored especially in the neurons and the number of cortical neurons is heavily reduced in this specimen. Storage material is also evident in astrocytes.